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Zwischen Mittagspause und Apokalypse

Éric Vuillards Kurzroman „Ein ehrenha er Abgang“ inszeniert den Vietnamkrieg als Wimmelbild

Offenbar misstraut Éric Vuillard der Geschichte und glaubt eher an die Literatur. Historiografie ist, und meint sie es noch so ehrlich, immer parteiisch; literarisch in Szene gesetzt, vermitteln Täter und Opfer, Schuld und Verhängnis zumindest eine Ahnung höherer historischer Wahrheit und moralischer Gerechtigkeit.

Vuillard nun hat in den letzten Jahren eine Reihe kurzer, konzertierter Romane geschrieben, die von Wendepunkten und Katastrophen der Weltgeschichte handeln: Der Bogen spannt sich von der Eroberung des Inkareichs durch Francisco Pizarro über die Französische Revolution und die Berliner Kongokonferenz bis zur quälend langen Niederlage Frankreichs und der USA in Vietnam. Davon handelt sein jüngster Roman, sarkastisch betitelt „Ein ehrenha er Abgang“.

In seiner Bauweise ähnelt der Roman seinen Vorläufern: Der Erzähler durchschaut die Machenschaften der Mächtigen und gibt sie der Lächerlichkeit preis, während seine ganze Empathie den Opfern der Geschichte gilt. Das passt nicht schlecht zu einem Autor des Jahrgangs 1968, der von sich erzählt, dass er noch ein Baby war, als ihm seine Eltern die Barrikaden der Demonstranten auf den Straßen von Lyon zeigten. Solchermaßen engagierte Literatur ist nicht neu. Man sollte ihr au lärerisches Potenzial ganz bestimmt nicht überschätzen.

Bei Vuillard kommt allerdings noch mehr dazu als der Anspruch, den Opfern der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Er kann verdammt gut schreiben, und dass ihm hier und da sein geschichtspädagogischer Ehrgeiz in die Quere kommt, sieht man ihm bald nach.

Am 19.Oktober 1950, ein gutes Vierteljahrhundert vor der Niederlage der Amerikaner in Saigon, debattiert die Assemblée Nationale über die Lage in Vietnam, und zum ersten Mal werden Stimmen laut, die das koloniale Unrecht einräumen, Friedensverhandlungen mit der vietnamesischen Unabhängigkeitsbewegung ins Spiel bringen – und damit den Zorn der nationalen Rechten auf sich ziehen.

Fast ein Viertel des Buchs nimmt die Schilderung dieser Debatte ein, die Mittagspause in einem edlen Restaurant eingeschlossen. Die Abgeordneten, die Vuillard ans Rednerpult treten lässt, beschreibt er mit einem Witz, mit einer Genauigkeit und einer sprachlichen Virtuosität, die an Daumier ebenso wie an Zola denken lässt. Die wenigsten werden die Namen der damaligen Akteure kennen, aber dem Autor gelingen derart einprägsame Porträts, dass die historischen Figuren als Romanpersonal von eigener Kra durchgehen.

„Es ist so schwer, ein Gesicht zu beschreiben, diese Mischung aus Fleisch und Denken“, heißt es an einer Stelle. Vuillard fällt das gar nicht schwer, und er hat auch ein besonderes Auge für die Körper, für die fülligen der französischen Bourgeoisie („Endlich im Restaurant angelangt, quetscht das alte Bison nach einigen pantagruelischen Bewegungen des Oberkörpers seinen fetten Popo zwischen die Sesselhenkel und käut wieder“) und für die gequälten ihrer Opfer („Der Vietnamese war ausgemergelt, dem Tode nahe, gezwungen, sich zwischen den Direktoren und zwei Unbekannten, deren Sprache er nicht beherrschte, aufrecht zu halten“).

Vor dem inneren Auge erscheinen bei solchen Schilderungen spätmittelalterliche Wimmelbilder der Apokalypse. Auch diese visuell hoch aufgeladene Sprache verdichtet sich zu Gemälden, die die Ungeheuerlichkeiten der modernen Gewaltgeschichte –nicht nur der Kriege in Indochina –in sich aufnehmen.

Vuillard wird immer wieder dafür gerühmt, den Opfern der Geschichte zur Sprache zu verhelfen. Damit ist er nicht allein. Man wird aber lange nach einem literarischen Werk suchen, das auf die Sprachlosigkeit angesichts historischer Gewalt mit derart schlüssigen Bildern antwortet.

TOBIAS HEYL

„Was suchst du, Wolf?“ von Eva Viež naviec liefert eine kurze Geschichte der Gewalt ihrer Heimat Belarus

Der erste Satz gibt den Takt vor: „Wenn du in der öffentlichen Toilette den Korken der Weinflasche mit dem Schlüssel eindrückst und ihn ableckst, damit kein Tropfen verloren geht, brauchst du dich vor nichts mehr fürchten.“ Die belarussische Schri stellerin Eva Viežnaviec schreibt, als würde sie Pflöcke in die Erde schlagen. Präzise und mit voller Kra . Die Sätze sind unverrückbar, lassen weder Abschwächung noch Missverständnis zu. In „Was suchst du, Wolf?“ jagt die Autorin die Leserinnen und Leser durch die belarussische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig eröffnet sie dem Publi-

»Die Geschichten und die Toten, die der Sumpf birgt, sind allgegenwärtig. Doch das Böse lauert anderswo kum eine mythenverhangene Welt aus Hexereien und Heilungen.

Ryna, über 40, kehrt in ihr Heimatdorf Nauhalnaje zurück, das in einer mittlerweile trockengelegten Sumpflandscha im Südwesten von Belarus liegt. Ihren Job als Altenpflegerin in Deutschland hat sie wegen des Trinkens verloren. Dann starb ihre Großmutter, die Heilerin Darafeja, bei der sie aufgewachsen war.

Der Sumpf ist gleichsam der stille Protagonist des Romans: Seine Weite, seine Gefahren, die Geschichten und die Toten, die er birgt, sind allgegenwärtig. Doch das Böse lauert anderswo: „Unsere Sümpfe waren zwar furchteinflößend, doch sie haben nie so viele Menschen geholt wie die Menschen selbst“, sagt die Großmutter.

Da Marjanka und Darafeja übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben wurden, blieben sie von der Brutalität der Männer weitgehend verschont. Man fürchtete ihre Krä e und war auf sie als Heilerinnen angewiesen.

Darafeja erzählt ihrer Enkelin von den wechselnden Machthabern nach dem Ersten Weltkrieg, etwa den Deutschen, den Polen, den Russen und ihrem Vater, dem grausamen Sauka Bahalewitsch. Der Antisemitismus einte sie alle. „Lesjar aus Asnitschki wird sagen: ‚Sieben Mächte, dicht an dicht, die Knochen der Juden zählst du nicht‘.“ Darafeja und ihre Großmutter versteckten eine Jüdin und deren Sohn im Keller.

„Glücklich waren die, die einfach eine Kugel in die Stirn bekamen! So ist das hier bei uns in Lipjen Mode – wenn was ist, dann wird misshandelt: Arme und Beine ausrenken, dass es knirscht, Augen ausstechen, Haut streifenweise abziehen und Salz darüberstreuen.“

Dann kamen die Sowjets, danach die Nationalsozialisten. Ihre Widersacher gingen als Partisanen in die Wälder. „Sie holten alle Ochsen, Kühe und Pferde – was die Deutschen nicht nahmen, nahmen die Partisanen“, erzählte die Großmutter. „Als Mann konnte man nur im Wald überleben. Wir, die Frauen, Alten und Kinder, waren für alle Futtervieh.“ Überall grassierten Geschlechtskrankheiten, Frauen suchten Marjanka und Darafeja auf und baten um einen Abtreibungstrank.

Eva Viežnaviec erzählt mit „Was suchst du, Wolf?“ nicht nur die Geschichte ihrer Heimat, die hierzulande weitgehend unbekannt ist, sondern auch eine universelle Geschichte der Gewalt und Unterdrückung. Jedoch nicht der Hoffnungslosigkeit. Ein Roman der Stunde.

STEFANIE PANZENBÖCK

Éric Vuillard: Ein ehrenha er Abgang. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Ma hes & Seitz, 139 S., € 20,60

Viežnaviec lässt in „Was suchst du, Wolf?“ die Frauen zu Wort kommen: die Großmutter Darafeja, in deren Erzählung wiederum deren eigene Großmutter Marjanka eine wichtige Rolle spielt, und Darafejas Enkelin Ryna.