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An der Grenze Polens stinkt es ganz gewaltig

In seiner „Grenzfahrt“ entlang des Bug verbindet Andrzej Stasiuk Reportage und Fiktion, Gegenwart und Vergangenheit

Juni 1941 im Osten Polens, am Ufer des Bug. Seit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt verläu hier die Grenze zwischen den von Deutschland und den von der Sowjetunion besetzten polnischen Gebieten.

Kurz vor Beginn des deutschen Angriffskrieges am 22. Juni herrscht am Bug nervöse Ruhe. Die Landscha liegt schläfrig da wie immer, aber die Einschläge kommen näher. Der Fährmann Lubko bringt, wenn der Mond nicht zu hell scheint, zahlende Kundscha über den Fluss. Doris und Max sind auf der Flucht, sie wollen nach Birobidschan, in die jüdische autonome Region in Sibirien. Aber Lubko findet die Überfahrt zu gefährlich.

Diesseits des Flusses hat sich deutsche Artillerie in Stellung gebracht. Durchs Gelände streifen polnische Partisanen und jagen Spione, am russischen Ufer herrschen der NKWD und ein großes Durcheinander. Die Kleinbauern finden es auf der deutschen Seite noch erträglicher. Hier können sie wenigstens Fisch, Speck und Milch gegen deutsche Zigaretten und Kaffee tauschen. Nicht weit entfernt sind auch die deutschen Vernichtungslager Sobibór und Treblinka, aber davon wissen die Figuren in Andrzej Stasiuks Roman „Grenzfahrt“ wenig. Wie kann es sein, dass sie den Geruch der „brennenden, schwarzen Gruben“ nicht wahrgenommen haben, fragt sich der Erzähler.

Die Zeugen sind tot, sie haben nichts hinterlassen, und in seiner väterlichen Familie, die am Fluss lebte, hat man, wie der Erzähler sich erinnert, zwar manchmal über den Krieg gesprochen, aber nie über den Geruch der Krematorien. Der Vater ist inzwischen 84, er leidet an Demenz und will über gar nichts mehr reden. Wie kommt man dann erzählerisch in die Situation am Bug im Jahre 1941 hinein? Oder anders: Wie kommt man raus aus der polnischen Situation des Corona-Jahres 2020, wenn man nach dem Lockdown dringend mal wieder eine Ausfahrt braucht?

Andrzej Stasiuk hat in den letzten Jahren einige Bücher geschrieben, in denen er, allein im Auto, mit wenig mehr als Zelt, Campingkocher und gelegentlich einem Dosenbier, abgelegene Gegenden wie die Mongolei erforschte. Hier nun verbindet er das Reportage-Element mit der historischen Fiktion. Ein Mann, der wenig Gesellscha braucht, streunt auf den Spuren der familiären Erinnerung am Ufer des heimatlichen Flusses herum und stößt dabei auf wenig mehr als auf die Banalitäten der Gegenwart. Die Vergangenheit erschließt sich, wenn überhaupt, nicht durch Spurensuche, sondern nur durch eine träumerische Einbildung.

In Stasiuks Zugriff entfaltet sich an den Ufern des Bug eine gespannte Atmosphäre, in der das zarte Dasein der Bäume und Wolken überfallartig von Gewalt und Gräueln unterbrochen wird. Aber auch die Natur ist nicht freundlich, der Fluss schlammig, übelriechend und tückisch wie ein böser Styx, der die eine Unterwelt nur von der nächsten trennt.

Stasiuk ist kein Anwalt der Psychologie, des Gesprächs und der friedlichen Umgangsformen. Die mehr oder minder uniformierten Männer im Roman sind impulsgesteuert, ihr Modus ist die Attacke, ob sie nun Schweine schlachten, Spione hängen oder Frauen vergewaltigen – ehe dann Stasiuk auch die Brutalität wieder durch überraschend zarte Momente bricht. Die Männerfiguren reden nur das Nötigste miteinander, deshalb muss man ihnen ihre Motive und Gedanken geradezu hinterhertragen.

Andere Autoren hätten für solche Zwecke lang verschollene Kriegstagebücher eroder gefunden, aber solche erzählerischen Manöver interessieren Stasiuk nicht. Das lange und lose Monologisieren der Figuren hat manchmal etwas Satirisches, etwa wenn ein sturzbetrunkener polnischer Partisanenhauptmann am Wirtshaustisch über Polens historischen Au rag ins Schwadronieren gerät: „Unsere Mission! In der barba-

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt.

Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp, 355 S., € 26,50 rischen Steppe. Zwischen den teutonischen Barbaren und den tatarischen Wilden.“

In solchen Passagen sendet Stasiuk Signale in die polnische Gegenwart. Vom neu erwachten Polentum der PIS-Regierung wendet er sich mit Grausen ab, mit der eher liberale Opposition fängt er auch nichts an. Auf seinen Reisen wird der Erzähler Zeuge des polnischen Präsidentscha swahlkampfs 2020. Auf den Plakaten werben zwei Kandidaten für sich, die Stasiuk nur den „Schönling“ und den „Tölpel“ nennt.

Man wird schwer einen Roman finden, in dem es so andauernd und vielfältig stinkt wie hier, in dem ein solcher Reichtum übler Gerüche erzeugt wird. Mal riecht man den kleinstädtischen „Rauch, den Schweinemist, den Gestank der Aborte, den Staub“, dann sind es Schweiß, Schweine- und Menschenblut, Innereien und Dreck aller Art.

Nur den fettigen Geruch aus den Gruben riechen die Figuren nicht. Warum nicht? Obwohl es doch, so drückt es der Erzähler in einer seiner fiebrigen Suaden aus, „polnische Huren“ gewesen seien, die „die Nachrichten aus der Hölle verbreiteten“: „Halbnackt, gefickt, blind vor Grauen, Schnaps und Erregung, sagten sie die Wahrheit.“ Aber diese Wahrheit ist bei seiner Familie nicht angekommen, sein Vater will sich an nichts mehr erinnern, und das Land hat sich eine historische Teil-Amnesie verordnet. Es will von seiner Geschichte nur noch in der heroischen Version wissen.

Auf seinen Reisen fallen dem Erzähler neue Denkmäler auf: Sie ehren jetzt das Andenken der „verfemten Soldaten“ des antikommunistischen Nachkriegs-Widerstands. Was wollen die Deutschen eigentlich am Bug, wo es hier doch gar nichts gibt, fragt ein polnischer Partisan einmal den anderen. Sie seien hier, weil sie es können, entgegnet der andere. „Weil es draußen still ist und in den Häusern stinkt.“ Diese Stille und diesen Geruch nimmt Andzej Stasiuk noch immer wahr.

CHRISTOPH BARTMANN

Kann man das Leben anderer zum Guten wenden, während das eigene entgleitet?