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Mein Papa war in der Napola

Im Medium der (Auto)Fiktion arbeiten Ulrike Draesner und Paul Brodowsky ein Stück deutscher Vergangenheit auf

Deutschland, so behaupten böse Zungen, wurde nach dem Krieg von den Flüchtlingen aus den Ostgebieten wiederaufgebaut. Wurden die Tragödien aus Ostpreußen und Schlesien lange Zeit nur in einschlägigen Kreisen erzählt, so befassen sich gleich zwei aktuelle Romane von Autoren aus der Kinder- und Enkelgeneration mit den langen Schatten der Vergangenheit: deutsch-polnische Familiengeschichten, in deren Zentrum Napola und Lebensborn stehen, von denen zwar jeder schon gehört hat, über deren Untaten aber niemand so recht Bescheid weiß.

Ulrike Draesner, 1962 in München geborene Lyrikerin, Schri stellerin und seit 2018 auch Professorin am Leipziger Literaturinstitut, hat bereits in „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ (2014) von Flucht und Vertreibung aus Schlesien erzählt, woher auch ihr Vater stammte.

Dorthin, nach Wrocław/Breslau, führen auch „Die Verwandelten“. Kinga, Alleinerzieherin der Adoptivtochter Flummy, ist Expertin in Sachen Leihmutterscha und Erbrecht, reist im Zug, um einen Vortrag zu halten, und sinniert: „Auch Mutter hatte geerbt. Sie war, wie man so sagt, nach

Ulrike Draesner: Die Verwandelten. Roman. Penguin Verlag, 608 S., € 27,50 oben gefallen. Doch nicht durch eine Heirat, sie hatte nie geheiratet, sondern als Kind. Auch darüber wollte, ja musste ich heute Abend sprechen. Deutschland. Polen, Lebensborn.“

Aufgabe des Nazi-Vereins Lebensborn, der in ganz Europa Kinderheime unterhielt, war es, die Geburtenzahl „arischer“ Kinder zu erhöhen – Menschenmaterial für kün ige Kriege. Kingas Mutter Alissa war als Tochter eines von ihrem Dienstherren geschwängerten Mädchens in einem Lebensbornheim in Bayern zur Welt gekommen. Sie wurde von den braven Nazis Gerda und Gerd Schücking adoptiert, die sie Gerhild nannten.So weit nur ein kleiner Ausschnitt aus der komplizierten Familiengeschichte und dem nicht weniger verwirrenden Romanau au – in der Folge werden die einzelnen Kapitel aus der Perspektive der Protagonisten erzählt.

Kingas „Überraschungsverwandte“

Weltherrscha sicherzustellen. Auch er floh – wenn auch aus Ostpreußen – zu Kriegsende in den Westen.

Paul Brodowsky: Väter. Roman. Suhrkamp, 304 S., € 24,70

Dorota, geborene Dombrowska, vermittelt einen Besuch in Wrocław, wo Alissa bei einem Strick- und Stickkränzchen auf Walla trifft. Auch sie ist ein Lebensbornkind, entpuppt sich darüber hinaus aber noch als Alissas Halbschwester, die einst Renate Valerius hieß. Als die deutschen Eltern bei Kriegsende aus Breslau vertrieben wurden, verweigerte sie die Flucht und wurde zur „Vollpolin“, die schließlich vier Kinder von mehreren Männern gebar, eines davon die besagte Dorota.

Auf Ulrike Draesners Roman passt Musils Wort über den „Zauberberg“: „Ein Haifischmagen, der alles verschlingt“. In diesen Magen passen: die Biografie von Alissas Nazieltern (in aller Ambivalenz); Betrachtungen über ein Bild des aus Breslau stammenden Malers Adolph Menzel; Berichte von Krieg und Vertreibung; Reflexionen über patriarchale Gewalt und Mutterscha – das Ganze durchsetzt mit schlesischen Ausdrücken samt Worterklärungen.

Draesner beschreibt die Exzesse des Jahres 1945 nie direkt, bedient sich stattdessen wortgewaltig bei Ovids Metamorphosen, was zu manch kühner Metapher führt: „Die Geschändete trug eine schwarze Sonne im Mund. Jeden Augenblick konnte sie explodieren.“ Letztes Bild des kunstvoll-gewichtigen Romans: Eine Frau sitzt am Ufer der Weichsel, ein Tag beginnt, Singvögel legen sich mächtig ins Zeug.

Fast eine Generation jünger als Draesner ist der 1980 geborene Paul Brodowsky, Mitbegründer der Literaturzeitschri BELLA triste, Theaterautor und mittlerweile ebenfalls Lehrer – an einer Berliner Schreibschule. Seine Recherche zu seinem aus Masuren stammenden Senior ist aber nicht weniger schillernd. Der alte Brodowsky, Jahrgang 1932, war Schüler der Nationalpolitischen Lehranstalt, kurz Napola, die gegründet worden war, um den „nationalsozialistischen Führernachwuchs“, die Elite der kün igen Nazi-

Paul Brodowsky erzählt in „Väter“ unverhüllt autobiografisch: Noch nie habe er den Vater so ausgelassen tanzen gesehen wie bei dieser Hochzeit. Schnitt. Der Erzähler führt im Ferienhaus in D. ein Interview mit seinem Vater und bekommt dessen Ahnenpass zu sehen. En passant wird auch erwähnt, dass es in der Familie eine jüdische Großmutter gegeben habe. Schnitt. Der Wecker klingelt, nein, es ist Julias Handy, aber nicht die Ehefrau liegt neben dem Erzähler im Bett, sondern Tochter Anouk. „Ich schalte das Küchenradio an, Deutschlandfunk, setze den Kaffee auf, gieße Sojamilch in den Milchschäumer, gehe ins Arbeitszimmer und wecke Julia.“ Windel wechseln, Sohn Milan spielt mit Feuerwehrautos, Anouk weigert sich, ihre Seidenleggings und das Wolle-Seide-Shirt anzuziehen.

Auf den folgenden 300 Seiten erfahren wir noch viele mehr oder weniger interessante Details aus dem autofiktionalen Schri stelleralltag. Brodowksy erzählt gleichförmig solide, o bis zu lähmender Ermüdung. Kein Wunder, dass im Corona-Alltag härterer Stoff vonnöten ist, eine Nazigeschichte, die bis in die nächste Generation nachwirkt: „Eigentlich möchte ich wissen, was für Prägungen mein Vater als Kind bekommt, welche Traumata er erfährt, um für das Buchprojekt, an dem ich arbeite, zusammenzutragen, wie ich selbst durch diese Traumata geprägt bin, auch wenn ich ihm das so nicht sage.“

Die endlosen Reflexionsschleifen des Erzählers, das systematische Durchforsten der eigenen Kindheit und Jugend nach etwaigen Traumata, werden allerdings allmählich durch Selbstironie abgelöst. Das führt zu pointierten Beobachtungen, etwa wenn es über den bundesrepublikanischen Umgang mit der Nazivergangenheit heißt, dass die Leute meist ganz erpicht darauf seien, „irgendwo in der Vorgeschichte jüdische Vorfahren zu entdecken oder zu konstruieren, um sich gewissermaßen reinen Gewissens auf die Seite der Opfer oder Nachfahren der Opfer schlagen zu können.“

Bei den Brodowskys läu es freilich anders. Da findet Paul nun heraus, dass Onkel Walter Mitglied der NSDAP und an einer Ermordung beteiligt war, und auch der Vater erinnert sich daran, dass er damals in seinem ostpreußischen Heimatdorf sprachlos dabei zusehen musste, wie ein junger Mann, den er für einen Juden hielt, von den Nazis aus einem Geschä hinausgeprügelt wurde.

„Väter“ endet fast so, wie es begonnen hatte: Der Erzähler verfällt wieder in Dauerreflexion, das Vorhaben, das Buch abzuschließen, sei undurchführbar. Und: Er beginnt zu weinen.

ERICH KLEIN