finanzwelt Ausgabe 02/2018

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76 | VERSICHERUNGEN | Pflegeversicherung

Kurzfristige Flickschusterei statt langfristiger Lösung Union und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag Maßnahmen beschlossen, um den Pflegenotstand in Deutschland zu beheben – und stoßen damit in der Branche auf erhebliche Skepsis. Vor allem die private Vorsorge ist noch deutlich ausbaufähig. Die 1995 eingeführte Pflegeversicherung ist der jüngste Bestandteil der Sozialversicherung in Deutschland. Sie war aufgrund der rasch steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen seit Mitte des 20. Jahrhunderts notwendig geworden. So mussten viele Betroffene Anfang der 1980er Jahre Sozialhilfe beantragen, um die Kosten der Langzeitpflege tragen zu können. Doch selbst die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung hat die Situation in der Pflege nicht wesentlich verbessern können. Immer wieder gibt es Medienberichte über teils katastrophale Zustände in Pflegeheimen, die vor allem auf die personelle Ausstattung der Einrichtung zurückzuführen sind. Um das Problem „Pflege“ zu lösen, haben Union und SPD im Koalitionsvertrag folgende Maßnahmen vereinbart: - Mittels eines Sofortprogramms sollen 8.000 neue Stellen in Pflegeeinrichtungen geschaffen werden. Das Vorhaben soll durch Mittel aus der Gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden. - Mit der „Konzentrierte Aktion Pflege“ soll u.a. durch eine Ausbildungsoffensive die Zahl der Arbeitskräfte in der Pflege nachhaltig erhöht werden. Außerdem soll der Pflegeberuf attraktiver

Dr. Stefan M. Knoll Vorstandsvorsitzender DFV Deutsche Familienversicherung AG

gemacht werden, u. a. durch eine flächendeckende Bezahlung nach Tarif. - Stärkung der Pflege im ländlichen Raum und bessere Unterstützung pflegender Angehöriger. - Mehr präventive Maßnahmen, damit Pflegebedürftigkeit bestmöglich vorgebeugt werden kann. - Die Einkommensgrenze von Kindern pflegebedürftiger Eltern soll auf mehr als 100.000 Euro/Jahr erhöht werden.

Schwere Kritik Letzteres ist für Gerhard Schuhmacher zwar ein Schritt in die richtige Richtung, doch grundsätzlich nichts Neues, da diese Voraussetzungen schon bei der Grundsicherung bestünden, so der Vorstandsvorsitzender der Caritas Sozialstation St. Johannes e. V. Die im Koalitionsvertrag aufgeführten angeblichen Verbesserungen seien lediglich ein Lippenbekenntnis und keine wesentliche Verbesserung. „Es bleibt abzuwarten, was dann entsprechend umgesetzt wird“, so Schuhmacher. Gerade in der Politik sei Papier geduldig. „Seit vielen Jahrzehnten ist die dramatische Personalsituation in Pflegeheimen und Krankenhäusern bekannt. Die 8.000

neuen Arbeitskräfte sind eine willkürliche Zahl und können kein ernsthaft gemeinter Vorschlag sein, eigentlich eine Verhöhnung von engagierten Pflegekräften“, übt Claus Fussek harsche Kritik an den Plänen. Zustimmung erhält der Pflegeexperte von Dr. Stefan M. Knoll, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Familienversicherung. Er verweist darauf, dass schon heute ca. 70.000 Pflegeplätze fehlen würden. Auch Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart und Sprecher der Initiative Pro-Pflegereform, zeigt sich wenig angetan von den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag. „Dieses Klein-Klein der kurzfristigen Maßnahmen ist kostspielig und wird ohne große Wirkung verpuffen.“

Andere Stellschrauben müssen her Fussek meint, die Politik verfüge nur über begrenzten Handlungsspielraum bei der personellen Ausstattung der Pflege: „Attraktivität des Pflegeberufes, Bezahlung und Arbeitsbedingungen sind Aufgaben der Arbeitgeber/Tarifparteien und nicht der Politik“. Deshalb plädiert er für Sofortprogramme zur Entlastung pflegender Angehöriger und die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Tagespflege, vergleichbar mit einem

Gerhard Schuhmacher Vorstandsvorsitzender Caritas Sozialstation St. Johannes e.V.

Claus Fussek Pflegeexperte

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