Die Beste Zeit Nr. 22 2013

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einmal in der Woche wurde diese Sendung im türkischen Radio ausgestrahlt. Darauf habe ich mich immer gefreut und so habe ich mich in die Klassische Musik verliebt.“ Im Istanbul der 1970er Jahren gerät Saadet aber auch in den Mainstream der US-amerikanischen und englischen Pop-Musik, die auf den Plattenspielern während der Hochzeiten und Geburtsfeste gespielt wird. Und sie hört sich ein in ganz andere, neue Musikwelten; sie ist fasziniert von Janis Joplin und Pink Floyd, Black Music, wie viele Teenager in der sich schon damals globalisierenden Welt. „Besonders den Blues habe ich geliebt bis heute, weil er auf eine so einfache Weise unmittelbar die Gefühle zum Ausdruck bringt.“ Vielleicht ist es das Nomaden-Gen ihrer Großeltern, die Lust etwas Neues zu entdecken, das sie ausbrechen lässt aus ihrer vertrauten Umgebung. Sie will die Welt kennen lernen. 1980 – sie ist gerade 20 Jahre alt geworden – geht sie in die Schweiz. Dieses Land ist für sie ebenso exotisch wie sie für die Schweizer. Denn die junge Frau mit hohen Wangenknochen und Mandelaugen passt nicht ins Klischeebild der Türkin, als die sie der Pass doch auszeichnet. Dass sie einmal Vokalistin und Improvisationsmusikerin werden wird, ahnt sie damals noch nicht. Zunächst geht es darum, Fuß

zu fassen in der neuen Heimat. Sie landet zunächst in Romanshorn am Bodensee und arbeitet dort als Haushälterin in einem Altenheim. Und dann geschieht etwas, das man Schicksal oder Zufall nennen könnte, aber es ist, wie Max Frisch es einmal sagte, „stets das Fällige, was einem zufällt“: Das „Fällige“ geschieht in dem Altenheim, in dem Saadet lebt; dort lernt sie eine Marian kennen, eine junge Frau, die hier in ihren Ferien arbeitet. Marian lädt Saadet in ihre Familie nach St. Gallen ein. Dort entwickelt sich eine Freundschaft mit Marians Schwester Muda Mathis, der Künstlerin. „Ich habe sofort gespürt“, erzählt Saadet, „dass das meine Welt ist. Ich habe mich sehr wohl gefühlt in diesem künstlerischen Umfeld. Der alternative, bohèmehafte Lebensstil hat mir sehr gefallen.“ Sie ist offen und neugierig auf neue Erfahrungen und so erhält sie schnell und unkompliziert Zutritt zur Schweizer Kulturszene. Muda Mathis und die Videokünstlerin Pippilotti Rist, die die Schweiz zweimal auf der Biennale in Venedig vertritt, laden Saadet ein, mit ihnen in Performances und Videoprojekten zusammenzuarbeiten. Erfahrungen, die sie später veranlassen werden, sich als Musikerin an genreübergreifenden Projekten zu beteiligen. So macht sie Live-Musik zu Stummfilmen und wirkt als Vokalistin bei Film-,

Theater- und Tanztheaterproduktionen mit. In St. Gallen beginnt sie eine Ausbildung als Psychiatrieschwester. Aber sie ist immer noch auf der Suche nach ihrer Bestimmung. Sie absolviert eine Ausbildung als ShiatsuTherapeutin, praktiziert diese Berührungskunst, studiert fünf Semester Journalistik, wird aber in diesem Beruf nicht arbeiten, weil nicht das geschriebene, sondern – wie sich herausstellen wird – das gesungene Wort ihre Art ist, sich auszudrücken und die Seele zu berühren. Ihre künstlerische Bestimmung findet sie, als sie einer inneren Eingebung folgend Gesangsunterricht nimmt und ihr stimmliches Talent entdeckt. Sofort wird man auf sie aufmerksam. Man fragt sie, ob sie bei einem Fest als Sängerin auftreten will. Sie will und die begeisterte Reaktion des Publikums zeigt ihr, „dass ich einen neuen Weg für mich gefunden haben könnte.“ 1992 siedelt sie dann nach Zürich über, wo sie in einem Mädchenhaus junge Frauen betreut. Zu dieser Zeit entdeckt Saadet die Zürcher Jazz- und Free-Jazzszene, sie hört Irene Schweizer, Pierre Favre und das Trio Koch-Schütz-Studer. „Mir wurde bewusst, dass der traditionelle US-amerikanische Jazz durch die Improvisierte Musik eine ungeheure Erweiterung und Befreiung erfahren hat. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass mein Wunsch Musikerin zu sein, einen Platz gefunden hatte.“ So studiert sie bei dem Bassisten Peter K. Frei Improvisierte Musik und gibt in der Werkstatt für Improvisierte Musik (WIM-Zürich) Konzerte. „Es war der Beginn einer“, wie sie sagt, „unendlichen Reise, die meine Berufung werden sollte.“ Peter Kowald kannte sie durch seine Musikproduktionen und auch aus dem Fernsehen. Eine ihrer Konzertreisen führte Saadet 2002 nach Paris, wo sich zu diesem Zeitpunkt auch Peter Kowald aufhält, der ihr Konzert besucht und sie danach anspricht. „Peter hatte so einen unglaublichen weiten, offenen Sinn. Als Mensch und als Musiker“, erinnert sich Saadet und es ist in ihrer Stimme und ihrer Körperhaltung deutlich spürbar, wie tief sie diese Begegnung berührt hat: „Noch im gleichen Jahr besucht Saadet Peter Kowald in München bei einem Konzert. „So wurde uns beiden klar, dass wir zusammen spielen würden.“ Kowald lud Saadet dann zu einem Konzert in die türkische Kulturkneipe Auftritt und Begegnung im ort, Luisenstraße

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