3 minute read

Russland im Fangeisen

Ukraine-Krise: Es herrscht Krieg und alle fragen, warum. Zwei deutsche Autoren versuchen eine Antwort

Nicht die Putinversteher, die Russlanderklärer haben jetzt das Wort. Olaf Kühl, Autor und Übersetzer, kommt in seiner „Kurzen Geschichte Russlands von seinem Ende her gesehen“ rasant auf den Punkt. Am Cover prangt ein „Z“, das abstruse Hoheitszeichen von Putins Invasionsarmee in die Ukraine. Russland, das bedeute Krieg. Zurückhaltender gibt sich der Historiker und Journalist Gerd Koenen, der seine RusslandAnalyse immerhin als „Widerschein des Krieges“ versteht.

Wie bei vielen Westlern stand am Anfang des Russland-Interesses für Olaf Kühl, den langjährigen Osteuropa-Referenten im Berliner Bürgermeisteramt, die Lektüre Dostojewskis. Der literarische Apokalyptiker sei der Kronzeuge jenes Nihilismus, der sich über die Bolschewiki bis in die Gegenwart durchziehe. Dem gelte es entgegenzutreten: „Für dieses Russland ist es die einzige Rettung, endgültig besiegt zu werden.“

Argumentativ noch dür iger als derart markige Kriegsbegeisterung, die man fast als Kriegstreiberei bezeichnen könnte, fallen die folgenden vier Dutzend Essays aus. Eben noch vom Flair einer ossetischen Tanzgruppe auf Berlin-Besuch angetan, gaben Kühl bereits die vielen russischen Veteranen zu denken, die im Lauf der Jahre beim Weltkriegsverlierer Deutschland um Unterstützung ansuchten.

Russischer Antifaschismus stelle nicht erst seit dem Überfall auf die Ukraine eine „verrottete Ikone“ dar: „Deutschland muss heute innerlich zur Möglichkeit, ja Notwendigkeit eines Sieges aufrufen.“ (Zum Glück, möchte man einwerfen, gibt es in Deutschland einen Kanzler, der weniger mit dem Säbel rasselt!) Olaf Kühl rekapituliert alles an Fakten, Mythen und

Klischees, was das Horrorkabinett der jüngeren russischen Geschichte anzubieten hat: von Stalins Geheimdienstschlächter Wassili Blochin bis zur Ermordung des abtrünnigen KGBlers Alexander Litwinenko. Alles, was man woanders über die „mangelnde ideologische Abfederung“ der postsowjetischen Reformen mittels radikaler wirtscha licher „Schocktherapie“ und der folgenden Massenverarmung der Bevölkerung besser beschrieben fand, wird durchgehechelt.

Oligarchen und Geheimdienst dürfen ebenso wenig fehlen wie Putins Uhrensammlung und seine obskuren Vordenker. Schließlich liefert Kühl einiges an Insiderinfos: wie ihm Michail

»Jetzt sitzt Russland in der Ukraine fest wie der sprichwörtliche Problembär im Fangeisen

GERD KOENEN

Gorbatschow die Nähe der russischen und deutschen Seele erklärte, was der letzte Staatschef der DDR, Erich Honecker, auf dem Flug aus dem Moskauer Exil ins deutsche Gefängnis von sich gab und, last but not least, Reiseeindrücke aus Sibirien. Am Ende steht die Warnung davor, Kompromisse mit Russland einzugehen oder die russischen Verbrechen in der Ukraine zu „rationalisieren“: „Die Welt würde damit das Böse assimilieren, in sich aufnehmen und damit den ersten Schritt zu ihrer eigenen Auflösung tun.“ Besser bedient ist man mit Gerd Koenens’ „Im Widerschein des Krie- ges“. Dem Kommunismus-Forscher gelingt es – aufgrund seiner „Langzeitbeobachtungen über drei Jahrzehnte“ – zumindest halbwegs, den „tieferen Motiven und Gründen sowie den mentalen oder materiellen Bedingungen dieses von Putin als Letztentscheider unprovoziert vom Zaun gebrochenen, an Wahnwitz grenzenden Krieges nachzuspüren“.

Er holt dabei bis zur quasi-theologischen Vorstellung von „Moskau als drittem Rom“ aus, die schon im 16. Jahrhundert propagiert wurde. Bisweilen geraten die Vergleiche ein wenig zu essayistisch üppig, etwa jene des Zaren Iwan Grosny „der Schreckliche“ mit Putin. Mit der fehlerha en Erinnerungspolitik Russlands nach dem Untergang der Sowjetunion 1991 berührt Koenen allerdings einen zentralen Punkt: die Wiederkehr russischer Großmachtgelüste. Entstalinisierung hatte unter Chruschtschow, im Machtkampf um die Nachfolge Stalins, immerhin die Freilassung von Millionen Lagerhä lingen bedeutet und zu einem ideologischen „Tauwetter“ geführt. Unter Gorbatschow und Jelzin wurde erstmals frei über die Verbrechen des Stalinismus gesprochen, in der Folge vergaß man aber, eine entsprechende Erinnerungspolitik zu institutionalisieren. Stattdessen begann man, das ideologische Vakuum mit einer staatstragenden „russischen Idee“ zu füllen.

Besonders gelungen sind die Einzelporträts sowjetischer und russischer Systemkritiker und Dissidenten. Gulag-Autoren wie Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow kommen ebenso zu Ehren wie Arseni Roginski, Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation Memorial.

Koenen analysiert die Angst des Kreml vor Massenprotesten der Op-

Meine vielen Väter

Hamed Abboud, der seit Ende 2014 in Österreich lebt, ist als Geschichtenerzähler ein Kulturenverbinder par excellence. In »Meine vielen Väter« berichtet er von seinem Aufwachsen in der syrischen Provinzstadt Deir al-Zor, wo sein Vater als Mathematiklehrer und Bäcker tätig war. Aus erinnerten Episoden webt er einen zauberha en Geschichtenteppich, der das Leben der Familie Abboud wie kleine Filmszenen vor unseren Augen aufscheinen lässt.

Im Mittelpunkt des erzählerischen Mosaiks steht der umsichtige Vater, der mit besonderem Humor die Geschicke position sowie die Bedeutung der Kriege in Tschetschenien und Georgien, der Beziehungen zu China und der Corona-Epidemie im Vorfeld von Putins Angriff auf die Ukraine. Dessen Vorgeschichte grei mit der Erklärung eines „Phantomschmerzes“ allerdings zu kurz.

Die grau schillernde Eminenz des Kreml, Wladislaw Surkow, steht am Ende des gut lesbaren Versuchs zu verstehen, „wie es geschehen konnte, dass sich dieses Land mit all seinen reichen menschlichen und natürlichen Potentialen abermals in einen Malstrom destruktiver und autodestruktiver Gewalt hineinstürzt“. Eine Antwort bleibt Gerd Koenen letztlich schuldig und begnügt sich mit der eher flapsigen Beschreibung des IstZustandes: „Jetzt sitzt Russland in der Ukraine fest wie der sprichwörtliche Problembär im Fangeisen.“

ERICH KLEIN

Olaf Kühl: Z. Kurze Geschichte Russlands von seinem Ende her gesehen. Rowohlt, 223 S., € 24,70

Gerd Koenen: Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland. C.H.Beck, 217 S., € 20,60 der Bäckerei und der Familie zu verbinden weiß. Entscheidende Fäden hält freilich die Mutter in der Hand, die als »Ausbildungskreuzritterin« die Zimmerwände mit Lehrsto bekritzelt, um den schulischen Erfolg ihrer Kinder zu be ügeln, und so die Wohnung zu einem »Matura-Trainingslager« macht.