LOST VOICES #12

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LUNGENBÜHLER MATRATZEN von Adam Schwarz Petra Stocker war trotz des Namens Modell. Ihre Familie bestand aus einem Mann und einer Frau, die sie aufgezogen hatten, ihren Eltern, und einem weiteren menschlichen Wesen, das gewöhnlich im Zimmer neben ihr vor sich hinlebte, ihrem Bruder. Gerne würden wir diese Geschichte aus Petras Perspektive berichten. Doch Petra liegt im Koma. Die hellblonden Sommerhaare ruhen auf einem Kopfkissen, das sich nicht an die Zeiten erinnern kann, als die Kopfkissen voll Läuse zu sein pflegten. Sie schaut friedlich aus, sagt der Vater. Er nickt, die Mutter ebenfalls, der Bruder kaut Kaugummi. Eine Schande. – Ja, eine Schande. Der Arzt kommt, berichtet, und geht wieder. Man weiß wenig, gar nicht eigentlich. So was kann lange dauern. Die Medizin gerät an Grenzen. Wir wollen das Beste hoffen. Ja. Das Beste. Sie war so kurz vor dem Durchbruch, sagt die Mutter. Morgen hätte sie einen Termin bei Melinda Industries gehabt. – Hirnblutung. In dem Alter. Der Vater tastet beim Sprechen mit der rechten Hand seine linke muskulöse Schulter ab. Petra liegt immer noch im Bett. Wohin sollte sie sonst gehen. Dem Zimmer mangeln die Worte, die Familie kann sie nicht liefern, von draussen strömen abendliche Rasenmähergeräusche hinein, es ist Sommer, der Sommer, in dem Petra einundzwanzig geworden wäre. Der Vater bricht in Tränen aus, die Mutter tätschelt ihm die Schulter. Ich mag mich noch gut daran erinnern, sagt er. Ihr erster Auftrag. Wie sie auf der Matratze unter der dicken Decke lag. Lungenbühler Matratzen, gefüllt mit feinsten Gänsefedern. – Wir glaubten, es hätte keine Bedeutung. Es wäre nur eine Phase, sagt die Mutter. Und jetzt ist sie beinahe berühmt. Mutter hat sie neulich in der Joghurtwerbung gesehen. Ich mag keinen Joghurt, sagt der Bruder. Die Eltern ohrfeigen ihn mit Blicken. Der Bruder senkt die Augen auf den graublauen Krankenhausboden. Krankenhausböden bekommen zu wenig Beachtung. –Vielleicht wacht sie nicht wieder auf. Sie sagen es uns nur nicht. Wollen uns nicht beunruhigen. Aber möglich ist es. Der Vater fährt mit langen Fingern durch die Luft. Die Hoffnung schläft nie. Sie war immer eine Kämpferin. Sie ist noch immer aufgewacht. Ja, war sie. War sie, Eva. Was ist sie noch? Der Vater zeigt auf sie. Ist sie das, fragt er. Dann vollführen seine Pupillen ein wildes, kurzes Konzert, eine Idee scheint ihm zu dämmern. – Lungenbühler! Was?, fragt die Mutter. Lungenbühler! Weisst du nicht mehr? Er rief Petra an, nachdem das Foto rausgekommen ist. Sagte, sie wäre das bisher schönste Modell. Hat uns einen Früchtekorb geschickt. Die Früchte schmeckten widerlich, sagt der Bruder. Der Vater streicht sich über die glattrasierte Hautcremehaut, er denkt. Die Mutter weiß nicht, was er denkt. Der Sohn weiß es nicht, das Krankenhaus weiß es nicht, der Park rund ums Krankenhaus scheint gebannt zu schweigen. Dabei ist der Vater sonst nicht von der Art Vater, die am Tischende sitzt, der man zuzuhören hat, die dauernd Fleischstücke zu zerbeissen scheint. Ich schreibe ihm. Er kennt doch ihren Namen nicht mehr. Den Namen nicht. Der Vater zückt sein Smartphone, zielt auf Petras Engelsgesicht, bleich zwar, aber immer noch hübsch, drückt ab. Verrückt, ich habe seine Nummer noch, sagt er und sendet das Bild seiner Tochter über einen Satelliten, der die Erde umkreist, zu 8 Lungenbühler, der gerade in einer Bergbeiz Käsespätzli verzehrt. Was sollte das, fragt


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