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Der unbekannteste Mensch der Welt

Wie ist es, Mitglied einer bürgerlichen Familie zu sein?

Heldinnen und Helden aus privilegierten Verhältnissen sind im Jugendbuch rar, was vermutlich einem Drang nach sozialer Gerechtigkeit seitens der Autorinnen und Autoren geschuldet ist. Tatsache bleibt, dass jeder Stoff sich für Literatur eignet. Hier lernt man eine bürgerliche Wiener Familie mit einem gewissen Dünkel kennen, der sich vor allem daran festmacht, historisch auf der „richtigen Seite“ gestanden zu sein, sprich dem Nationalsozialismus widerstanden zu haben.

Vorgeführt wird sie auf dem 100. Geburtstag der Urgroßmutter des Icherzählers Ben, der alt genug ist für L17-Lehrfahrten, aber seinen Platz im familiären Gefüge sowie im Leben noch nicht gefunden hat. Als Gliederung dient die Menüabfolge, dazwischen gibt es Exkurse in die Biografien älterer Familienmitglieder, erzählt von der Urgroßmutter, womit ein gutes Stück heimischer Geschichte abgehandelt wird. Das Kriegsende 1945, als der Urgroßvater gegen das NS-Regime opponierte, oder das längst historische „Protestjahr“ 1986 kommen dabei zur Spra- che. Seine Verwandten sieht Benjamin durchaus auch kritisch: „Die Heldentat des Urgroßvaters ist wie ein Honig, den sie sich zufrieden auf ihr Brot schmieren.“

Er selbst wäre manchmal am liebsten „der unbekannteste Mensch der Welt“ und beneidet seine Freundin Toni, die „nur“ eine Mutter hat. Ein philosophisches und humorvolles literarisches Debüt.

Dass er dort wieder herausfindet, hat auch mit seiner guten Beziehung zu seiner Mutter zu tun, einer Figur, die schwer schu et und gerne viel Bier trinkt, aber das Herz am rechten Fleck hat und ihrem Sohn die notwendige Geduld und Unterstützung zukommen lässt. Damit demonstriert der vielfach ausgezeichnete Autor Johannes Herwig, dass auch Familien in einer nicht klassischen Konstellation und ökonomisch unkomfortablen Situationen für die Probleme ihrer Kinder da sein können.

In seinem dritten Jugendroman gelingt es Johannes Herwig – der ebenfalls im deutschen Osten aufgewachsen ist –, eine teils atemberaubende Geschichte zu erzählen und die ihr zugrundeliegenden Lebensthemen auf unaufdringliche Weise mitzureflektieren. „Alle sahen mich an und ich spürte, dass etwas vorbei war. Nicht mehr in Ordnung gebracht werden konnte. Wir waren irgendwo falsch abgebogen“, denkt Sascha nach dem Unglück. Er hatte erwartet, dass die Zeit, wie es so schön heißt, alle Wunden heilen würde, begrei aber, dass das nicht stimmt. „Dass es Wunden gab, die blieben, und dass man diese Verletzungen mit Vorsicht behandeln musste, wenn man mit ihnen weiterleben wollte.“ Er lernt, dass es unmöglich ist, die Geschichte mit Marcel ungeschehen zu machen.

Und er ist nun bereit, sich auch mit dem Tod seines Vaters auseinanderzusetzen, an dem der an dem Unfall beteiligte Lenker schuld war. Verlust, Verantwortung und Vergebung bilden den Basso continuo der hier versammelten Handlungsstränge.

„Wir müssen klarkommen. Irgendwie.“ Mit dieser realistischen Botscha setzt sich dieses gut zu lesende, poetische Buch wohltuend vom Anspruch so mancher pädagogisch wohlmeinender Jugendliteratur ab, die glaubt, für alles eine Lösung bieten zu müssen.

Alexandra Holmes: Einfach mehr Lu . Jungbrunnen, 145 S., € 17,– (ab 13)