Das Goetheanum – Sonderheft Grundeinkommen

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Die Selbstverständnisse bröckeln unter der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens. Man muss die Welt neu denken, man muss sich selbst neu denken.

Der Wohlstand schafft Ungeheuer, wenn man ihn ersäuft zugunsten alter Gewohnheiten. Wenn man ihn ignoriert als Freistellung für das Notwendige. Wenn man die Freiheit ignoriert, in der die Verantwortung wirklicher wird.

ken, sich gebraucht fühlen wollen, sich entwickeln wollen und sich bestätigen, indem sie etwas für andere tun und aus deren Wertschätzung auch sich als sinnvoll erleben? Wie wäre das bei Ihnen? Sie machen schon etwas, was Ihnen sinnvoller erscheint?

Unglück macht nicht Menschen, und Wohlstand macht nicht Ungeheuer, sondern beides stellt die Frage, was der Mensch daraus macht. Das Unglück, welches Victor Hugo in obigem Zitat meint, sind Verlust und Verhinderung, die den Menschen zu sich kommen lassen. In diesem Sinne fördert ein bedingungsloses Grundeinkommen ‹Unglück›, weil einem damit viele Ausreden verloren gehen und es einen doch ein Stück weit auf sich selbst zurückwirft, Verhinderungen bei einem selbst sehen lässt, und weil es gewissermaßen verhindert, dass man selbst dafür nichts kann. Es kann einem aber geholfen werden. Bestimmt nicht mit Sozialleistungen. Nicht mit Zwang, unter dem man Interessen anderer zu dienen hat, nicht mit etwas, worin man nicht das Eigene sieht – und sei es auch noch so anders. Auch nicht einfach mit Geld.

Bei dem Gedanken an das Grundeinkommen darf man nicht die Bodenhaftung verlieren. Es ist nur ein Grundeinkommen. Man darf im Gedanken nicht überrennen, dass sich fast alles mit dem Grundeinkommen nicht ändert. Es ist im Ganzen nicht einmal mehr Geld, denn das Grundeinkommen wird auf die bestehenden Einkommen einwirken. Im Prinzip werden sich die bestehenden Einkommen um den Betrag des Grundeinkommens verringern. Ein weiterer Punkt der Bodenhaftung ist, nicht zu meinen, es gäbe einen Knopf, auf den gedrückt werden kann, und plötzlich ist ein bedingungsloses Grundeinkommen da; für jeden in lebenstauglicher Höhe ein Leben lang. Da ist kein Knopf.

Das Grundeinkommen ist keine Sozialleistung. Es ist auch kein neutraler Geldbetrag, sondern was das Geld ausdrückt, was es intendiert, das eben wird in der Auseinandersetzung um das Grundeinkommen jetzt und später aufgeladen. Nicht, wozu es verpflichtet, sondern was es ermöglicht. Die Moral von der Geschichte. Was es ermöglicht, das ist heute dem Einzelnen schon möglich. Ohne Grundeinkommen. Oder mit einem der Grundeinkommen, die es auch jetzt schon gibt. Die sind nur anders intendiert.

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Was sich mit dem Grundeinkommen verändert, findet schon statt, bevor es so weit ist, dass es auch als Geld ausgezahlt wird. Es findet statt in dem Staunen, im Erleben und wohin einen das führt, in dem Angebot, sich selbst anzunehmen und vielleicht doch denken zu dürfen, was man sich verboten hatte. Es geht nicht anders. Aber das geht. Es führt etwas anderes ein neben der Horizontalen des Tausches, der Bestimmbarkeit des anderen durch eine Gegenleistung, dem Mechanistischen. Es lässt eine Vertikale ein.

Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein demokratisch bestimmter Einkommensbetrag, den sich alle gegenseitig zusprechen aus der gemeinsamen Wertschöpfung, mit dem sich alle die Teilnahme an der Gesellschaft und das Recht auf Leben als wirtschaftliches Bürgerrecht und Menschenrecht zubilligen. Wohlgemerkt: heute. Und mit Blick auf die Zukunft. Vor hundert Jahren war das noch keine so praktikable Idee. Aber vor hundert Jahren und davor und bisher wurde sehr viel dafür getan, dass sie jetzt dran ist.

Die Idee des Grundeinkommens ist aus dem Gleichen, was auch da wirkt, wo sich Menschen gegen offene Entwicklungen in rückläufige Herrschaftssysteme verkrallen. Sei es in Diktaturen, in der Bildung, in Institutionen, dass man andere Menschen abtreibt, um selbst in alten Vorstellungen bleiben zu können. Maßnahmen zur sogenannten Wiedereingliederung von sogenannten Arbeitslosen sind Maßnahmen zur Verdrängung von Geistesgegenwart. Der Zeitgeist wirkt. Wendet man sich ihm nicht zu, muss man dagegenhalten. Zukunft soll dann Erfahrung aus der Vergangenheit sein. Ein virtuoserer Umgang mit Untauglichem.

Doch wird es mit einem bedingungslosen Grundeinkommen noch genügend viele Menschen geben, die den alten Wohlstand produzieren? Die zum Beispiel für den Bedarf von Kindern arbeiten, die Bauschutt wegräumen, Elektroautos konstruieren, Ihnen Versicherungen andrehen? Warum sollte es die nicht geben? Wieso sollten Menschen sich nicht erproben wollen, nicht zusammenwir-

Ich möchte auf den Zusammenhang hinweisen, der mit Bewusstsein zu tun hat. Die Formen, die umso gewalttätiger in die Wirklichkeit haken, je mehr die Wirklichkeit sich unter diesen alten Formen wegentwickelt, stehen in Zusammenhang mit der Bewusstseinsentwicklung. Sie sind Auswirkungen. Auswirkungen einer Abgewandtheit.

DAS GOETHEANUM 25 | 2011


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