ATLAS 07 deutsch

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50 die letzten weissen flecken

text:  Titus Arnu

E

s geschehen mysteriöse Dinge im Nebelwald von Ut­ cubamba. Das bergige Dschungelgebiet in der peruani­ schen Region Amazonas ist so unzugänglich, dass dort neben Pumas, Tukanen, Kolibris und Papageien auch Sagen­ gestalten ihr Refugium finden. Bei den Einheimischen, dem Volk der Gocta, geht die Legende von einer schönen blonden Sirene um, die in der Lagune eines Wasserfalls wohnt. Sie gilt als Mutter der Fische und Hüterin eines Goldschatzes. Wem sein Leben lieb ist, so sagen die Einheimischen, der wagt sich besser nicht in ihre Nähe. Der Bauer Juan Mendoza soll einst von der Stimme der Sirene verzaubert worden sein – in einen Felsen verwandelt, muss der arme Kerl seitdem gewaltige Wassermassen tragen, die über seine Schultern ins Tal stürzen.

bolivien

»Weiße Flecken sind zunächst einmal eine Frage des Maßstabs.« Wirklich? Der Wasserfall Gocta, nach dem nächstgelegenen Dorf und dem Volksstamm benannt, war lange auf keiner Land­karte verzeichnet, es gab nur das Geraune der Gocta. Stefan Ziemendorff, ein deutscher Entwicklungshelfer, sah ihn als erster westlicher Besucher zuerst im Jahr 2002 während einer Expedition in dem Naturreservat. 2006 kehrte Ziemen­ dorff mit einem peruanischen Forschungsteam zurück, um den Wasserfall zu vermessen – mit erstaunlichem Ergebnis: 771 Meter, mit einer Messunsicherheit von 13,5 Metern. Auf einer Pressekonferenz sagte Ziemendorff, es handele sich um den dritthöchsten Wasserfall der Welt, der nur vom Salto ­Ángel in Venezuela (979 Meter) und den Tugela Falls in ­Südafrika (948 Meter) übertroffen werde. Laut einer anderen Zählweise ist der Gocta-Fall zwar nur auf Rang 15, weil er über mehrere Stufen fällt – aber er ist zu einer der größten Touristenattrak­tionen in Peru geworden. Wer sich die lange Anreise sparen will, kann den Wasserfall auf Google Earth besichtigen. Auf Google Maps ist zu erken­ nen, dass eine Straße bis zu einem Ort namens Cocachimba führt, zwei Kilometer vor dem Catarata Gocta. Wie konnte der riesige Wasserfall so lange unentdeckt bleiben? Ist nicht die ganze Welt längst komplett vermessen, kartografiert und er­

forscht? Ständig kreisen Satelliten um unseren Planeten und scannen die Erdoberfläche, Google fotografiert weltweit Häu­ ser ab, bei der NSA schreiben sie unsere Einkaufslisten mit. Wie kann es überhaupt sein, dass da noch weiße Flecken auf der Landkarte übrig bleiben? Das Zeitalter, in dem ganze Kontinente entdeckt wurden, ist lange vorbei, aber es gibt sie tatsächlich noch, die unbe­ kannten Orte. Viele Wüstengebiete, weite Flächen am Nordund am Südpol wurden bisher nur von Satelliten aus erfasst, aber noch nie von Menschen betreten. Im Himalaja wurden zwar alle Achttausender schon bestiegen – es gibt aber viele Sechstausender in Ost-Tibet, Nepal und Pakistan, auf denen noch niemand stand, die meisten haben nicht mal Namen. Im Kongo sind zwei Drittel aller Flüsse noch nicht kartografiert, im Amazonas-Gebiet ist es ähnlich. In Zentral-Grönland wur­ de 2013 mithilfe von Radarmessungen unter dem Eis eine 750 Kilometer lange und bis zu 800 Meter tiefe Schlucht ent­ deckt. Erdi-Ma, ein Felsplateau in der Sahara, wurde erst 2005


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