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Dieses scharf gestellte, frostige Schlaglicht

Judith Hermann gibt in ihrer Poetikvorlesung Auskun über ihr Leben und Schreiben und nimmt der Ga ung den Schrecken

Da gab es zu ihrem Roman „Aller Liebe Anfang“ (2014) diese unsägliche Kritik von Edo Reents in der FAZ, Judith Hermann habe „zwei Probleme“: „Sie kann nicht schreiben, und sie hat nichts zu sagen.“ Hermann zitiert die Rezension ohne Namensnennung leicht abgewandelt: „ich könne nicht schreiben und ich hätte nichts zu erzählen. Ersteres beiseitegelassen, enthält die zweite Anmerkung eine eigenartige Wahrheit. Ich habe nichts zu erzählen, weil ich das, was ich eigentlich zu erzählen habe, nicht erzählen kann.“ Folgerichtig hat „Wir hätten uns alles gesagt“ den Untertitel „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“. Aber Judith Hermann hat natürlich sehr wohl etwas zu erzählen und darüber hinaus auch etwas zu sagen. Ja, dank ihrer Lust am Erzählen verliert die gefürchtete Gattung der „Poetikvorlesung“ einiges von ihrem Schrecken.

Hermann denkt hier nicht nur anschaulich über die Voraussetzungen des eigenen Schreibens und das Gelingen von Literatur generell nach, über Turgenjew und Carver, sie erzählt auch von ihrem produktiven Rückzug während der Lockdowns und der vorsichtigen Annäherung an einen Fotografen namens Jon und vor allem vom Aufwachsen in einer Familie, die dysfunktional zu nennen ein Euphemismus wäre: „Ich bin das traumatisierte Kind eines depres- siven Vaters, ich komme aus einer Familie von Verrückten, ich muss die vielfältigen Symptome der Krankheiten des Geistes vor der Welt verbergen, zumindest denke ich, ich müsste das tun“.

Das antwortet Judith Hermanns Ich, als Jon ihr Geheimniskrämerei vorwir ; sie verrät ihm ihr Geheimnis, das sie noch niemandem verraten hat. So tritt die Autorin in diesem Buch die Flucht nach vorne an: Sie beschwört den Reiz des Verschweigens, um eine Menge von sich preiszugeben. „Wir hätten uns alles gesagt“, lautet Hermanns Resümee, als sie und Jon übers Wochenende beinahe in einem Schlossmuseum eingesperrt worden wären. Sie hätten, doch sie haben nicht, und es wird nicht geklärt, was „alles“ sein könnte. In der ganzen Geschichte bleibt so ein Rest im Dunkeln, aber für Hermanns Stammleserscha erhellt sich mancher Zusammenhang, und die Neulinge werden neugierig gemacht.

Dass Judith Hermann schreiben kann, weiß man seit ihrem Debüt „Sommerhaus, später“ (1998), dessen sensationeller Verkaufserfolg das ewige Mantra des Buchhandels widerlegt, die Leute würden keine Erzählungen lesen wollen. Die Geschichten um einen jugendlichen Freundeskreis, in dem man viel raucht, trinkt und in pathetischer Ratlosigkeit schwelgt, treffen das Lebensgefühl der Jahrtausendwende: „Alles war traurig und erleuchtet.“ Nun liefert

Judith Hermann: Wir hä en uns alles gesagt. Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben. Frankfurter Poetikvorlesungen. S. Fischer, 187 S., € 23,70

Hermann einige Realien zur Ersatzfamilie nach, zu Marco, dem malenden Eigenbrötler, und zur charismatischen Ada. War die Autorin mit ihr befreundet? Hat sie sie „gekannt“? –„Einfacher wäre es zu sagen, ich habe Ada geliebt.“

Hermann erzählt vom Sommerhaus der ebenfalls depressiven russischen Großmutter, von der verwinkelten, staubigen Wohnung der Eltern, vom Vater, der entweder schluchzte oder tobte und der Tochter wunderbare Puppenhäuser baute, die die vielen Kisten und Verschläge in ihrem famosen jüngsten Roman „Daheim“ in einem anderen Licht erscheinen lassen. Klug und uneitel macht Hermann die Magie der Leerstelle im Leben wie in der Literatur begreiflich und baut mit Zauberhand immer wieder die Kulissen um.

Am Beginn der Erinnerungsspirale steht die unverhoffte Begegnung mit ihrem einstigen Analytiker an der Kneipentheke. Wie auf die Fiktion das Brennglas des Realen gerichtet wird, so erscheint die Realität plötzlich in der Fragwürdigkeit des Ausgedachten: „Es war ein wenig so, als stünden wir in diesem speziellen, scharf gestellten, frostigen Schlaglicht einer Short Story, die irgendwo beginnt, etwas einfängt, wieder abbricht, bevor es zu Conclusion und Fazit kommen kann.“

DANIELA STRIGL