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Anheber, Freerider und Tourismus-Dropouts

In „Verschwinden in Lawinen“ erzählt Robert Prosser klischeefrei von Außenseitern in den Tiroler Bergen

Wollen kämpfende Protagonistin Alex Perner, atmosphärisch präzise zu beschreiben weiß – etwa eine Silvesternacht: „Die Lu ist voll Schwefel. Nach einer halben Stunde Geballer liegt die Stadt erschöp und rauchend neben sich, als ob sie gerade Sex gehabt hätte.“

Formal aber ist das Buch von einer Probierfreudigkeit, die man früher, zur Hochblüte des Eurodance, wohl noch avantgardistisch genannt hätte: ein ständiges Schlenkern zwischen Tagebuchauszügen, auktorialer Erzählung, Youtube- und Lebenshilferatgeber-Exzerpten, absurd korrekten Fußnoten, Songtexten und Was-auchimmer-das-jetzt-genau-sein-soll.

Dass obendrein kaum je ausgeschildert wird, was nun Realität, literarischer Versuch, Drogenwirkung, Gebrauchsanweisung, Wunschvorstellung oder Paranoia ist, funktioniert erstaunlich gut und sorgt für unmittelbare Nachvollziehbarkeit der deliriösen Grundstimmung. Und zwischendrin bekommt man auch noch Sätze fürs Leben: „Von außen betrachtet ist das hier vielleicht okay. Leider bin ich nicht von außen.“

THOMAS MAURER

So kurz vorm Ende der Wintersaison passiert noch ein Unglück. Zwei Einheimische sind beim Skifahren im freien Gelände von einer Lawine erfasst worden. Die junge Frau dür e es überleben, ihr Freund ist vorerst unauffindbar. Eine große Suchaktion wird gestartet.

Dieser Stoff ließe sich zu einem Epos über Schönheit und Gewalt der Natur von Ransmayr’schem Pathos formen oder auch als Abrechnung mit der Tiroler Tourismusindustrie niederschreiben. Doch beides scheint Robert Prosser (Jg. 1983) nicht übermäßig interessiert zu haben. Er erzählt mit „Verschwinden in Lawinen“ lieber eine etwas andere Berggeschichte über Außenseiter, Einsiedler und abgelegene Orte.

Die österreichische Literatur kennt den Heimatroman und den Anti-Heimatroman der 1970er. In den letzten Jahren wurde es zusehends unübersichtlich.

Da erschienen plötzlich Anti-AntiHeimatromane, deren Verfasser die Provinz wieder irgendwie super fanden, sowie neue Anti-Heimatromane, und manche Bücher wurden von der Kritik gar als Anti-Anti-Anti-Heimatliteratur klassifiziert.

Als Guide fungiert der Protagonist, ein Mittdreißiger namens Xaver, ehemaliger Koch und eine Art Tourismus-Dropout, bloß dass er sich das bisschen Geld, das er braucht, als Li wart verdient. In seiner Freizeit hängt Xaver mit seinem alten Kifferfreund ab und träumt von einer Schauspielkarriere.

Die Erzählung führt uns durch unwegsames Gelände, wir begegnen einem „Anheber“, einem Naturheiler, der als Einsiedler in den Bergen lebt, auch Xavers Mutter hat sich auf eine Hütte zurückgezogen. Die Suche nach dem jungen Freerider weckt in Xaver Erinnerung an dessen Opa (Markenzeichen: Kosakensprung), der einst selbst in den Bergen verschwand. Prosser ist ein kurzer Roman von beträchtlicher Sogwirkung gelungen, der durch genaue Beobachtungen und seinen angenehm ruhigen Ton besticht. Geschickt wechselt er zwischen Rückblenden in Xavers Jugend und der Gegenwart, in der Xaver das Versagen von einst zu korrigieren trachtet. Die Suche nach dem Vermissten gerät auf diese Weise auch zum Versuch, sich selbst zu retten.

SEBASTIAN FASTHUBER

Maria Muhar: Lento Violento. Roman. Kremayr & Scheriau, 208 S., € 22,–

Anna Herzig

12 Grad unter Null

Roman

19,90 €, Hardcover

ISBN 978-3-7099-8192-4 erscheint am 18.04.2023

Prosser nun, der in Alpbach aufgewachsen, in jungen Jahren weit gereist ist und sein Leben heute sowohl in Wien als auch in Tirol verbringt, nimmt eine selten gewählte literarische Route durchs Gebirg: Wertungsfrei und abseits von Klischees erzählt er von einer geradezu archaisch wirkenden Welt, die kaum jemandem bekannt sein dür e.

Robert Prosser: Verschwinden in Lawinen. Roman. Jung und Jung, 180 S., € 22,–

„Aber Sandburg, so der Ort des seltsam vertrauten Geschehens zwischen Vater und Mutter, zwischen Töchtern und Schwestern, ist auf Sand gebaut. Wie ein weiblicher Thomas Bernhard von heute, so schonungslos erzählt Anna Herzig von Kunst und Macht, von Vätern und Mütern, von oben und unten.“

Gudrun Seidenauer www.haymonverlag.at