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In der Irrenanstalt von Donaublau

Der neu aufgelegte Roman „Die Schwerkra der Verhältnisse“ ist der beste Einstieg in das Werk von Marianne Fritz (1948–2007)

Später wird die österreichische Autorin Marianne Fritz (1948–2007) noch zehntausend Seiten schreiben; über mehrere Bücher hinweg bis hin zu dem Werkkomplex „Naturgemäß“, der nur noch als Faksimile gedruckt werden konnte, weil allein schon die Komplexität des Typoskripts – hergestellt in nächtelangen Ekstasen der Kugelkopfmaschine – die Normen des deutschsprachigen Literaturbetriebs sprengte.

In ihrem Erstling aus dem Jahr 1978 aber schaut das Werk von Marianne Fritz noch so aus, als würde es in eine Nussschale passen. Dieser kleine Happen, „Die Schwerkra der Verhältnisse“, kaum mehr als 100 Druckseiten stark, erfährt im Augenblick ein Revival.

Am Akademietheater in Wien – Martin Kušej sei gedankt! – läu seit Ende 2021 eine glanzvolle Dramatisierung. Die Bühne ist in ein Schwarzweiß aus Licht und Schatten getaucht, und die Figuren turnen in engen (auf einer Küchenkredenz) oder weiten Räumen (im Zimmer eines Irrenhauses) herum.

Schroffe Konturierung ist ein Charakteristikum ihres Schreibens. Marianne Fritz war eine Gnostikerin der Literatur. Gegensätze wurden ins äußerste Extrem getrieben, und Erkenntnisse ergaben sich vor dem Hintergrund von Daseinsschlachten, o auch direkt im Krieg.

Nun erinnert sich auch der SuhrkampVerlag seiner Autorin. In einem 104-seitigen Brief, der keine Seite der Psyche Siegfried Unselds unbearbeitet ließ, hatte Marianne Fritz im Jahr 1993 dem damaligen Verlagschef klar gemacht, dass es für ihn einfach keine Option sei, ihr Werk fallenzulassen.

Nach Unselds Tod ist genau das geschehen. Man hielt Marianne Fritz fortan eher schlecht als recht im Programm, in Wien kümmerten sich währenddessen einige spezifisch interessierte Germanisten und ein Theaterkollektiv mit dem schönen Namen fritzpunkt um das Werk. Im Verlag selbst aber glaubte niemand mehr an die Bedeutung dieses literarischen Kontinents.

Das hat sich jetzt geändert. Im Nachwort zur Neuausgabe baut Daniela Strigl Barrieren ab und gibt dem bundesdeutschen Lesepublikum eine Warnung mit auf den Weg. Man dürfe die österreichische Walzerseligkeit, die in der „Schwerkra der Verhältnisse“ auch zu finden sei, keinesfalls als Zeichen von Gemütlichkeit verstehen.

Genau so ist es: Das „Land des Chen und Lein“, als das die Autorin Österreich mit seinem Hang zu Diminutiven und doch langer und blutiger Geschichte später bezeichnet, erscheint schon im Erstling als ein einziges Schmerzgebiet. Nicht „Wahlverwandtscha en“ herrschen hier, sondern eine einzige Qualverwandtscha

Wie in Goethes Roman, in dem zwischen den vier Hauptfiguren Eduard, Charlotte, Ottilie und Otto chemische Anziehungs- und Abstoßungsreaktionen herrschen, zeigt sich auch in der „Schwerkra der Verhältnisse“ ein Kleeblatt kreuzweiser Bindungen. Berta Faust (Goethe, schau oba!), die in den „Aquarellen-Walzer“ von Josef Strauss verliebt ist und von diesem ein trügerisches Glücksgefühl bezieht, wird von dem Musiklehrer Rudolf schwanger.

Statt diesem kommt jedoch dessen Freund Wilhelm Schrei aus dem Zweiten Weltkrieg zurück. Er hat versprochen, sich um Berta und das Kind zu kümmern. Wilhelms Freundin, Wilhelmine, geht leer aus. Sie wird zur großen Gegenspielerin der Protagonistin, die nach ihrer Verehelichung dann tatsächlich Berta Schrei heißt. Die Gewalt der sprechenden Namen aber setzt sich auch bei den Kindern des Ehepaars Schrei fort: Sie heißen Klein-Rudolf und Klein-Berta.

Marianne Fritz präsentiert diese Begebenheiten in kürzesten Kapiteln. Die einzelnen Textstücke wirken wie grelle Aufblenden und tragen apodiktische Titel, von „Papperlapapp! Krieg!“ über „Es trieb mich

»Eine glanzvolle Dramatisierung von Fritz’ Debütroman am Akademietheater hat zum Revival dieser Autorin entscheidend beigetragen geradezu zu euch“ bis hin zu „Ein Mann, ein Wort, und du bist verloren“. Ort der Handlung ist Donaublau, ein Name, in dem gleichermaßen die Stadt Wien als auch der Walzer steckt.

Etwas sehr Schweres lastet auf den Verhältnissen. Fassbar ist es in einer überallhin wirkenden und fast schon naturgesetzlichen Kra . Wilhelm und Wilhelmine erweisen sich als typische Exponenten der österreichischen Nachkriegsgesellscha : Er ist Chauffeur, sie eine Putzfrau. Tempo und Sauberkeit, so könnte man die Paradigmen beschreiben, die in den ersten Jahrzehnten nach 1945 herrschten.

Berta Schrei wiederum ist auch eine Medea und tötet ihre eigenen Kinder. Auf die Frage nach dem Grund antwortet sie nicht viel mehr, als dass die beiden „misslungen“ wären – so wie die ganze Schöpfung. Fortan fristet Berta ihr Dasein im Zimmer Nummer 66 in der Irrenanstalt von Donaublau, die „Festung“ genannt wird. Dieser Name wird dem unvollendeten Romanzyklus der Autorin den Titel und ein ungemein kravolles metaphorisches Zentrum geben. Das mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnete Debüt von Marianne Fritz „Die Schwerkra der Verhältnisse“ ist ein hervorragender Einstieg in ein zentrales Werk der österreichischen Nachkriegsliteratur. Nach dem Kindermord lässt Wilhelm sich von Berta scheiden, und Wilhelmine bekommt den Mann, der schon immer in ihrem Namen steckte.

Marianne Fritz: Die Schwerkra der Verhältnisse. Mit einem Nachwort von Daniela Strigl. Roman. Suhrkamp, 148 S., € 20,60

Im Krankenzimmer gesellt sich der Berta Schrei eine mythische Figur zu, von der es in den späteren Festungsbauten von Marianne Fritz aberhunderte geben wird. Das „weise Mütterchen“ umschwirrt Berta Schrei und beginnt mit ihr einen Dialog jenseits der Räume und Zeiten, in denen hier noch die meisten Figuren stecken. Zentrales Thema ist die „Wunde Leben“. Zu dieser wird bei Marianne Fritz später noch sehr viel mehr zu lesen sein.

KLAUS KASTBERGER