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Neue Bücher neue Platten

Buch der Stunde

Das Porträt der Neandertaler als Blick in den Spiegel

Es gibt sehr viele populärwissenschaftliche Bücher über Neandertaler und davon sind viele gut. „Der verkannte Mensch“ der britischen Archäologin und Wissenschaftskommunikatorin Rebecca Wragg Sykes aber ragt heraus. Zwei Jahre nach Erscheinen des englischen Originals wurden bereits über 20 Übersetzungen publiziert, jetzt auch auf Deutsch. Was ist so gut an dem Buch? Es ist umfassend und einfühlsam, jeweils im besten Sinne.

Rebecca Wragg Sykes: Der verkannte Mensch. Ein neuer Blick auf Leben, Liebe und Kunst der Neandertaler. Goldmann, 512 S., € 24,70

Wragg Sykes resümiert gekonnt alles, was wir derzeit über die Neandertaler wissen. Alles. Sie durchstreift jeden Lebensbereich: die Jagd, Ernährung, Geburt, Kindheit, soziale Dynamik, Kunst oder der Umgang mit dem Tod.

Ja, das ist manchmal ein wenig sehr detailliert, etwa wenn sie die ungeheure Komplexität der Steinwerkzeuge beschreibt, deren Herstellung und ständige „Wartung“ (Schleifen). Aber egal. Angesichts ihrer verblüffenden handwerklichen Fähigkeiten entwickelt man enormen Respekt für die Neandertaler – und für die Archäologen, die diese steinernen Überbleibsel interpretieren.

Mit am faszinierendsten sind die Erkenntnisse, die sich durch neue Technologien gewinnen lassen. Das Kollagen ihrer Zähne verrät uns, was die Neandertaler aßen und dass sie mindestens ein Jahr lang stillten.

Die Mikroanalyse der Höhlenböden, der Feuerstellen und „Wohnbereiche“, Rußschicht um Rußschicht, erlaubt Einblicke wie ein prähistorisches TV. Neandertaler schliefen wohl auf Fellen und trennten ihren Abfall.

Die DNA-Analysen stellen infrage, inwiefern man vom „Aussterben“ der Neandertaler sprechen kann. „Wir“ haben uns bekanntlich mit ihnen vermischt. Aber eben nicht nur einmal, sondern unzählige Male im Laufe von Tausenden von Jahren. Rebecca Wragg Sykes’ Erzählton ist sachlich und doch durchdrungen von einer tiefen Sympathie für diesen „verkannten Menschen“. Ihr Porträt des Homo neanderthalensis wird zum Blick in den Spiegel.

Neue Platten

Pop

Fireboy DML: Playboy

Ob elektronische Musik oder R’n’B: In Afrika entstanden zuletzt ganz neuartige Ausprägungen verschiedenster Genres und Stile. Besonders beliebt und erfolgreich ist der sehr poppige AfrobeatsSound, zu dessen bekanntesten Vertretern Fireboy DML zählt. Der Ex-Chorknabe mit dem LoverboyImage singt bevorzugt über Amouröses. Die Songs des längst weltweit agierenden Nigerianers bringen Balladenstimmung und effizient swingende Grooves lässig unter einen Hut. (YBNL Nation) SF

Pop

Valerie June: Under Cover

Die aus Memphis stammende Sängerin mischt Folk mit Country, Blues und Gospel. Ihre nasal klingende Sopranstimme sorgt sofort für Aufmerksamkeit. Hier singt Valerie June ihre Lieblingslieder von Künstlern, die sie in der Entwicklung als Songwriterin beeinflusst haben – Nick Drake („Pink Moon“), Nick Cave („Into My Arms“) oder R’n’BMann Frank Ocean („Godspeed“). Die Aneignung gelingt, Gefühlstiefe und Leichtigkeit gehen bei June Hand in Hand. (Fantasy) SF

Klassik

Jonathan Tetelman: Arias

Jonathan Tetelman, chilenisch-US-amerikanischer Tenor und ehemaliger New Yorker DJ, hat sich seiner musikalischen Wurzeln besonnen und sein Debüt veröffentlicht: 16 Arien von Verdi bis Giordano, von Mascagni bis Puccini, von Bizet bis Massenet. In ihrer Vielfalt ist die Stimme eine echte Entdeckung – lyrisch und romantisch, heroisch und dramatisch. Zweimal ist Tetelman zudem im Duett mit der fantastischen litauischen Sopranistin Vida Miknevičiūtė zu hören. Hinreißend! (DG) MDA

Neue Bücher Human-Animal-Studies und Zeitgeschichte

Können Kaninchen Kunst? Müssen wir Mücken das Recht auf Leben zusprechen? Braucht es ein Urheberrecht für Menschenaffen-Selfies? „Kommt Strolchi in den Himmel?“ Und ist Robbenschutz Kulturimperalismus? „Das unterschätzte Tier“ regt zum Weiterdenken an: Es liefert Fakten dazu, „was wir heute über Tiere wissen und im Umgang mit ihnen besser machen müssen“.

Norbert Sachser, Verhaltensbiologe an der Universität Münster, hat Kollegen aus Disziplinen wie Biologie, Philosophie, Recht, Geschichte und Religionswissenschaft versammelt: Wissenschaft für die Praxis, für ein besseres Miteinander über Artgrenzen hinweg, für mehr Gerechtigkeit. „Bereits jetzt hat die Revolution des Tierbildes zu einem Bewusstseinswandel in unserer Gesellschaft geführt. Nun muss sie auch zu einem verbesserten Umgang mit den Tieren führen!“ FELICE GALLÉ Otfried Preußler wurde 1923 in Reichenberg, heute Liberec, Tschechien, geboren. Sein Vater war Heimatforscher, seine Großmutter eine begnadete Geschichtenerzählerin. Das Schreiben wird dem Autor des „Hotzenplotz“ also in die Wiege gelegt. Als die Familie 1945 aus dem sudetendeutschen Gebiet vertrieben wird, befindet sich Otfried Preußler als Kriegsgefangener in der Sowjetunion, wo er fünf Jahre verbringt.

Mit zum Teil erst 2021 in Moskauer Militärarchiven aufgefundenen Dokumenten, Briefen und literarischen Texten rekonstruiert Carsten Gansel dessen frühe Jahre bis zur Veröffentlichung des Meisterwerks „Krabat“ im Jahr 1971. Dieses interpretierte Preußler als den Versuch, „einer als böse oder fragwürdig erkannten Macht gegenüber seine Freiheit zurückzugewinnen“. Ein atemberaubendes Stück Zeitgeschichte!

KIRSTIN BREITENFELLNER

Norbert Sachser (Hg.): Das unterschätzte Tier. Rowohlt Taschenbuchverlag, 224 S., € 14,40 Carsten Gansel: Kind einer schwierigen Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre. Galiani, 558 S., € 28,95

Ohren auf Dance Music

Die britische Band Hot Chip: Auch melancholische Nerds wollen tanzen

Es ist schwer, funky zu sein, wenn man sich nicht sexy fühlt

Nach 20 Jahren im Dienst gilt die Band Hot Chip als sichere Bank zwischen Synthiepop und Dance Music. Das Quartett um die beiden Sänger Alexis Taylor und Joe Goddard kennt die Popgeschichte bis in die entlegensten Winkel. Derartiges Auskennertum gebiert oft blutleere Musik, aber Hot Chips Erdung im Club und ihr Hang zur Melancholie sorgt zuverlässig dafür, dass ihre Songs Beine wie Herz ansprechen. Sie sind die Pet Shop Boys des neuen Jahrtausends.

Auf ihrem achten Studioalbum

„Freakout/Release“ (Domino) versuchen sie ein bisschen was Neues. Die Übung lautet: Funk. Im Opener „Down“ gelingt sie gut. Wobei Hot Chip über genug Selbsteinschätzung verfügen, sich nicht zu gerieren, als wären sie James Browns Begleitband. Stattdessen haben sie eine selbstironische Nummer namens „Hard To Be Funky“ im Programm, in der sie über den Zusammenhang zwischen Funkiness und Sexyness räsonieren. Eine Platte ohne Schwach- und auch ohne große Höhepunkte. Disco für die mittleren Jahre.

Bewunderung muss keine Einbahnstraße sein. Noah Lennox alias Panda Bear von den Neo-Psychedelikern Animal Collective liebte die in den 1980ern aktiven Spacemen 3. Deren Kopf Peter Kember alias Sonic Boom outete sich seinerseits später als Fan von Lennox’ Combo. Auf ihrem Album „Reset“ (Domino)

huldigen Panda Bear & Sonic Boom nun gemeinsam der Musik der Sixties – etwa den Beach Boys in ihren ausgeflippten, drogengeschwängerten Momenten. Schön.

Unter dem Namen Au Suisse maFOTO: MATILDA HILL-JENKINSchen der House-Revivalist Morgan Geist und Kelley Polar, ein Geigenvirtuose mit Disco-Faible, gemeinsame Sache. „Au Suisse“ (City Slang) setzt auf klare Linien. Es ist die Verwirklichung eines Designertraums, wie Electropop zu klingen hat – makellos und sehr kühl.