Das Goetheanum – Sonderheft Grundeinkommen

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Johannes wirz

FÜLLE DES LEBENS Vielfalt und Beziehung sind es, was das Leben ausmacht. Was sagt das Leben zum Grundeinkommen?

Der Versuch, biologische Theorien auf den Menschen zu übertragen, hat im Sozialdarwinismus zur Verachtung von Recht und Würde der Schwachen geführt. Der Grund liegt im Kern dieser Theorie: Er heißt ‹Kampf ums Dasein› und ‹Überleben des Stärkeren›. Wenn hier trotzdem ein Versuch gemacht wird, Vorgänge und Interaktionen in der außermenschlichen Natur als Bild sozialer Beziehungen zu verwenden, dann deshalb, weil eine andere Lesart des ‹biologischen Textes›, ein Ausdruck von Hans Jonas, möglich, ja notwendig ist. Die Vielfalt und Schönheit intakter Landschaften und Lebensräume erstaunen und verzaubern, weil sie sich nicht im Kampf gegeneinander, sondern im Miteinander entwickeln. Das Geheimnis heißt uneingeschränkte Kooperation und bedingungsloses Verschenken von Mehrwerten, die allen zugutekommen, alle Gewinn ziehen. Jedes Jahr mischt sich im Herbst in die Gefühle des Abschiednehmens und in das Erlebnis des Absterbens die Zuversicht, dass die Natur den nahenden Winter dazu verwenden wird, die Ernte des vorangegangenen Sommers für den kommenden Frühling vorzubereiten. Es steht außer Zweifel, dass das Zukünftige nur werden kann, wenn das Vergangene die Bedingungen dafür geschaffen hat. Doch alles Vergangene nützt nichts, wenn Gegenwart das Werden nicht ermöglicht. Wir erleben diese Tatsache in vielen Teilen Europas heute deutlich. Der ausbleibende Regen und der niedrige Wasserstand vieler Flüssen und Seen werden dramatische Ernteeinbußen mit sich bringen, weil viele Kulturpflanzen zu wenig Wasser und damit keine Nährstoffe aufnehmen können. Das Gleiche gilt, auch wenn wir selten daran denken, für Erde, Luft, Licht und Wärme. Auch hier ist die Situation dramatisch. Der jährliche Verlust an fruchtbarem Ackerland durch Erosion aufgrund unsachgemäßer landwirtschaftlicher Praktiken, die Luftverschmutzung und der Klimawandel wirken ebenso bedrohlich auf den Reigen von Werden und Vergehen wie der aktuelle Wassermangel. Allein das Sonnenlicht scheint gesichert – diese geheimnisvolle ‹Substanz›, das Urproduktionsmittel allen Pflanzenwachstums. Unerschöpflich soll es Mensch und Erde noch Jahrmillionen zur Verfügung stehen. Es ist richtig, dass die Sonne als Quelle und Geschenk bildlich gesprochen außer Raum und Zeit existiert. Doch Lebensspenderin kann sie nur sein, wenn sie wie alle Elemente in einen rhythmischen Wechsel eingebettet ist. Der Rhythmus von Tag und Nacht, auf die Minute am Äquator, ins Jahr ausgedehnt an den Polen, ist die Voraussetzung, dass Leben entstehen, gedeihen,

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DAS GOETHEANUM 25 | 2011

reifen und vergehen kann. Erst in der uns so selbstverständlichen Beziehung von Sonne und Erde, Tag und Nacht und den Jahreszeiten können Pflanzen, Tiere und Mensch gedeihen! Viele für eines, alle für alle, das ist die Botschaft, die aus der Natur zu uns klingt. Nach diesem Vorbild muss jede soziale Gemeinschaft gebaut sein, wenn sie sich lebendig und nachhaltig entwickeln soll! BEZIEHUNGEN SIND ALLES Es ist einleuchtend, dass Raum-Zeit-Beziehungen, ob zwischen Gegenständen oder Wesen, zu ungeahnter Zunahme von Vielfalt und Komplexität führen. Über die Kombinatorik hinaus bestehen verschiedene Affinitäten – der träge Luftstickstoff reagiert je nach Bedingungen mit Wasserstoff zu Ammoniak oder mit Sauerstoff zu Nitrat. Man kann die Zunahme an Komplexität, das heißt Beziehungen als Überschuss bezeichnen, der in der Natur allen zur Verfügung steht. Vielfalt ist seit dem Erscheinen der ersten Lebensformen auf der Erde das leitende Prinzip der Evolution. Wir wissen heute, oder ahnen es, dass unter Lebensbedingungen ohne Änderung keine neuen Lebensformen entstehen können. Wir wissen auch, dass aus den Wechselwirkungen von Pflanzen und Tieren ungeahnte Mehrwerte entstehen, die auch dem Menschen zugutekommen. Zwei Beispiele: Rinder und Kühe sind, wenn sie art- oder wesensgemäß gehalten werden, geniale Zauberinnen. Dank ihres Pansens (Vormagen) mit seiner reichen Mikroflora und -fauna können sie die Primärprodukte des Lichtstoffwechsels, Zellulose in Gräsern und Kräutern in wertvolle Milch und in Fleisch umwandeln. Das Abfressen durch die Kühe regt das Pflanzenwachstum an. Mit ihrem Tritt legen die Tiere Erde frei, wo Samen von Gräsern hinfallen und, von den Hufen der Tiere festgedrückt, keimen können. Mit ihrem Dung verbessern die Kühe die Wachstumsbedingungen und Fruchtbarkeit des Bodens. Mit einem guten Weidemanagement sind auf diese Weise im schweizerischen Jura blütenreiche Weiden und Wiesen entstanden, auf denen bis heute Tausende von Schmetterlingen den aufmerksamen Beobachter beglücken. Das alles ist möglich, weil Pflanzen und Tiere sich gegenseitig optimale Bedingungen schaffen – Magie einer Kooperation. Ganz anders sieht es unter Bedingungen einer maximalen Produktion aus, die stets weit über dem Optimum der art- oder wesensgemäßen Möglichkeiten liegen. Es entstehen die Landschaften der industriellen Landwirtschaft: Milchseen und Butterberge. «So


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