ATLAS 07 deutsch

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Ein guter Ort für eine Flagge: Iulia Dodu auf der Spitze des Triglav, der wegen seiner typischen Form bereits über eine Distanz von 100 Kilometern gut erkennbar ist

Gipfel Schneestürmen ausgesetzt. Im Großen und Ganzen hatten wir aber immer Wetterglück – mit Ausnahme der Tour auf den Mont Blanc. Das Wetter war an diesem Tag dermaßen schlecht, dass wir uns erst um elf Uhr vormittags auf den Weg gemacht haben. Zuerst wollten wir nur eine kurze Erkundungs­ tour machen, wagten es dann aber doch

»Ich habe gelernt, Rücksicht zu nehmen und Geduld zu haben.« und standen nach fünf Stunden und 1.000 Höhenmetern tatsächlich oben auf dem Gipfel. Generell ist es natürlich sehr schade, wenn man sich lange auf eine Tour vorbereitet und sie dann nicht angehen kann, weil das Wetter nicht mitspielt. Aber die Sicherheit geht vor. Nicht nur aufgrund der unsteten ­Wettersituationen ist Bergsteigen kein ungefährliches Hobby. Gab es irgendwann eine Situation, in der du Angst hattest? Bei der letzten Tour auf den Großglock­ ner gab es so einen Moment: Obwohl

wir im Juni dort waren, hatten wir für diese Jahreszeit viel zu viel Neuschnee. Es war warm, und der Schnee begann zu schmelzen. Ich fühlte mich unsicher, wurde nervös, haderte mit mir selbst und überlegte einen Moment lang, auf­ zugeben und umzudrehen. Aber was wäre dann mit meinem Team gewesen? Hätte es nicht ebenfalls aufgeben müs­ sen? Diese Überlegungen haben mir sehr geholfen, meine Angst in den Griff zu bekommen und weiterzugehen. Und auch am Triglav gab es Situationen, in denen ich hoch konzentriert sein musste – ein falscher Schritt hätte fatale Folgen gehabt. Am Mont Blanc machte mich die Überquerung der extrem steinschlaggefährdeten Rinne »Grand Couloir« etwas nervös. Aber eine rich­ tig gefährliche Situation, mit der ich nicht umgehen konnte, habe ich Gott sei Dank noch nicht erlebt. Wichtig und entscheidend ist, so gut es geht, die Nerven zu bewahren. Stichwort »Nerven bewahren« – ­wirken sich deine Erfahrungen am Berg auch auf dein Alltagsleben aus? Definitiv. Das Bergsteigen gibt mir Kraft, Energie und Sicherheit. Bei mei­

ner Arbeit gibt es immer wieder mal Situationen, die nicht einfach sind und in denen mir die Erinnerungen an meine Touren helfen: Ich denke dann daran, wie schwierig es zum Teil war, dass ich es aber geschafft habe. Und genauso gehe ich dann auch meine Alltagsher­ ausforderungen an: Schritt für Schritt. Außerdem war ich ja bisher immer in einem Team unterwegs und bin sensi­ bilisiert für das Zusammenspiel mehre­ rer Menschen untereinander. Ich habe gelernt, Rücksicht zu nehmen und Geduld zu haben. Immer wieder gibt es am Berg wie im Alltag auch Momente, in denen es jemandem im Team nicht so gut geht, darauf muss man sich ein­ stellen. Wenn jemand Angst hat, dann musst du ihm zuhören und ihm die Angst nehmen.

Judith Gebhardt-Dörler hat Sozial- und Wirtschafts­ wissenschaften in Innsbruck studiert und ist bei GW als Project Manager Corporate Communications zuständig für Publikationen.


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