Magazin «die umwelt» 3/2023 - Unser Wasser

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Natürliche Ressourcen der Schweiz

Über schlaue Games, die ökologisches Verhalten fördern

FOCUS | S. 12

UNSER WASSER

Im Klimawandel Fische schützen

Sauberes Trinkwasser Verschmutzungen aus der Industrie

INTERVIEW
S. 10 IM DIALOG Die Balance zwischen Natur und Tourismus S. 36 REPORTAGE Im schweisstreibenden Klimaworkshop S. 40 3 | 2023
Wasser schützen S.25 IMBILD RABMHENSUAREH E SEITE IMBILD RABMHENSUAREH E SEITE bafu.admin.ch/magazin

Focus

04 Aufgeschnappt 06 Tipps 07 Bildung 08 Unterwegs
Ökologische Spiele Interview mit dem Professor für Gamedesign
360°
10
Wasser schützen
bewahren wir die lebenswichtige Ressource?
12 Das
Wie
wir
Lebensräume
der Fische schützen
Wanderung
Fische
20 Unter Wasser Wie
die
und Wanderungen
25 Im Bild Wasser, Wasserkraft und die
der
Trinkwasser
Zersiedelung und Landwirtschaft
30 Unser Grundwasser Sauberes
trotz
Abwässer
Substanzen, komplexe Aufbereitung
34 Industrielle
Unbekannte
Wert
Schweizer Pärke
Klimaworkshop
den Klimaschutz verstehen 44 Biodiversität Einheimische Arten unter Druck 46 Gefürchteter Schädling Der Asiatische Laubholzbockkäfer 48 Vor Ort 50 Meine Natur 12 20 2 DIE UMWELT 3-23
360° 36 Im Dialog Der
der
40 Im
Spielerisch

Sie wollen auf dem Laufenden bleiben, was unsere Umwelt angeht? Sie möchten sich umweltbewusst verhalten und erfahren, wie das geht? Dieses Magazin will dabei helfen.

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Ging es Ihnen wie mir? «H20» war die erste chemische Formel, der ich als Kind begegnet bin. Auf dem Pausenplatz galt als besonders klug – oder neunmalklug –, wer die Formel herunterrattern konnte. Ich gehörte dazu. Dabei war das, etwas älter geworden gebe ich es gerne zu, kein exklusives Geheimwissen. «H2 0» ist so bekannt, dass es ganz selbstverständlich in der Werbung verwendet wird.

Wasser hat Menschen zu allen Zeiten fasziniert und beschäftigt. Die Geschichte der Philosophie ist, seit den Vorsokratikern, auch ein Nachdenken über das Wasser. In allen Weltreligionen spielt Wasser eine zentrale Rolle.

Wasser ist besonders: Kein anderer Stoff kommt auf unserem Planeten natürlicherweise gefroren, flüssig und gasförmig vor. Ohne Wasser kämen alle biologischen Prozesse zum Erliegen. Wir Menschen wachsen im Mutterleib im Wasser heran. Es ist die Quelle und der Motor des Lebens. Und Wasser ist, ganz prosaisch, eine wichtige Ressource für Landwirtschaft, Industrie, Energiegewinnung und Tourismus.

Wer das Leben erhalten will, muss das Wasser schützen. Und mit ihm jene Ökosysteme, die von ihm geprägt sind. Die Meere, die Seen, die Flüsse und Bäche, die Tümpel, Teiche und Feuchtgebiete. Der Schutz der Gewässer war einer der frühesten Schwerpunkte der Umweltschutzgesetzgebung. Unser Land hat hier viel erreicht. Das sieht man schon daran, dass wir heute in praktisch allen Schweizer Seen wieder bedenkenlos baden können.

Doch die Lebenswelt Wasser ist weiter unter Druck. Der Klimawandel, Düngemittel, Chemikalien und Verbauungen setzen den Gewässern zu.

Ist das Glas im Gewässerschutz also halbvoll oder halbleer? Tauchen Sie auf Seite 12 in unser Focusthema ein und urteilen Sie selbst!

Viel Freude bei der Lektüre.

40 An der Quelle des Lebens
EDITORIAL
IN EIGENER SACHE 3 DIE UMWELT 3-23

Ein Tresor mit Exkrementen in den Alpen Um vom Aussterben bedrohte Mikroben zu bewahren, sollen Exkremente aus aller Welt in den Schweizer Alpen gelagert werden. Denn die Vielfalt unserer Darmflora nimmt weltweit ab, etwa weil wir mehr Fertigprodukte essen, uns hygienischer verhalten oder Antibiotika schlucken. Ähnlich wie auf Spitzbergen im Nordatlantik globales Saatgut gelagert wird, will das gemeinnützige Projekt «The Microbiota Vault» (Deutsch: der mikrobiotische Tresor) möglichst viel des Mikrobioms von Mensch und Tier sammeln, einfrieren und katalogisieren. Später könnten sich die Organismen zum Beispiel für die Entwicklung von Medikamenten nutzen lassen.

Die Uhren umstellen fürs Klima Wussten Sie, dass die Zeitumstellung zwischen Sommer- und Winterzeit durchschnittlich drei Prozent Energie einspart? Das hat eine Studie der Forschungsanstalt Empa gezeigt. Der Grund: Die Zeitumstellung führt dazu, dass die arbeitende Bevölkerung im Sommer den Arbeitsplatz früher verlässt und so Klimaanlagen früher abgestellt werden können. Denn weltweit gesehen sind die Klimaanlagen deutlich energieintensiver als die Heizungen im Winter. Auf EU-Ebene wird die Zeitumstellung zurzeit infrage gestellt. Ursprünglich wurde sie Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt, um die Stunden mit natürlichem Licht nicht zu verschwenden.

DAS OBJEKT

Der Autoreifen

Der motorisierte Verkehr ist nicht nur deshalb umweltschädlich, weil er Schadstoffe ausstösst. Auch der Reifenabrieb ist ein grosser Faktor, in der Schweiz sorgt er für die grösste Plastikverschmutzung.

Jedes Jahr werden 8900 Tonnen dieses Mikroplastiks in der Umwelt verbreitet, von insgesamt 13 500 Tonnen Abriebrückständen. Dies dokumentiert ein im Herbst 2022 erschienener Bericht des Bundesrats.

Ozeane: so warm wie nie zuvor Die Meeresoberflächen waren von Mitte März bis Ende April 2023 im Durchschnitt 21 Grad warm – so warm wie noch nie seit Beginn der Messungen in den 1980er-Jahren.

Steuern für Elektroautos Ab 2024 sollen auch Elektroautos gleich wie Benzin- und Dieselautos mit vier Prozent besteuert werden. Die entsprechende Vorlage ist in der Vernehmlassung.

Die Handy-Schublade ist real Laut einer Studie der ZHAW lagern 40 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer ein unbenutztes, funktionstüchtiges Handy zu Hause, das man gut weiterverwenden könnte.

360°
4 DIE UMWELT 3-23 A UFGESCHNA pp T 360°

Liter Wasser werden für die Produktion einer Tonne Tabak benötigt. Um beispielsweise die gleiche Menge Kartoffeln zu ziehen, braucht es achtmal weniger Wasser. Ausserdem belasten Zigaretten die Umwelt durch deren Herstellung, beim Verbrennen und durch die weggeworfenen Kippen.

19.–29.10.23

Filme für die Erde Festival

Filme können einen leichten Zugang zu komplexen Themen bieten. Das Festival «Filme für die Erde» bietet über zehn Tage lang kostenlos Umweltdokumentarfilme, die sich mit dem Klima, der biologischen Vielfalt und allgemein mit unserem Umgang mit dem Planeten befassen.

In zehn Schweizer Städten

bit.ly/3P8l5Ie

JEDEN DONNERSTAG

Kaputten Dingen neues Leben

einhauchen

Repariere deine defekten Geräte, Kleider oder kleinen Möbel in der offenen Reparaturwerkstatt. Das fachkundige Personal von Recreazzz Repair hilft dir dabei, deine Habseligkeiten wieder funktionstüchtig zu machen.

Zentralwäscherei, 1.OG, Neue Hard 12, Zürich

17.00–21.00

bit.ly/3Eb9zFM

SONNTAGS BIS ENDE OKTOBER 23

Nur wer schreit, sieht

Elefanten erleichtern die Kohlenstoffspeicherung

Im Kongobecken spielen Elefanten eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung der Klimakrise. Denn sie ernähren sich von bestimmten Baumsamen, die besonders gut Kohlenstoff speichern können, und scheiden diese mit ihrem Kot aus. Zudem trampeln sie die Bodenvegetation nieder. So helfen sie dabei, dass grosse Bäume wachsen, die mehr Kohlenstoff binden als kleine Gräser oder Büsche.

In der Ausstellung Batvision kann man mithilfe einer Virtual-Reality-Brille wie eine Fledermaus fliegen lernen und sich per Echo orientieren: Denn nur wer schreit, sieht die Welt der Fledermäuse. So werden Besucherinnen und Besucher am eigenen Körper für die bedrohte Tierart sensibilisiert.

Naturama Aargau, Feerstrasse 17, 5000 Aarau

10.00–14.00

Europa erwärmt sich am schnellsten

In keinem Kontinent steigen die Temperaturen so schnell wie in Europa. Laut der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) und dem europäischen CopernicusNetzwerk hat sich der Kontinent seit den 1980erJahren doppelt so stark erwärmt wie der globale Durchschnitt. Der Bericht warnt davor, dass extreme Hitzeereignisse häufiger und intensiver werden.

Im privatjet unterwegs Nirgendwo in Europa fliegen so viele Privatjets wie in der Schweiz: Letztes Jahr hoben sie 35 000-mal ab – das sind im Schnitt fast hundert Flüge pro Tag. Laut einem Bericht von Greenpeace flogen Schweizer Privatjets am häufigsten die Strecke Genf-Paris. Mit dem Zug bräuchte man nur etwas mehr als drei Stunden, um zwischen den beiden Städten zu pendeln.

bit.ly/3OR9dJg

05.10.2023

Schnecken entdecken

Das Riesimätteli gilt als einer der schneckenartenreichsten Orte im Kanton Basel-Stadt. Auf der Exkursion lässt sich etwa die seltene Schöne Landdeckelschnecke mit ihrem schmucken Gehäuse entdecken.

Treffpunkt: Bushaltestelle

Bettingen, Mennweg

17.00–18.00

bit.ly/3EaLDCI

DIE ZAHL
AGENDA
6 7 0 0 0 0 5 DIE UMWELT 3-23 A UFGESCHNA pp T 360°
DAS TIER

BUCH

«Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit»

Kreislaufwirtschaft gestern und heute

ISBN: 978-3-89667-679-5

CHF 32.90

Der Aachener Dom ist eines der besten Beispiele für das Recycling von Baumaterialien. Mehr als 20 verschiedene Natursteine wurden verwendet, dazu zahlreiche Steine aus älteren Gebäuden. So funktionierte Kreislaufwirtschaft schon im Mittelalter. In ihrem Buch stellt die Historikerin Annette Kehnel viele weitere Beispiele aus der vormodernen Zeit vor, aus denen wir heute punkto Nachhaltigkeit lernen können. So lebten Klöster bereits vor eineinhalb Jahrtausenden eine Sharing Economy vor. Auch das Prinzip der Mikrokredite gab es etwa in Norditalien schon vor Jahrhunderten. Mit Spenden und Darlehen ermöglichten Reiche so einer breiteren Bevölkerungsschicht, am Wirtschaftsleben teilzunehmen. Das Buch erzählt zudem von einem Crowdfunding für die Brücke in Avignon, nachhaltiger Fischerei am Bodensee, riesigen Secondhand-Märkten, sozialem Wohnungsbau oder den vielen Reparaturberufen von einst. Und zeigt so, dass Kreislaufwirtschaft in den Zeiten vor unserem heutigen wirtschaftlichen Denken –dominiert von Konsum und Profit – eine Selbstverständlichkeit war.

pikante Fragen zu ökologischer Landwirtschaft

Sei es zum Earth Overshoot Day, zur landwirtschaftlichen Ausbildung oder zur Ökologie in Agrarsystemen – der Podcast «FiBL Focus» des Forschungsinstituts für biologischen Landbau FiBL thematisiert die Landwirtschaft im Kontext von Tier- und Umweltschutz. Im Gespräch mit Expertinnen und Experten gehen die vier Macherinnen des Podcasts entscheidenden und teils pikanten Fragen nach: Inwiefern etwa übernutzen wir die natürlichen Ressourcen? Sollte die konventionelle Landwirtschaft ein schlechtes Gewissen haben, weil sie mit synthetischen Pestiziden arbeitet? Wie lässt sich in der Ausbildung ein Verständnis dafür vermitteln, wie die Ernährung die Umwelt prägt? Alle zwei Wochen gibt’s eine neue Folge. bit.ly/3YxqsUK

BUCH

«Das Verschwinden der Nacht. Wie künstliches Licht die uralten Rhythmen unserer Umwelt zerstört»

Vom Verschwinden der Nacht

ERLEBEN

ISBN: 978-3-426-27882-6

CHF 30.50

Unser künstliches Licht ist für viele nachtaktive Tiere ein Problem, denn alle Rhythmen der Natur sind in irgendeiner Weise abhängig vom Wechsel zwischen Tag und Nacht. Fällt dieser Wechsel durch künstliche Helligkeit weg, hat das Folgen: Vögel singen mitten in der Nacht, Zugvögel verirren sich, Nachtfalter umschwirren Strassenlaternen, statt nachtblühende Gewächse zu befruchten. Diese Spannung zwischen unserem Bedürfnis nach Licht und dem Bedürfnis der Natur nach Dunkelheit thematisiert das Buch von Johan Eklöf, Zoologe und Professor an der Universität Stockholm. Es bietet einen Blick hinter die Kulissen des tierischen Nachtlebens und nimmt die Leserinnen und Leser mit zu einsamen Gewässern, in Wälder und Wüsten und sogar auf Friedhöfe. Seine Geschichten handeln vom nächtlichen Ballett der Fledermäuse, dem Hochzeitsgesang der Uhus und vielen weiteren Wildtieren, die auf die Dunkelheit angewiesen sind. So hilft das Buch dabei, das nächtliche Leben besser zu verstehen, um es schliesslich besser schützen zu können.

Alles neu im Nationalpark Ungewohnte Perspektiven, Momentaufnahmen aus den wildesten Ecken des Parks und entfesselte Naturprozesse –dies und mehr erwartet Besuchende des Nationalparkzentrums in Zernez, das kürzlich neu inszeniert wurde. Besuchende können selbst experimentieren und erhalten so Einblicke in Forschungsprojekte. Wie etwa beeinflussen Tiere die Pflanzenwelt? Wie hat sich das Klima verändert und was heisst das für die Lebewesen im Park? Was könnte sich mit der Rückkehr der grossen Raubvögel verändern? Die Frage, wie sich Wildnis entwickelt, zieht sich als roter Faden durch die gesamte Ausstellung. Neugierig geworden? Ein Besuch lohnt sich bestimmt.

bit.ly/3s34nRE

PODCAST
Annette Kehnel, Blessing Verlag Johan Eklöf, Droemer/Knaur
6 DIE UMWELT 3-23 T I pp S 360°

popcorn und seine zwei Schwestern Dieser ungewöhnliche Name beschreibt nicht etwa einen Film, sondern ein Unterrichtsmodul: Der Mais (das Popcorn) führt mit seinen zwei Schwestern, Kürbis und Bohne, Kinder der 3. bis 6. Schulstufe durch das Thema globale und klimafreundliche Ernährung. Die Schülerinnen und Schüler erforschen, was Maispflanzen zum Wachsen brauchen, entwickeln eine Verkaufsstrategie für ihr eigenes Popcorn, decken Ursachen für Hunger auf und züchten selbst Gemüse. Der praktische Modulkoffer der Umweltagentur Ecoviva enthält dazu pädagogisches Material inklusive Spiele, Bilder und Videos für ein ganzes Jahr. Und fördert so ein vernetztes Denken rund um nachhaltiges, faires Essen. popcornmodul.ch

Unsere Bestäuber sinnvoll schützen Wild- und Honigbienen sind wichtige Bestäuber und damit entscheidend für die bedrohte Artenvielfalt. Dass sie selbst zunehmend ihre Lebensgrundlage verlieren, ist den meisten Menschen bewusst – aber was kann man konkret dagegen tun? Das weiss der Imkerverband Bienen Schweiz: In diversen Kursen befähigt er Interessierte dazu, den eigenen Garten sowohl mit sinnvollen Nahrungspflanzen als auch mit Nistgelegenheiten wie Sandgruben zu bereichern. Damit sollen sie die Lebensgrundlage der über 600 Wildbienenarten nachhaltig verbessern. Die Kurse sind nicht nur für Privatpersonen interessant, sondern auch für Fachleute, die sich beruflich mit Grünflächen beschäftigen oder öffentliche Gärten und Parks unterhalten. bienen.ch/bienenschutz

Damit partizipation nicht zur Worthülse wird

Die Bevölkerung will und muss mitreden, wenn es um die Gestaltung einer nachhaltigeren Zukunft geht –sei es, wie sie ihr Quartier nutzt, welche Infrastruktur allen dient oder wie ein Areal umgestaltet werden soll. Immer häufiger verlangen Entscheidungen über die Nutzung von öffentlichem Raum einen partizipativen Ansatz. Doch Partizipationsprozesse müssen gelernt sein, um wirklich einen Unterschied zu machen. In einem zweitägigen Kurs vermittelt die Sanu Future Learning AG deshalb Führungskräften, Projektverantwortlichen und Behörden, wie sie konkrete Ziele für partizipative Prozesse formulieren, die relevanten Akteure einbeziehen und die geeigneten Methoden finden – Schritt für Schritt und anhand konkreter Fallbeispiele. sanu.ch/MTPA-DE

THE JOB

Solarinstallateurin und Solarmonteur

Damit rasch immer mehr Solaranlagen auf Schweizer Dächer kommen, hat der Fachverband für Sonnenenergie Swissolar zwei Ausbildungen lanciert, die zukünftigen Fachleuten, die die Energiewende vorantreiben möchten, alle notwendigen Kompetenzen vermitteln. Neu wird eine dreijährige Lehre als Solarinstallateur/in EFZ angeboten sowie eine zweijährige Lehre als Solarmonteur/in, die in Zusammenarbeit mit dem Bildungszentrum für Bauberufe Polybau durchgeführt wird.

Online in die Kreislaufwirtschaft Ressourcenknappheit beschäftigt Unternehmen immer mehr, doch der Weg in die Kreislaufwirtschaft kann steinig sein. Mit dem Kursprogramm namens Shape the Circle hat die Firma Eartheffect ein Angebot entwickelt, das möglichst alle Mitarbeitenden einer Organisation in die zirkuläre Zukunft mitnimmt. Denn die Onlinetrainings zu Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft kann man unabhängig von Zeit und Ort im eigenen Tempo absolvieren. So eignen sich alle dasselbe Basiswissen an, während der Arbeitgeber als Bestandteil der Kurse individuelle Verbesserungsvorschläge sammelt. In Vertiefungskursen zu Ökobilanz oder Energie lernen Mitarbeitende, Handlungsempfehlungen zu entwickeln und die firmeneigene Kreislaufwirtschaft einzuleiten. courses.shapethecircle.com

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Über Solothurn hinaus

Durch die romantische Altstadt, die verträumte Verenaschlucht und schliesslich durch Wald und Weiden hinauf auf den Weissenstein: Die Wanderung auf den Solothurner Hausberg lockt mit abwechslungsreichen Landschaften und einem herrlichen Blick auf die Alpenkette.

Schon von Weitem sieht man ihn aufragen, den Weissenstein, der majestätisch über Solothurn thront. Wer den 1395 Meter hohen Hausberg der ehemaligen Ambassadorenstadt erklimmt, legt auf rund 12 Kilometern etwa 1000 Höhenmeter zurück. Die Wanderung dauert rund viereinhalb Stunden und erfordert keine besondere Ausrüstung, aber eine gute Kondition.

Ausgangspunkt ist der Bahnhof von Solothurn. Der Weg führt zunächst über die Aare in die Altstadt. Am rechter Hand gelegenen Naturmuseum vorbei gelangt man direkt zur St Ursen-Kathedrale, einem Juwel

barocker Baukunst. Von dort geht es nach rechts bergauf zum Baseltor. Beim Kreisel gleich ausserhalb der historischen Stadtbefestigung biegt der Weg nach links ab und führt durch ruhige Wohnquartiere bis zum Waldrand.

Ab hier folgt man den Wegweisern zur Verenaschlucht. Dem Bach entlang führt der Pfad vorbei an der Einsiedelei St. Verena, wo noch heute ein Eremit lebt. Die Kapellen und Grotten können besichtigt werden. Am oberen Ende der Schlucht verlässt man den Wald und durchquert das Dorf Rüttenen bis zum Fuss des Berges, wo der eigentliche Aufstieg beginnt. Ab hier

herrscht eine andere Atmosphäre: Der Wanderweg führt durch den fein duftenden Tannenwald und windet sich bald in Serpentinen bergauf. Rasch gewinnt man an Höhe. An den steilsten Abschnitten sorgen Stufen im Fels für einen sicheren Tritt. Immer wieder laden Bänke am Wegrand zum Verschnaufen ein und dazu, die Aussicht über das Mittelland zu geniessen.

Nach dem steilsten Abschnitt überquert man die grünen Weiden des Nesselbodens, wo sich auch die Mittelstation der Seilbahn befindet. Danach führt der Weg nochmals rund zwei Kilometer durch den Wald bergauf zum Kurhaus Weissenstein. Als Belohnung für die Anstrengung eröffnet sich ein überwältigender Ausblick über das Mittelland und auf die Alpen vom Säntis bis zum Mont Blanc. Von hier aus sind es noch rund 1,5 Kilometer bis auf die Röti, den mit 1395 Metern höchsten Punkt des Weissensteinrückens.

Talwärts nach Oberdorf geht es entweder in etwa zehn Minuten mit der Seilbahn oder aber zu Fuss den gelben Wegweisern nach. Ab Oberdorf fahren Züge und Busse zurück zum Bahnhof Solothurn. Wer noch nicht müde ist, schafft es in einer guten Stunde auch zu Fuss.

TEXT: AUDREY MAGAT
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B JURAGARTEN

UND pLANETENWEG

Direkt unterhalb des Kurhauses Weissenstein liegt der frei zugängliche Juragarten, in dem über 200 für die Region typische Pflanzenarten gedeihen. Unweit von hier lädt der rund zwölf Kilometer lange Planetenweg zur Erkundung des Sonnensystems ein: Ein Kilometer des Lehrpfads entspricht einer Milliarde Kilometer im All.

A GESCHÜTZTES

HERMELIN

Der Weissenstein grenzt an den Regionalen Naturpark Thal. Seit 2016 ist der Schutz seltener Arten ein prioritäres Ziel dieses Parks. Dazu werden insbesondere die Lebensräume des Hermelins, des Wiesels und des Iltis aufgewertet. Auch das BAFU fördert die Vernetzung der Lebensräume von Wildtieren, damit sich diese grossräumig bewegen können.

pRAKTISCHE INFOS

Ab dem Bahnhof Solothurn ist der Weg auf den Weissenstein mit gelben Wanderwegweisern ausgeschildert. Wer sich den Aufstieg sparen möchte, kann mit der Seilbahn auf den Weissenstein fahren. Diese ist rollstuhlgängig und täglich von 8.30 bis 17.30 Uhr in Betrieb (ausser bei Sturm). Die Talstation liegt nahe des Bahnhofs Oberdorf an der Linie Solothurn–Moutier. Von hier verkehren auch Busse nach Solothurn.

Scannen Sie den Code, um den Streckenverlauf und die GPSKoordinaten zu erhalten.

B A Dauer 4,5 Stunden Länge 12 Kilometer Schwierigkeit Hoch Höhenunterschied 1100 Meter
SOLOTHURN
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«Wer sich ökologisch verhält, wird belohnt»

Spiele verändern unser Bewusstsein und stellen uns Handlungsoptionen zur Verfügung, sagt Dominik Rinnhofer, Professor für Gamedesign. Das gilt auch für Games, die unseren Einfluss auf die Umwelt sicht- und erlebbar machen. Was Rinnhofer noch fehlt, sind Spiele, die eine gesamtheitliche Sicht vermitteln.

INTERVIEW: ORI SCHIPPER

Dominik Rinnhofer, in Ihrem Forschungsprojekt namens Eco Games befassen Sie sich mit der Frage, wie Spiele zu gestalten sind, damit sie einen Impact haben, also einen Einfluss auf die Spielenden. Wie können sich Games auf uns auswirken?

Wenn wir spielen, beteiligen wir uns aktiv am Geschehen. Und wir speichern die Handlungen, die wir dabei vornehmen, als Optionen ab. Je stärker wir in das Spiel eingebunden sind, desto tiefer prägen sich uns die Handlungsoptionen ein. Und desto leichter können wir später auf sie zurückgreifen.

Also beeinflussen Spiele tatsächlich unser Leben?

Spiele verändern unser Bewusstsein – und sie können unsere Handlungen beeinflussen, zum Guten wie zum Schlechten. Das ist durch mehrere Studien gut belegt. So hat etwa eine Untersuchung aus den USA drei Gruppen von Biologiestudentinnen und -studenten miteinander verglichen. Alle hatten sich physiologisches Wissen anzueignen, also zum Beispiel welche Organe für welche biologische

Funktion zuständig sind – die einen mit Lesen, die anderen mit Videos anschauen und die dritten mit Spielen. Die Gruppe, die gespielt hat, hat bei der Abfrage Wochen später deutlich besser abgeschnitten. Aber so wie uns Shooter-Games nicht automatisch zu Serienmördern machen, verwandelt uns ein Mülltrennungsspiel nicht automatisch in konsequente Mülltrenner. Beim Spielen können wir ein Verhalten einüben. Aber was wir dann im echten Leben tun, wird von unseren moralisch-ethischen Werten gesteuert.

Gewisse Games haben das Ziel, komplexe ökologische Zusammenhänge zu vermitteln. Geht das überhaupt?

Ja, in Spielen lassen sich Abhängigkeiten besser darstellen als in anderen Medien, weil man Wege mehrfach gehen kann und so auch die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen nachvollziehen kann. Auch «Balance of the Planet», eines der ersten Eco Games, war schon so ausgelegt. Darin muss ich als Weltpolitiker dafür sorgen, dass die Erde für die Menschheit bewohnbar bleibt. Allerdings ist

das Spiel so gestrickt, dass ich dieses Ziel kaum erreichen kann. Diese Spielmechanik ist wissenschaftlich fundiert, denn unser Planet befindet sich in einem kritischen Zustand. Und auch als allmächtiger Welt politiker hat man nur begrenzte Optionen, um aus dieser misslichen Lage herauszukommen.

Ist das nicht frustrierend? Man sollte doch positive Beispiele zeigen. Natürlich ist dieses Scheitern auch im Spiel mit Frust verbunden, aber im Unterschied zur Realität kann ich die Simulation jederzeit nochmals starten und erneut mein Glück versuchen. Das Spiel zeigt zudem, wie alles miteinander in Verbindung steht: Wenn ich zum Beispiel Wald abholze, um mit einem höheren Getreideangebot den Hunger zu stillen, sinken dadurch auch meine Biodiversitätswerte, was den Ausbruch von Krankheiten wahrscheinlicher macht.

Seit wann gibt es solche Eco Games? Schon seit über 40 Jahren. «Balance of the Planet» ist zum Beispiel in den späten 1980er-Jahren entstanden.

SCHLAUES GAMEDESIGN
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Nimmt die Bedeutung dieser Spielsparte im Gaming-Markt zu?

Im Vergleich zu früher gibt es heute mehr unabhängige Spiele-Entwickler –und mit dieser grösseren Diversität an Spielen gibt es wohl auch mehr Eco Games. Insgesamt stellen sie aber immer noch nur eine Nische auf dem gesamten Spielemarkt dar. Dieser Markt ist in den letzten Jahren allerdings unglaublich divers geworden. Vom Umsatz her dominieren nur einige wenige BlockbusterSpiele, doch daneben gibt es eine Unmenge Games zu jedem erdenklichen Thema. Dabei kann man auch in vielen Spielen, die nicht als Eco Games deklariert sind, Umweltthemen identifizieren. In Aufbauspielen wie etwa «Minecraft» zum Beispiel werden Ressourcen abgebaut und ausgebeutet. Allerdings wachsen sie ständig nach – und verleiten deshalb nicht zu einem sparsamen Umgang. Das ist bei klassischen Eco Games wie «Eco», das 2018 veröffentlicht wurde, anders. Auch dort baut man sich seine eigene Welt, aber die Ressourcen sind endlich. Und wer sich ökologisch und kooperativ verhält, wird belohnt.

DOMINIK RINNHOFER hat Medienkunst und Bühnenbild studiert, bevor er sich mit seiner interaktiven Computerkunst an internationalen Opern- und Theaterprojekten beteiligt und mit einer eigenen Agentur verschiedene Erklärspiele oder «Serious Games» für Museen und Ausstellungen erstellt hat. Seit 2018 unterrichtet er Gamedesign an der Macromedia Hochschule in Stuttgart. Sein liebstes Spiel seit seiner Kindheit ist das Brettspiel Malefiz. Das Computergame «Red Dead Redemption II» hingegen half ihm, «wohlbehalten durch den Covid-Lockdown zu kommen».

davon gibt es auch eine ganze Bandbreite von analogen Eco Games, wie etwa das Kartenspiel «Fix the world». Hier kriegt man ökologische Probleme vorgelegt, die man in der Runde dann argumentativ lösen muss. In welche Richtung entwickeln sich die Eco Games weiter?

Ich beobachte, dass es immer mehr Spiele gibt, in denen nicht Menschen, sondern zum Beispiel Tiere im Zentrum stehen. Füchse sind sehr beliebt, aber auch andere Tiere, etwa solche, die vom Aussterben bedroht sind und für das Überleben ihrer Nachkommen sorgen müssen. Ich finde diesen Wechsel in die Perspektive anderer Lebewesen spannend, denn er könnte in Zukunft dazu beitragen, dass Spiele vermehrt eine gesamtheitliche Sicht vermitteln und auf Konzepten wie etwa der GaiaHypothese aufbauen, wonach das Leben nicht nur auf, sondern zusammen mit dem Planeten Erde existiert.

Richten sich Eco Games vor allem an Kinder?

Computergames werden längst nicht mehr nur von Kindern und Jugendlichen genutzt. Das Durchschnittsalter von Spielerinnen und Spielern in Deutschland beträgt 37 Jahre. Und Umfragen zeigen, dass mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung regelmässig spielt.

Wie steht es um die Nachhaltigkeit von Eco Games? Für die Herstellung von Hardware benötigt man seltene Erdmetalle, Cloud- und StreamingDienste verschlingen Unmengen an Energie.

Das ist ein schwieriges Thema. Das Mineral Coltan in den Play-Stations wird in zentralafrikanischen Minen teilweise von Kindern geschürft. Wenn man die Überlegungen zur Nachhaltigkeit enger fasst, spielen auch der Energieverbrauch und die Vertriebswege eine Rolle, also ob ein Game etwa in der Cloud gerechnet und gespielt oder zum Beispiel auf Blu-ray Discs verkauft wird. Da bewegt sich etwas in der Branche und zusehends beschäftigen sich auch SpieleEntwickler, die nicht an Eco Games arbeiten, mit solchen Fragen. Abgesehen

ECO GAMES AUS DER SCHWEIZ

Auch hierzulande entstehen Spiele, die mittels interaktiver Simulation zeigen, welchen Einfluss Entscheidungen auf die Umwelt haben können. So gilt es zum Beispiel in «MurGame» ein Bergdorf zu bauen und es mit verschiedenen Schutzmassnahmen gegen Schlammlawinen abzusichern. Das Game wird als interaktives Element bei Ausstellungen, aber auch bei Schulungen eingesetzt. «Das Ziel ist, Fachpersonen für das Risiko von Murgängen zu sensibilisieren – und letztlich eine Verhaltensänderung herbeizuführen», sagt Ralf Mauerhofer von der Gameschmiede Koboldgames, die das Spiel in Zusammenarbeit mit dem geowissenschaftlichen Büro geo7 und dem Schweizerischen Institut für Schneeund Lawinenforschung entwickelt hat. murgame.ch

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LINK ZUM ARTIKEL bafu.admin.ch/magazin2023-3-01

SCHÜTZENSWERT

INFOGRAFIKEN: AURÉLIEN BARRELET/LARGE NETWORK

FOCUS
12 FOCUS

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Schaumteppiche auf Seen und Flüssen – das gehört der Vergangenheit an. Heute können wir in den allermeisten Schweizer Gewässern bedenkenlos baden. Dass sich die Wasserqualität in den vergangenen Jahrzehnten stark verbessert hat, ist dem Gewässerschutz zu verdanken.

Doch trotz der Fortschritte sind intakte Gewässer immer noch nicht die Regel: Die meisten Schweizer Flüsse und Seen sind kanalisiert, künstlich angelegt oder durch die Nutzung der Wasserkraft beeinträchtigt. Für Tier- und Pflanzenarten, die an oder in Gewässern leben, ist dies eine Bedrohung. Darum hat man im Jahr 2011 die Renaturierung von Gewässerabschnitten als Auftrag in der Gewässerschutzgesetzgebung verankert. Seither werden Flüsse und Bäche revitalisiert, Gewässer erhalten mehr Raum und die negativen Auswirkungen der Wasserkraft werden gemindert.

GEWÄSSER IM KLIMAWANDEL

Der Wasserkreislauf und wie er sich entwickelt

FISCHE SCHÜTZEN

Die Bewohner unserer Gewässer können Hilfe gebrauchen

UNSER GRUNDWASSER

Sauberes Trinkwasser: weniger selbstverständlich, als wir denken

SCHADSTOFFE AUS DER INDUSTRIE Industrieabwässer zu reinigen ist eine Herausforderung

Was die Qualität des Wassers selbst angeht, kann der Schein trügen: Auch wenn Wasser klar aussieht und freundlich in der Sonne glitzert, muss es nicht unbedingt sauber sein. So enthalten unsere Gewässer Rückstände von zahlreichen Substanzen aus Haushalten und der Industrie – vielerorts in Mengen über den festgelegten Grenzwerten. Dies bedroht die Tier- und Pflanzenwelt und übt zunehmend Druck auf die Trinkwasserversorgung aus.

Dank nationalen und kantonalen Monitoringprogrammen und wissenschaftlichen Untersuchungen kennen wir indessen den Zustand unserer Gewässer. Wir wissen, welche Flüsse, Seen und Grundwasservorkommen mit Schadstoffen belastet sind und was wir tun müssen, um das zu beheben.

Und wir haben Methoden, um den Gewässerzustand zu verbessern, angefangen bei der Optimierung der Abwasserreinigungsanlagen über Revitalisierungen bis zur Vernetzung von Gewässerabschnitten. Doch die Umsetzung all dieser Massnahmen braucht Zeit – das ist eine Aufgabe für mehrere Generationen. In diesem Focus zeigen wir, was im Gewässerschutz bereits erreicht ist und was noch zu tun bleibt.

Tatsache ist aber: Gesetzliche Bestimmungen und Massnahmen der Bundesbehörden allein reichen nicht. Es braucht das Engagement aller Akteurinnen und Akteure – etwa in der Landwirtschaft und der Wasserwirtschaft –und das der Bevölkerung.

WASSER
UNSER
13 DIE UMWELT 3-23 FOCUS

DER WASSERKREISLAUF

Wasser und Gewässer in der Schweiz –unter Druck durch den Klimawandel. Beispiele.

Gletscherschmelze

Im Winter lagern die Gletscher Schnee ein, der dann im Sommer und im Herbst wieder schmilzt und die Flüsse speist. Dieser Kreislauf gerät durch die Klimaerwärmung ins Wanken, weil die Gletscher immer mehr schrumpfen.

Schneeschmelze Flüsse und Bäche werden hauptsächlich durch die Schneeschmelze gespeist. Nur: Durch den Klimawandel fällt immer weniger Schnee.

DAS WASSERSCHLOSS EUROPAS

Die Schweiz gehört in Europa zu den wasserreichsten Ländern und ist das Zentrum des europäischen Gewässernetzes. So entspringen der Rhein und die Rhone in den Alpen und durchfliessen vor anderen Ländern zunächst die Schweiz. Auch der Po und die Donau haben ihre Quellen in den Alpen. Die Entwicklung der Gewässer in der Schweiz beeinflusst darum auch die Länder flussabwärts.

Die Quelle der Rhone

Die Rheinquelle

Rhonegletscher | VS Höhe: 2250 m Tomasee | GR Höhe: 2345 m
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1 14 DIE UMWELT 3-23 FOCUS

Das Gesamtvolumen der Wasserreserven in der Schweiz. Es umfasst die natürlichen Seen, Stauseen, Gletscher und das Grundwasser.

Niederschläge

Nicht nur die Niederschlagsmengen, sondern vor allem ihre Verteilung über das Jahr hinweg sind entscheidend. In den letzten Jahren sind in der Schweiz jedoch vor allem Starkniederschläge im Winter häufiger geworden. Dagegen fällt weniger Schnee.

Verdunstung

Wasser verdunstet aus feuchten Böden und von den Oberflächen von Pflanzen. Das hat einen kühlenden Effekt und mindert so den Temperaturanstieg, etwa bei Hitzewellen.

Nebenfluss

Ein Wasserlauf, der in ein anderes, normalerweise grösseres Fliessgewässer mündet.

Abflussmenge

Grundwasser

150 Kubikkilometer Wasser: Das Grundwasser im Untergrund bildet zusammen mit den Seen das grösste Wasserreservoir der Schweiz. Die Grundwasserressourcen sind allerdings räumlich ungleich verteilt. Deshalb kommt es schon heute lokal zu Wasserknappheit. Diese Tendenz wird durch den Klimawandel zunehmen.

Die Menge Wasser, die an der Erdoberfläche in Bächen und Flüssen abfliesst. Die Abflussmenge ist abhängig vom Niederschlag, von der Verdunstung und von der Versickerung von Wasser in den Boden.

Stausee

Ein künstlicher See, der sich hinter einem Staudamm bildet.

Oberflächenabfluss Entsteht, wenn der Boden bei starken Niederschlägen nicht mehr in der Lage ist, die grossen Wassermengen aufzunehmen.

Verdunstungskühlung Wenn flüssiges Wasser durch Verdunsten gasförmig wird, kühlt dies die Umgebung.

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LEXIKON WASSER
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3 15 DIE UMWELT 3-23 FOCUS

Sie wünschen sich

mehr Bescheidenheit –dem Wasser zuliebe

Ihr Berufsalltag dreht sich um den Schutz und die nachhaltige Nutzung des Wassers: Auf einem Spaziergang entlang des Murtensees sprechen Stephan Müller, Abteilungschef Wasser beim BAFU, und Christophe Joerin, Präsident des Netzwerks Wasser Agenda 21, über die Belastung der Gewässer durch Nährstoffe aus der Landwirtschaft, Revitalisierungsmassnahmen und invasive Arten.

INTERVIEW: LISA STALDER

BILDER: MARION NITSCH/LUNAX

Wir stehen hier am Hafen von Murten. Woran denken Sie als Erstes, wenn Sie auf den Murtensee blicken?

Christophe Joerin: Mit dem See verbinde ich Ruhe, Offenheit und Freiheit.

Stephan Müller: Ich denke dabei an den Sandstrand von Salavaux, den ich früher mit meiner Familie regelmässig besucht habe. Aber auch an die Ingenieurskunst von früher, die es möglich gemacht hat, die Aare umzuleiten und den Bielersee, den Neuenburgersee und den Murtensee miteinander zu verbinden.

Unsere Gewässer übernehmen viele Funktionen: Sie sind Lebensraum für Tiere und pflanzen, werden für die Bewässerung in der Landwirtschaft und in unseren Gärten genutzt, dienen als Erholungsraum und liefern erneuerbare Energie. Tragen wir genügend Sorge dazu?

SM: Wir schauen hierzulande gut zu unseren Gewässern. In den letzten Jahrzehnten haben die Behörden viel

unternommen, um sie zu schützen und die Wasserqualität zu verbessern. Vieles hat sich dadurch positiv verändert. Leider befindet sich aber die Biodiversität weiterhin in einem kritischen Zustand, hier braucht es weitere Anstrengungen. Wir müssen schauen, dass wir die Gewässer auch weiterhin nutzen und geniessen können.

CJ: Wir haben bereits viele gute Instrumente, um zu unseren Gewässern Sorge zu tragen. Ich denke da an das revidierte Gewässerschutzgesetz von 2011, das die Kantone dazu verpflichtet, einen Teil der begradigten oder verbauten Gewässer wieder in einen naturnahen Zustand zu bringen. Die Werkzeuge und die Gelder, um entsprechende Massnahmen umzusetzen, sind vorhanden. Gleichzeitig kommen aber ständig neue Herausforderungen auf uns zu. So wächst beispielsweise der Druck, die Wasserkraftproduktion zu erhöhen. Und da ist natürlich der Klimawandel, der unsere Gewässer bedroht.

Eine Herausforderung sind auch Chemikalien und Nährstoffe, die in unsere Gewässer gelangen. Gerade im Murtensee ist die phosphorkonzentration hoch, der Sauerstoffgehalt hingegen tief. Gehen Sie jeweils mit einem guten Gefühl im See baden?

CJ: Für uns Menschen besteht keine Gefahr. Mehr Sorgen mache ich mir um die aquatische Flora und Fauna. Die Lebewesen im See brauchen genügend Sauerstoff, um sich entwickeln zu können.

SM: Ja, die Qualität des Wassers ist gut genug, dass man bedenkenlos darin baden kann. Noch in den 1960er-Jahren waren schäumende Bäche und Badeverbote in Seen an der Tagesordnung. Die Siedlungsentwässerung und der Bau von Kläranlagen haben die Wasserqualität massiv verbessert. Aber es ist richtig, dass über die Hälfte der grossen Schweizer Seen wegen des Phosphors noch immer zu wenig Sauerstoff hat. Der Murtensee ist da keine Ausnahme.

GEWÄSSER UNTER DRUCK
16 DIE UMWELT 3-23 FOCUS

Wie geht es unseren Seen und wie können wir ihnen helfen?

(links)

17 DIE UMWELT 3-23 FOCUS
Christophe Joerin und Stephan Müller im Gespräch am Hafen von Murten.

Der Baldeggersee und der Sempachersee müssen künstlich belüftet werden, beim Zugersee wird über eine solche Massnahme nachgedacht.

CJ: Um die Menge an Phosphor zu reduzieren, muss das Problem aber an der Wurzel angegangen werden.

Ein Grossteil des Phosphors stammt aus der Landwirtschaft. Es müsste gelingen, die Emissionen aus der Landwirtschaft zu verringern. Allerdings ist das nicht ganz einfach, da wir hier von einem riesigen Einzugsgebiet sprechen und die Koordination der verschiedenen Akteure komplex ist.

Nicht nur Nährstoffe und Mikroverunreinigungen belasten unsere Gewässer, auch invasive gebietsfremde Arten setzen ihnen zu, aktuell zum Beispiel die Quaggamuschel, die sich auch hier im Murtensee ausbreitet. Warum ist das ein problem?

CJ: Die Quaggamuschel verbreitet sich schnell, kann bis in grosse Tiefen vordringen und verändert so den Lebensraum. Sie filtert Nähr stoffe aus dem Wasser, die dann anderen Lebewesen fehlen.

Ein weiteres Problem ist, dass diese Muscheln die Infrastruktur beschädigen. Muschelkolonien verstopfen die Leitungen, die wir zur Wasserentnahme benötigen, oder sie setzen sich an Sieben fest. Es muss viel Geld investiert werden, um sie zu beseitigen oder die Geräte zu ersetzen.

SM: Ich kann mich dem nur anschliessen. Auf einen Punkt möchte ich aber noch hinweisen: Derzeit wird viel über die Quaggamuschel gesprochen, aber es gibt hierzulande noch viele weitere gebietsfremde Arten. Bei den Fischen wurde einst der Stichling eingeführt, der nun die Felchen unter Druck setzt. Es stellt sich die Frage: Pendelt sich das ein oder nehmen diese invasiven gebietsfremden Arten Überhand?

Lohnt es sich etwa gar nicht, gegen solche Arten vorzugehen?

SM: Es gibt Massnahmen, die sinnvoll sind. Boote und Taucheranzüge sollten immer gereinigt werden, man kann auch versuchen, kleinere Gewässer zu schützen. Aber invasive gebietsfremde Arten wie die Quaggamuschel, der Stichling oder auch die grundel lassen

Auch dem Murtensee und seinen Bewohnern setzen eine zu hohe Phosphorkonzentration und ein Mangel an Sauerstoff im Wasser zu.

sich nicht mehr eliminieren. Wichtig ist, dass verschiedene Lebensräume zur Verfügung stehen, wo sich jene Arten, die unter Druck geraten sind, zurückziehen und Schutz suchen können. Und je vielfältiger der Uferraum, desto grösser ist die Chance, dass Krebse, Fische und andere Lebewesen eine Umgebung vorfinden, in der sie sich entwickeln können.

Während Seeufer früher verbaut und Flüsse begradigt wurden, hat man in den letzten Jahren Seeund Flussufer revitalisiert. Haben sich diese Massnahmen bewährt?

CJ: Ja, das Revitalisierungsprogramm ist absolut entscheidend für den Gewässerschutz. Indem Gewässer wieder in einen naturnahen Zustand gebracht werden, nimmt die Biodiversität zu und die ökologischen Funktionen werden erneuert.

In den letzten Jahren erlebten wir Überschwemmungen, überdurchschnittlich hohe Wassertemperaturen und grosse Trockenheit. Welche Auswirkungen hat der Klimawandel auf unsere Gewässer?

18 DIE UMWELT 3-23 FOCUS

CJ: Vor allem steigt der Druck auf Wasserpflanzen und -tiere. Gerade für Fische können hohe Wassertemperaturen zur Gefahr werden. Für die Forelle oder die Äsche bedeuten Temperaturen von über 23 Grad Celsius Stress. Steigt die Temperatur auf 25 Grad, kann das für die Tiere tödlich sein. Wenn sich solche Extremereignisse regelmässig wiederholen, sind die Aussichten für diese Fischarten sehr besorgniserregend. Hier können Revitalisierungs- und Beschattungsmassnahmen der Gewässererwärmung teilweise entgegenwirken.

SM: Im Rhein bei Schaffhausen werden seit dem Hitzesommer 2003 regelmässig Gruben ausgebaggert, damit sich kühleres Grundwasser oder Wasser aus kühleren Zuflüssen sammeln kann und sich die Äschen dorthin zurückziehen können.

Wir versuchen, von fossilen Energieträgern wegzukommen und auf erneuerbare Energien wie Wasserkraft zu setzen. Aber durch Wasserkraftwerke werden Gewässer beeinträchtigt, Fischen wird die Wanderung zu ihren Laichplätzen erschwert. Wie lässt sich dieses

Dilemma lösen?

CJ: Wasserkraft ist nachhaltige Energie, aber sie ist nicht unbedingt komplett sauber. Das heisst, es ist wichtig, dass Mindeststandards eingehalten werden. Konkret: Es muss genügend Restwasser vorhanden sein, sodass die Fische in ihren Wanderungen nicht beeinträchtigt sind.

SM: Heute gibt es über 100 000 unpassierbare Schwellen. Damit sich die Fische in den Gewässern wieder ungehindert bewegen können, müssen die Schwellen umgebaut und die Staumauern der Wasserkraftwerke mit Fischtreppen ausgerüstet werden. Diese Hilfen müssen so angebracht sein, dass die Fische sie finden und auch nutzen können. Nur so ist es möglich, die Längsvernetzung der Gewässer wiederherzustellen. Per Gesetz sollten die Wasserkraftbetreiber bereits bis 2030 dafür sorgen. Das ist anspruchsvoll.

Letzte Frage: Was kann die Bevölkerung zum Gewässerschutz beitragen?

CJ: Bescheidenheit. Für den Schutz des Klimas und der Ressourcen wäre es sinnvoll, den Konsum zu reduzieren. Und zwar nicht nur den Wasserkonsum, sondern in jedem Bereich. So kann etwas Druck vom Wasser und anderen natürlichen Ressourcen genommen werden.

SM: Christophe bringt es auf den Punkt: weniger Putzmittel, weniger Food Waste, weniger Energieverbrauch. All das nimmt indirekt Druck weg von den Gewässern. ■

KONTAKT

Stefan Müller Abteilungschef Wasser, BAFU stephan.mueller@bafu.admin.ch

LINK ZUM ARTIKEL bafu.admin.ch/magazin2023-3-02

STEPHAN MÜLLER

stammt aus Thayngen im Kanton Schaffhausen und hat an der ETH Zürich in analytischer Chemie promoviert. Seit 2004 ist er Abteilungsleiter Wasser beim BAFU (bei seinem Stellenantritt noch Buwal).

Davor arbeitete Müller bei der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (EAWAG). Wasser begleitetet ihn auch in seiner Freizeit, der Rudersport Wasserfahren gehört zu seinen Hobbys.

Quaggamuscheln sehen zwar unscheinbar aus, aber die invasive Art richtet in Schweizer Seen ordentlich Schaden an.

CHRISTOPHE JOERIN kommt aus Freiburg und hat an der EPFL Lausanne Umweltwissenschaften studiert. Nach Abschluss seines Doktorats im Bereich Gewässer arbeitete er ab dem Jahr 2000 beim BAFU und wechselte 2008 zum Kanton Freiburg. Seit 2016 ist er Vorsteher des Amts für Umwelt des Kantons Freiburg. Zudem präsidiert er Wasser Agenda21, das Forum und Netzwerk der Akteure der Schweizer Wasserwirtschaft. Die Schweizer Gewässer kennt Joerin auch aus seinen Zeiten als begeisterter Triathlet.

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DIE FISCHE SIND BEDROHT

Von den 71 Fischarten,die in der Schweiz einmal heimisch waren, wurden 66 bewertet. Ihr Status:

VERLETZLICH: 16,6%

Zum Beispiel: Hundsbarbe (Barbus caninus)

pOTENZIELL GEFÄHRDET: 13,6%

Zum Beispiel: Bartgrundel (Barbatula barbatula)

STARK GEFÄHRDET: 12,1%

Zum Beispiel: Europäische Äsche (Thymallus thymallus) Früher kam die Äsche häufig vor, doch heute ist sie durch den Klimawandel und die Verbauung der Wasserläufe bedroht. Sie ernährt sich hauptsächlich von Insekten und lebt in schnell fliessenden, klaren, grossen Flüssen mit kiesigem Grund, deren Temperatur unter 20°C bleibt.

NICHT GEFÄHRDET: 21,2%

Zum Beispiel:

Wels (Silurus glanis)

Die einheimische Fischfauna wurde im «Projet Lac» umfassend erfasst. In dieser Bestandesaufnahme ermittelten Mitarbeitende des Wasserforschungsinstituts Eawag und der Universität Bern mit der Unterstützung des BAFU und mehrerer Kantone auch Schlüsselfaktoren für die Entwicklung dieser Artenvielfalt. Zudem arbeiteten sie eine Strategie für das Monitoring der Seen aus. Mit dem «Progetto Fiumi» lancierte man eine ähnliche Erhebung in Schweizer Fliessgewässern. Die Bewertung der Gefährdung stammt von der Publikation «Rote Liste der Fische und Rundmäuler» (Stand 2022).

Nur 14 der in der Schweiz heimischen Fischarten sind nicht bedroht. Darunter ist auch der Wels mit seinen charakteristischen Barteln, dessen Bestand sogar wächst. Er hat viele kleine Zähne und ernährt sich von Wirbellosen, Fischen und zum Teil von Fröschen oder jungen Wasservögeln. Aufgrund seines Aussehens und seiner Grösse – er kann über zwei Meter lang werden – weckt der Wels so manche Ängste und Fantastereien. Er ist aber ein feiner Speisefisch. Restaurants bereiten ihn etwa an Sauce Provençale, gegrillt oder pochiert zu.

In der Schweiz ausgestorben 9 Vom Aussterben bedroht 15 Stark gefährdet 8 Verletzlich 11 Potenziell gefährdet 9 Nicht gefährdet 14
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VOM AUSSTERBEN

BEDROHT: 22,7%

Zum Beispiel:

Europäischer Aal ( Anguilla anguilla) Vom Osten Floridas aus, wo die Aale geboren werden, müssen sie nach Europa und in die Schweiz reisen, das dauert bis zu drei Jahre. Hier verbringen sie dann mehrere Jahre, bevor sie sich auf den langen Weg zurück zur Sargassosee machen. Auf den Reisen orientieren sie sich unter anderem am Magnetfeld der Erde. Die Art ist europaweit vom Aussterben bedroht.

IN DER SCHWEIZ

AUSGESTORBEN: 13,6%

Zum Beispiel:

Féra (Coregonus fera)

Diese Felchenart war an den Ufern des Genfersees höchst geschätzt. Die Art ist heute ausgestorben, ebenso wie ein Drittel der 34 Felchenarten, die sich seit der letzten Eiszeit in der Schweiz entwickelt haben. Der Grund dafür sind die zu hohen Konzentrationen von Nährstoffen wie Phosphor und Stickstoff im Wasser (mehr zum Problem der Nährstoffanreicherung auf S. 24). Felchen sind in der Schweiz sehr beliebt. Der Name bezeichnet mehrere verschiedene Arten (siehe unten).

Féra

Coregonus fera

palée

Coregonus palaea

Bondelle

Coregonus candidus

Kropfer Coregonus profundus

Edelfisch

Coregonus nobilis

Fischreiche Überraschung

Vor drei Jahren haben Forschende sieben Felchenarten aufgespürt, die im Thunersee und im Brienzersee endemisch sind, also nur dort vorkommen. Überraschenderweise waren vier dieser Arten zuvor noch nie wissenschaftlich beschrieben worden und zwei davon entpuppten sich sogar als komplett neuentdeckte Arten. «Es ist ziemlich aussergewöhnlich, dass in einem so dicht besiedelten Land wie der Schweiz auch heute noch neue Arten entdeckt werden», sagt Carmela Dönz, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim BAFU und Mitglied des Projektteams, das die Entdeckung gemacht hat.

Quellen: OFEV, EAWAG, Le Monde
VERSCHIEDENE NAMEN FÜR VERSCHIEDENE FELCHENARTEN 1 2 3 4 5
4 5 1 3 2 21 DIE UMWELT 3-23 FOCUS

«Fische brauchen vielfältige Lebensräume»

Wie sehen eigentlich gute Fischlebensräume aus und was können wir tun, um diese zu fördern? Susanne Haertel-Borer, Chefin der Sektion Revitalisierung und Fischerei beim BAFU, gibt Auskunft.

INTERVIEW: ERIK FREUDENREICH

FÜR DIE WASSERBEWOHNER
22 DIE UMWELT 3-23 FOCUS

Susanne HaertelBorer leitet nicht nur die Sektion Revitalisierung und Fischerei beim BAFU, sondern ist auch in ihrer Freizeit eine versierte Fischerin. Im Bild ist sie beim Fliegenfischen im Norden Islands.

der Lebensräume und ihre Vernetzung wiederherzustellen. Ausserdem sind natürliche Lebensräume mit einer reichen Biodiversität widerstandsund anpassungsfähiger gegenüber Umweltveränderungen wie dem Klimawandel.

Lässt sich die Wirksamkeit solcher Massnahmen messen?

Ja, seit 2020 wird durch Wirkungskontrollen gemessen, wie Tiere und Pflanzen auf Revitalisierungen reagieren. Ein Beispiel: Fünf Jahre nach der Revitalisierung des Biberenbachs im Kanton Solothurn hat sich die Forellendichte verdreifacht. Auch auf die Wasserinsekten hatten die Massnahmen einen positiven Effekt. Doch nicht nur Wasserlebewesen profitieren von Revitalisierungen. Häufig beobachtet man auch eine erfreuliche Vielfalt an einheimischen Vogelarten rund um den revitalisierten Flussabschnitt.

Wie sieht es mit der Wiederansiedlung von Fischarten aus?

Welche Rolle spielt ein nachhaltiges Fischereimanagement?

Susanne Haertel-Borer, in jüngerer Zeit werden vermehrt Fluss- und Seeabschnitte renaturiert. Wie wirken sich solche projekte auf den Lebensraum von Fischen aus?

Renaturierungen verwandeln stark verbaute, eintönige Bäche, Flüsse und Ufer in dynamische und strukturreiche naturnahe Gewässer. Das ist wichtig, denn vielfältige Lebensräume sind eine Voraussetzung für die Artenvielfalt der Fische. Denn verschiedene Fischarten haben in ihren einzelnen Lebensstadien – vom Ei über die Larve bis zum ausgewachsenen Fisch – ganz unterschiedliche Ansprüche an ihre Umgebung. Deshalb ist es so wichtig, die Vielfalt

Diese Massnahme kann sehr zeitaufwändig sein. Und grundsätzlich gelingt sie nur in einem vernetzten und intakten Ökosystem, in dem alle Teillebensräume vorhanden sind, die die Fischart oder -gemeinschaft benötigt, und wo natürliche Prozesse stattfinden können. Beispiele für solche Prozesse sind die Überflutung bestehender oder wiederhergestellter Auen bei Frühlingshochwasser und die damit verbundene Schaffung von Biotopen für Jungfische. Diese Vorgänge muss man ganzheitlich innerhalb eines Ökosystems betrachten: Sie kommen nicht nur der Fischgemeinschaft, sondern auch vielen anderen Pflanzen- und Tierarten zugute. Ein Wiederansiedlungsprojekt hat nur Erfolgschancen, wenn gleichzeitig die Störfaktoren reduziert werden, die zum Aussterben einer Art geführt haben.

Eine grosse. Das Ziel des Fischereimanagements ist es, die Vielfalt der einheimischen Fisch- und Krebsarten zu erhalten, deren nachhaltige Nutzung zu gewährleisten und auch die Forschung zu Fischen und zur Fischerei zu fördern. Dabei streben wir eine nachhaltige Nutzung gesunder einheimischer Bestände an. Diese sollten genetisch an die lokale Umgebung angepasst sein, sich auf natürliche Weise fortpflanzen und sich in einem intakten Lebensraum entwickeln. All dies sorgt dafür, dass die Fischpopulationen langfristig erhalten bleiben. Eines der Instrumente des Fischereimanagements ist zum Beispiel die Festlegung eines Fangmindestmasses für jede befischte Art. Damit lässt sich sicherstellen, dass Jungfische nicht gefischt werden, bevor sie geschlechtsreif sind und die Möglichkeit hatten, sich fortzupflanzen. Ein weiteres Instrument ist die Schonzeit, in der das Fischen verboten ist. Diese gilt entweder vorübergehend während der Fortpflanzung einer Art oder dauerhaft bei vom Aussterben bedrohten oder stark gefährdeten Arten. ■

FAZIT

Fische brauchen geeignete Lebensräume, also dynamische und naturnahe Gewässer. Revitalisierungen stellen solche Lebensräume wieder her und vernetzen sie. Und: Nur vielfältige Lebensräume können eine grosse Anzahl von Fischen und anderen Wasserlebewesen beherbergen.

KONTAKT

Susanne Haertel-Borer Sektionschefin Revitalisierung und Fischerei, BAFU susanne.haertel-borer@bafu.admin.ch

LINK ZUM ARTIKEL bafu.admin.ch/magazin2023-3-03

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Viele Fischarten sind in Gefahr

Die Schweizer Seen und Flüsse sind Lebensraum für zahlreiche Fischarten. Davon sind jedoch viele bedroht, aufgrund der Aktivitäten von uns Menschen und deren Auswirkungen.

Für die Fische in der Schweiz sieht die Lage immer schlechter aus. Laut der neuen Roten Liste der gefährdeten Arten, die das BAFU kürzlich veröffentlicht hat, gelten nur 14 der 71 erfassten einheimischen Arten der Fische und Rundmäuler als nicht gefährdet. Neun Arten wurden als potenziell gefährdet eingestuft, elf als verletzlich und acht Arten sind stark gefährdet. 15 Arten sind akut vom Aussterben bedroht und neun sind in den letzten hundert Jahren in der Schweiz bereits ausgestorben. Nicht miteingerechnet sind hier die Felchen, die bei der Untersuchung noch nicht berücksichtigt wurden. Klar ist auch: Die Lage der Fische ist beispielhaft für alle Wasserlebewesen, die in der Schweiz zu den am stärksten gefährdeten Tierarten überhaupt gehören.

Neben Gewässerverbauungen und invasiven Arten sind die Fische in der Schweiz auch durch die Anreicherung von Nährstoffen in Gewässern, durch Mikroverunreinigungen und den Klimawandel gefährdet.

Nährstoffanreicherung

Der Gehalt von Nährstoffen wie Phosphor und Stickstoff ist in den Schweizer Gewässern laufend gestiegen. Das kann auf natürliche Weise geschehen, doch menschliche Eingriffe wie die intensive landwirtschaftliche Nutzung, die Siedlungsentwicklung und industrielle Tätigkeiten beschleunigen den Vorgang.

«Die zusätzlichen Nährstoffe führen zu einem übermässigen Wachstum von Wasserpflanzen wie Algen», erklärt

Pascal Mulattieri, Biologe und Präsident der Association pour la Sauvegarde du Léman (Verein für die Erhaltung des Genfersees). «Beim mikrobiellen Abbau dieser Pflanzen wird der Sauerstoff im Wasser verbraucht. So geht den Fischen am Seegrund dann buchstäblich die Luft aus.»

Weil einerseits die Abwasserreinigung ausgebaut wurde und andererseits Phosphat in Waschmitteln seit den 1980er-Jahren verboten ist, sank zumindest die Phosphorkonzentration in den meisten grossen Seen auf ein naturnahes Niveau. Dennoch ist der Sauerstoffgehalt in 60 Prozent der grossen Schweizer Seen tiefer als die für Fische kritische Mindestkonzentration von vier Milligramm pro Liter – oder wird nur mit künstlicher Sauerstoffzufuhr erreicht.

Klimawandel

Die Kombination aus immer heisseren Sommern und zunehmend milderen Wintern hat für Seen fatale Folgen: Sie stoppt die Durchmischung des Wassers, die dafür sorgt, dass der Sauerstoff in alle Schichten transportiert wird. «Der Genfersee beispielsweise wurde seit über zwölf Jahren nicht mehr vollständig durchmischt», sagt Mulattieri. «Die Fische versuchen zwar, sich anzupassen, aber einige Arten wie die Lachsartigen sind im Nachteil. Sie benötigen frisches, sauerstoffreiches Wasser, um überleben und sich fortpflanzen zu können.»

Zudem breiten sich bei höheren Wassertemperaturen bestimmte Erkrankungen schneller aus, etwa

die Proliferative Nierenkrankheit, bei der sich die Nieren der Fische vergrössern. «In erster Linie sind Lachsartige betroffen, also Forelle, Äsche, Seesaibling und Lachs. Aber auch andere Arten wie der Hecht können sich infizieren, wenn das Wasser über einen längeren Zeitraum über 20 Grad Celsius warm ist.»

Synthetische Substanzen

Mikroverunreinigungen wie Pestizide, Arzneimittel und weitere Chemikalien, die alle in sehr geringen Konzentrationen im Gewässer vorkommen, sowie Mikroplastik fallen laut dem Gewässerexperten Mulattieri immer stärker ins Gewicht – umso mehr, als jedes Jahr neue Substanzen auftauchen und so ein nicht kontrollierbarer «Cocktail-Effekt» entsteht.

Zudem hat sich die weltweite Produktion von Chemikalien seit 1950 um das Fünfzigfache erhöht – und dürfte sich bis 2050 weiter verdreifachen. «Derzeit gibt es mehr als 350 000 synthetische Chemikalien – oder Stoffgemische – auf dem Markt und nur ein Bruchteil davon wird hinsichtlich ihrer Umweltrisiken bewertet.»

FAZIT

Nährstoffanreicherung in Gewässern, steigende Temperaturen und Mikroverunreinigungen: All dies schadet den Fischen und gefährdet den Fortbestand zahlreicher Arten.

KONTAKT

Carmela Dönz, Sektion Revitalisierung und Fischerei, BAFU carmela.doenz@bafu.admin.ch

LINK ZUM ARTIKEL bafu.admin.ch/magazin2023-3-04

INTERNATIONALE

ZUSAMMENARBEIT

Die Schweiz engagiert sich in verschiedenen Programmen, um die Wasserqualität zu verbessern, Fliessgewässer zu renaturieren, naturbelassene Wasserläufe zu bewahren und Fischpopulationen zu schützen. Zudem laufen Bestrebungen, manche Arten wieder anzusiedeln, etwa den Lachs. Zudem arbeitet die Schweiz in mehreren überstaatlichen Gewässerschutzkommissionen mit Nachbarländern zusammen, etwa für den Schutz des Bodensees oder in der Internationalen Kommission zum Schutz des Rheins (IKSR), die die Fischgängigkeit von der Nordsee bis zum Rheinfall wiederherstellen will.

ARTENVIELFALT UNTER WASSER
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WASSER SCHÜTZEN

Für das Leben Wasser ist lebenswichtig: nicht nur für uns Menschen, sondern auch für Tiere und Pflanzen. Es ermöglicht etwa Zellfunktionen, transportiert Nährstoffe und schafft Lebensräume.

Für die Gesundheit

Ein Mensch sollte mindestens 1,5 Liter Wasser pro Tag trinken. Sonst drohen Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel oder verminderte Leistungsfähigkeit.

IST LEBENSWICHTIG

Für die Biodiversität Gewässer und ihre Ufer bieten vielfältige Lebensräume – etwa für Insekten, die sich sowohl im Wasser als auch an Land entwickeln und wichtige Glieder der Nahrungskette bilden.

Für Gesellschaft und Wirtschaft

In der Schweiz verbraucht eine Person jeden Tag durchschnittlich rund 170 Liter Wasser im Haushalt. Auch Wirtschaft, Freizeit und unser Energiebedarf beanspruchen täglich Wasser.

Für die Landwirtschaft Wasser ist unentbehrlich für die Nahrungsmittelproduktion. Wegen der Klimaerwärmung werden Landwirtinnen und Landwirte ihre Kulturen in Zukunft wassersparend bewässern müssen.

Für Wasserlebewesen Wasserpflanzen und Wassertiere wie Fische, Amphibien oder Flusskrebse benötigen eine angemessene Wasserqualität und -temperatur sowie naturnahe Gewässer, um zu überleben.

S. 28
DIE GRÖSSTEN HERAUSFORDERUNGEN Mikroverunreinigungen Verbauungen Klimaerwärmung Trockenheit Invasive Arten IM BILD DIE UMWELT 3-23 HERAUSNEHMBARES BLATT
WASSER

ZIELKONFLIKT WASSERKRAFT

CHANCEN RISIKEN

potenzial und Bedeutung

In der Schweiz ist das Potenzial für Wasserkraft beinahe ausgeschöpft: 95 Prozent der geeigneten Flüsse und Bäche werden bereits für die Stromproduktion genutzt. Diese Zahlen widerspiegeln auch die grosse Bedeutung und die lange Tradition der Wasserkraft hierzulande: Sie hat wesentlich zur Entwicklung der Schweiz beigetragen.

Klimafreundliche Energieversorgung Aus Wasserkraft lässt sich klimafreundlich Strom produzieren. Ökostrom ist wichtig, um fossile Energieträger wie Erdöl oder Erdgas zu ersetzen. Heute erzeugen über 1300 Wasserkraftanlagen knapp 60 Prozent des in der Schweiz produzierten Stroms. Damit ist die Wasserkraft immer noch die wichtigste erneuerbare Energiequelle.

Hindernisse für die Fische Staumauern, Dämme, Schwellen und Rampen von Wasserkraftwerken verhindern die Wanderung von Fischen und anderen Wasserlebewesen. Damit sie an den Hindernissen vorbeikommen, braucht es Hilfen (siehe S. 27), beispielsweise Umgehungsgewässer oder Fischtreppen.

D

Bedrohte Lebensräume

Wenn Wasserkraftwerke zu viel Wasser für die Stromproduktion entnehmen, führen die Restwasserstrecken darunter zu wenig Wasser oder trocknen aus. Zudem können Speicherkraftwerke Abflussschwankungen verursachen, durch die Gewässerlebewesen stranden. So stören die Anlagen die Dynamik der Lebensräume, etwa in den ökologisch wertvollen Auengebieten.

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D C B A B
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LÖSUNGEN

WANDERHILFEN FÜR FISCHE

In der Schweiz behindern rund 1000 Hindernisse von Wasserkraftanlagen die lebenswichtigen Wanderungen der Fische. Eine Möglichkeit, um diesen Konflikt zwischen der Produktion von erneuerbarem Wasserstrom und der Durchgängigkeit für Fische zu verringern, sind Fischwanderhilfen.

Stossen Fische in der Hauptströmung auf ein Hindernis, suchen sie nach einer Möglichkeit zum Weiterschwimmen und finden so meist den Einstieg in den Schlitzpass.

Auch flussabwärts folgen Fische der Hauptströmung und landen dadurch ohne ausreichenden Fischschutz und einen alternativen Abstiegsweg zwangsläufig in den Turbinen, wo sie sich verletzen oder gar getötet werden.

NATURNAHES UMGEHUNGSGEWÄSSER

Umgehungsgewässer können vielfältig gestaltet sein: mit Kiesinseln, tiefen Mulden und Stromschnellen sowie einem mit Büschen bewachsenen Uferbereich, der Verstecke bietet.

Haben die Fische den Einstieg gefunden, durchschwimmen sie mehrere übereinanderliegende Becken, die durch Schlitze miteinander verbunden sind.

Feine Rechen halten die Fische vom Weg durch die Turbinen ab.

Vorteil: Sie dienen nicht nur als Korridor für flussaufwärts schwimmende Fische, sondern auch als Lebensraum für weitere Tiere und Pflanzen.

Das oberste Becken und der Ausstieg aus dem Schlitzpass liegen oberhalb des Wasserkraftwerks, von wo aus die Fische weiter flussaufwärts schwimmen.

Durch den Abstiegsweg, den sogenannten Bypass, können Fische unbeschadet an den gefährlichen Turbinen vorbeischwimmen.

SCHLITZpASS/ FISCHTREppE FISCHSCHUTZ UND FISCHABSTIEG
Lesen Sie unseren Artikel zum Thema auf S. 29
Fliessrichtung Fischpfade

BEDROHUNGEN UND LÖSUNGEN

Bereits in sehr tiefen Konzentrationen belasten Rückstände aus Pestiziden, Medikamenten oder Reinigungsmitteln die Wasserqualität.

Um Mikroverunreinigungen zu reduzieren, hat man im Gewässerschutzgesetz Grenzwerte festgelegt, beispielsweise für Pestizide und Arzneimittel. Zudem reinigen Kläranlagen 1350 Millionen Kubikmeter Wasser pro Jahr. In einigen Anlagen wird eine zusätzliche Reinigungsstufe eingeführt, um Mikroverunreinigungen weitestgehend zu entfernen.

Der Klimawandel lässt die Gewässertemperaturen steigen, was bei Wasserlebewesen zu Stress und sogar zum Tod führen kann.

Für Wasserlebewesen ist es essenziell, dass die globale Erwärmung möglichst tief bleibt. Bei hohen Wassertemperaturen verschaffen strukturreiche Gewässer mit unterschiedlichen Wassertiefen, mehr Schatten sowie einem verbesserten Grundwasseraustausch Fischen überlebenswichtige Abkühlung.

Sinkende Wasserstände und ausgetrocknete Flüsse können bei gleichzeitig steigendem Wasserbedarf in der Landwirtschaft zu Konflikten um das Wasser führen.

Renaturierungen machen Gewässer und ihre Lebewesen widerstandsfähiger gegenüber dem Klimawandel. Denn in naturnahen Gewässern sind die Probleme durch die Trockenheit weniger akut. Dort können Fische in kühlere, wasserreichere Abschnitte wandern. Die Landwirtschaft kann den Wasserbedarf reduzieren, indem sie auf Kulturen setzt, die wenig Wasser benötigen.

die Artenvielfalt.

Auch die Schweizer Bevölkerung spielt eine wichtige Rolle dabei, die Verbreitung von invasiven Arten möglichst zu verhindern – allen voran Fischerinnen und Bootsbesitzer. Sie können dabei helfen, dass invasive Arten wie die Quaggamuschel gar nicht erst von einem Gewässer zum nächsten verschleppt werden. Zum Beispiel, indem sie ihre Boote nach dem Auswassern mit einem starken Hochdruckreiniger mit heissem Wasser behandeln.

Seit 1980 werden zahlreiche Flüsse, Bäche und Seen naturnaher gestaltet. Ein Viertel der verbauten Schweizer Gewässerstrecken – insgesamt 4000 Kilometer – soll bis 2090 revitalisiert sein. Bis 2030 will man zudem rund 1000 Wasserkraftwerke sanieren, damit Fische ungehindert wandern können.

Quellen Bundesamt für Energie (BFE), Bundesamt für Umwelt (BAFU), fischwanderung.ch, gesundheit.gv.at, Natural Centre for Climate Services (NCCS), naturwissenschaften.ch, umweltnetz-schweiz.ch.

VISUALISIERUNG die umwelt Herausnehmbares Blatt zum Aufbewahren
Invasive gebietsfremde Arten wie die Quaggamuschel vermehren sich in Gewässern und bedrohen 22 Prozent des Schweizer Gewässernetzes sind verbaut oder kanalisiert. Diese Gewässer bieten oft zu wenig Raum für Wasserorganismen und um den Menschen vor Hochwasser zu schützen.
Trockenheit Invasive Arten
Mikroverunreinigungen Verbauungen Klimaerwärmung

Fischwanderungen: weg mit dem Hindernisparcours

Schweizer Flüsse und ihre Bewohner sind vielen Belastungen ausgesetzt. So wirken sich etwa der Klimawandel und die Wasserkraft unmittelbar auf die Wanderungen der Fische aus. Ihre Bewegungsfreiheit ist für die Tiere aber lebenswichtig. Zum Glück gibt es Lösungen.

Fische wandern. Das tun alle Fische –sei es für die Nahrungssuche, zur Fortpflanzung oder um neue Lebensräume zu besiedeln. Einige Arten legen dabei jedes Jahr Dutzende oder sogar Tausende von Kilometern zurück. Doch diese lebensnotwendigen Wanderungen können für die Fische zu einem Hindernisparcours werden, wenn sie auf Schwellen oder Wasserkraftanlagen treffen.

Wenn die Fische flussaufwärts schwimmen, können Querverbauungen ihre Wanderung verlangsamen oder gar blockieren. Schwimmen sie flussabwärts, können solche Hindernisse den Fischen nicht nur den Weg versperren, sondern sie sogar in Turbinen treiben, wo sie sich womöglich verletzen oder sterben.

Achtung Klimawandel

Zu diesen Bedrohungen kommen die Auswirkungen des Klimawandels: «Bestimmte Gebiete sind für das Überleben der Fischarten unerlässlich. Wenn sie sich zu stark verändern, hat das zwangsläufig Auswirkungen auf die Bestände», erklärt Martin Huber Gysi, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Sektion Sanierung Wasserkraft des BAFU.

Besonders problematisch sind Trockenperioden. Dann sinken die Abflussmengen so stark, dass einige Flussabschnitte nur noch schwer

passierbar sind. Bei Hochwasser wiederum besteht die Gefahr, dass Fische weggeschwemmt und – vor allem in Fliessgewässern mit vielen Hindernissen – in weniger günstigen Lebensräumen isoliert werden. Zudem setzen Hitzewellen viele Arten unter erhöhten Stress und zwingen sie dazu, in kühlere Gebiete abzuwandern. Das wiederum kann den Erfolg der Fortpflanzung und das Überleben der Jungtiere gefährden.

Zu sanieren: 1000 Anlagen Nun schreibt das Bundesgesetz über die Fischerei bereits seit 1991 vor, dass alle neuen Wasserkraftanlagen die Wanderungen der Fische gewährleisten müssen. Doch: «Das Problem sind Wasserkraftwerke, die vor 1991 gebaut wurden, sowie spätere Anlagen, die mit unzureichenden Wanderhilfen ausgestattet sind», sagt Jérôme Plomb, Projektleiter bei Aquarius, einem auf Gewässer- und Fischökologie spezialisierten Büro in Neuenburg.

Darum verabschiedete das Parlament im Jahr 2009 den von verschiedenen NGOs initiierten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Lebendiges Wasser». Dieser umfasste Änderungen mehrerer Bundesgesetze und soll die Revitalisierung der Gewässer fördern sowie die negativen Auswirkungen der Wasserkraft reduzieren. Die Kantone erhielten damit die Aufgabe, die für die Fischgängigkeit problematischen

Hindernisse zu identifizieren. Ergebnis: Insgesamt müssen bis 2030 fast 1000 Anlagen saniert werden. Dieser Vorgang beginnt jeweils damit, dass der Kanton eine Sanierungsverfügung an die Betreiber der Wasserkraftanlagen erlässt. Die Kosten für Studien und Massnahmen, um die Wanderungen der Fische wiederherzustellen, werden vollumfänglich vom Bund entschädigt.

Treppen und Lifte für Fische Eine der gängigsten Massnahmen, um Fischen dabei zu helfen, trotz Hindernissen flussaufwärts zu schwimmen, ist die Fischtreppe. Diese besteht aus einer Reihe aufeinanderfolgender Wasserbecken, die durch Öffnungen in den Trennwänden miteinander verbunden sind. Die Fische können die Höhendifferenz über die kleinen Wasserfälle zwischen diesen Becken bewältigen. Bei grösseren Höhenunterschieden lässt sich alternativ ein Fischlift bauen, wie kürzlich bei der Anlage Les Moulinets an der Orbe in der Nähe von Yverdon (VD) oder an der Birs in Grellingen (BL).

Und es gibt weitere Möglichkeiten: Im Hagneckkanal (BE), wo die Aare in den Bielersee mündet, wurde vor Kurzem ein seesternförmiges Umgehungsgerinne für Fische errichtet – so können sie die Hindernisse von zwei Anlagen umschwimmen. Eine andere Lösung sind Umgehungsgewässer. Beim Flussabwärtswandern lassen sich die Fische durch einen feinen Rechen davor bewahren, in die Turbinen zu geraten. Stattdessen werden sie durch sogenannte Bypass-Systeme an den Anlagen vorbeigeleitet. Ein Beispiel für eine solche Fischabstiegshilfe findet sich an der Limmat beim Kraftwerk Stroppel (AG). ■

FAZIT

Die lebenswichtigen Wanderungen der Fische können durch Wasserkraftwerke behindert werden. Darum gilt es, bis 2030 fast 1000 Anlagen zu sanieren. Beispielsweise, indem man Fischtreppen baut.

KONTAKT

Martin Huber Gysi

Sektion Sanierung Wasserkraft, BAFU

martin.hubergysi@bafu.admin.ch

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TREPPEN
FÜR DIE FISCHE
TEXT: STÉPHANIE DE ROGUIN
FOCUS 29 DIE UMWELT 3-23

UNSER GRUNDWASSER

Das Wasser, das wir trinken, stammt aus Grundwasservorkommen, die vor jeglicher Verschmutzung geschützt bleiben sollten. Doch die Zersiedelung und die intensive Landwirtschaft üben einen zunehmenden Druck aus. Hier einige Beispiele.

NITRATKONZENTRATION

Intensive landwirtschaftliche Nutzung ist die Hauptursache für hohe Nitratkonzentrationen im Grundwasser.

Zwar enthält Grundwasser von Natur aus Nitrat in geringen Mengen. Diese Konzentrationen müssen aber niedrig bleiben, damit wir auch in Zukunft sauberes Trinkwasser haben.

Grenzwertig

Für Grundwasser, das als Trinkwasser genutzt wird oder dafür vorgesehen ist, gilt ein Grenzwert von 25 Milligramm Nitrat pro Liter. Dieser Grenzwert wurde allerdings in den letzten Jahren bei 18 Prozent der Messstationen der nationalen Grundwasserbeobachtung NAQUA überschritten.

Intensiv genutzt

Nitrat

Keine Daten vorhanden ≤ 10 mg/l

10–25 mg/l > 25 mg/l

Offenes Ackerland ≤ 1 % 1–5 % 5–20 % 20–40 % > 40 %

Nachdem die Nitratkonzentrationen zwischen 2013 und 2016 leicht rückläufig waren, stiegen sie seit 2017 wieder an – besonders in Regionen, in denen Gemüse- und Ackerbau betrieben wird. Mehr als 50 Prozent der Messstationen in diesen Gebieten weisen Konzentrationen auf, die über dem Grenzwert liegen.

30 DIE UMWELT 3-23 FOCUS

BAUEN IN GRUNDWASSERSCHUTZZONEN

Die Zersiedelung hat dazu geführt, dass innerhalb von Wasserschutzzonen gebaut wird. Trinkwasserentnahmestellen wie die in Weinfelden (TG) können nun nicht mehr genutzt werden.

1904

1904 wird das Grundwasserpumpwerk Sangen ausserhalb des Dorfes Weinfelden gebaut. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch keine Grundwasserschutzzonen um die Fassung.

1972

Das Dorf Weinfelden dehnt sich stetig aus. Diese Entwicklung ist beispielhaft für die gesamte Schweiz. Das Gewässerschutzgesetz von 1971 verpflichtet die Kantone, Schutzzonen um Grundwasserfassungen herum auszuscheiden.

1990 2012

Die Schutzzonen der Grundwasserfassung Sangen sind in den 1990erJahren so stark überbaut, dass der weitere Betrieb der Fassung gefährdet ist. An eine Ausweitung der Schutzzonen im Sinne der neuen Gewässerschutzverordnung von 1998 ist nicht zu denken.

Die Gemeinde scheidet im Jahr 2000 an einem anderen Ort ein Grundwasserschutzareal aus. 2012 können dort unverbaute Schutzzonen festgelegt werden und das neue Pumpwerk Schachen nimmt seinen Betrieb auf. 2012 wird die Grundwasserfassung Sangen für die öffentliche Trinkwasserversorgung aufgegeben.

Lesen Sie unseren Artikel zu diesem Thema auf der nächsten Seite.

1904
1990 2012
Quelle: Grundwasserschutz als Investition in die Zukunft. Aqua & Gas 12/18 Schwab, C. et al. (2018)
31 DIE UMWELT 3-23 FOCUS
1972

Grundwasserschutz beginnt über dem Boden

Sauberes Trinkwasser: In der Schweiz halten wir das für selbstverständlich. Doch durch die zunehmende Zersiedelung und die intensive Landwirtschaft steigt der Druck auf unser Grundwasser – so stark, dass wir Massnahmen ergreifen müssen, um es besser als bisher zu schützen.

TEXT: FLORIAN NIEDERMANN

In der Schweiz sind wir es uns gewohnt, dass wir Wasser aus dem Hahn bedenkenlos trinken können. Wie selbstverständlich fliesst Trinkwasser aus der Dusche, selbst unsere WCs spülen wir damit. Doch sauberes Wasser erhalten wir nicht automatisch – dafür müssen wir zu unserem Grundwasser, aus dem 80 Prozent des Schweizer Trinkwassers stammen, Sorge tragen. Dies wird durch den hohen Siedlungsdruck und die intensive Landwirtschaft zunehmend schwieriger: Aus schierem Platzmangel sind Strassen, Wohngebiete, Industriebetriebe und Landwirtschaftsflächen immer näher an die Grundwasserfassungen gerückt. So gelangt immer wieder Unerwünschtes ins Grundwasser, etwa Fäkalkeime und andere Krankheitserreger, Abbauprodukte von Pestiziden oder Schadstoffe aus Altlasten.

Besonders problematisch sind langlebige Stoffe wie perfluorierte Chemikalien, wie sie etwa in Outdoorkleidung enthalten sind, oder Rückstände aus Dünge- oder Pflanzenschutzmitteln. Diese Stoffe schaden nicht nur der Natur, sondern auch dem Menschen. Und sind sie erst

einmal im Grundwasser drin, lassen sie sich bei der Gewinnung von Trinkwasser kaum mehr daraus entfernen – nur mit grossem Aufwand und teuren Verfahren, wie Corin Schwab von der Sektion Gewässerschutz des BAFU sagt: «Wir müssen verhindern, dass problematische Substanzen überhaupt erst im Grundwasser landen.» Derzeit werden darum politisch die Weichen für einen konsequenten Grundwasserschutz gestellt.

Trend in die falsche Richtung Doch von Anfang an: Grundwasser entsteht, wenn Regenwasser durch den Boden in Kiesschichten oder Felsspalten unter dem Erdreich sickert und sich schliesslich auf tieferliegendem, dichtem Gestein staut. Auf dem Weg durch den Boden wird das Wasser gefiltert – und dadurch trinkbar. Dieses Wasser entnehmen die landesweit etwa 2000 Wasserversorger schliesslich an rund 18 000 Stellen und bringen es in unsere Haushalte. Behandelt wird das Trinkwasser aus diesen Fassungen in der Regel gar nicht oder nur mit UV-Licht oder Chlor, um für alle Fälle gegen Keime vorzusorgen.

Wenn nun Siedlungen und Infrastrukturen den Trinkwasserfassungen zu nah kommen, wenn in ihrer Nähe gebaut wird – sei es für Infrastrukturen oder neue Überbauungen –, dann steigt das Risiko, dass das Wasser durch Bauarbeiten, Leckagen oder Unfälle verunreinigt wird. Im Bewusstsein um diese Gefahren hat der Bund in der Gewässerschutzverordnung das Instrument der Grundwasserschutzzonen verankert. Diese Zonen rund um die Trinkwasserfassungen müssen die Kantone festlegen, um das Trinkwasser zu schützen. So sind dort beispielsweise Grabungen, Bautätigkeiten und der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln eingeschränkt oder verboten.

Nur: Die wachsende Nachfrage nach Bauland hat manche Gemeinden dazu bewogen, Bauprojekte dennoch innerhalb der Schutzzonen zuzulassen. Mit teils erheblichen Folgen, wie Michael Schärer, Leiter der Sektion Grundwasserschutz beim BAFU, darlegt: «Viele Gemeinden im Mittelland mussten Trinkwasserfassungen aufgeben, weil die Schutzzonen zu stark bebaut waren.» So bietet die heutige Praxis keinen effektiven Schutz für das Grundwasser. «Wollen wir auch in Zukunft sauberes Trinkwasser, müssen wir diesen Trend, in die Schutzzonen hineinzubauen, stoppen», sagt Schärer.

Stoffe, die Jahrzehnte bleiben Besonders problematisch sind Stoffe, die der Boden nicht filtern kann und die sich nur sehr langsam abbauen. Die wichtigsten davon: Abbauprodukte von Pflanzenschutzmitteln sowie Nitrat aus Gülle und anderen Düngemitteln. Sie gelangen mit dem Niederschlag ins Grundwasser und so auch in unser Trinkwasser. Seit den Neunzigerjahren erfasst das BAFU in der Nationalen Grundwasserbeobachtung NAQUA den Zustand und die Entwicklung der Grundwasserressourcen an mehr als 600 Messstellen in der Schweiz. Seither hat die Landwirtschaft bereits Massnahmen zum besseren Schutz des Grundwassers beschlossen. So wurden diverse Pflanzenschutzmittel eingeschränkt, die das Grundwasser verschmutzten. Beispielsweise ist das Fungizid Chlorothalonil seit Ende 2020 schweizweit verboten. «Die Rückstände

SAUBERES TRINKWASSER
32 DIE UMWELT 3-23 FOCUS

im Wasser sinken teilweise erst nach Jahrzehnten wieder unter die vorgeschriebenen Grenzwerte», sagt Corin Schwab.

Damit solch langlebige Verschmutzungen nicht ins Grundwasser gelangen, genügen die Schutzzonen alleine nicht. Denn das Grundwasser sammelt sich aus unterirdischen Strömen weit über die Schutzzonen hinaus. Man spricht bei einem Gebiet, aus dem rund 90 Prozent des Wassers einer Fassung stammt, auch vom Zuströmbereich. Solche Bereiche zu ermitteln und festzulegen, ist im Gewässerschutz schon seit 1998 vorgesehen. Wenn bei einer Fassung Grenzwerte einer Substanz überschritten werden, beispielsweise Nitrat, dann müssen die Behörden im Zuströmbereich Massnahmen vorschreiben, um die Belastungen zu senken. So dürften Landwirtinnen und Landwirte beispielsweise den Boden weniger umgraben und müssten ihn im Winter begrünen, damit Pflanzen dafür sorgen, dass der Regen Pflanzenschutzmittel und Dünger nicht mehr so leicht auswaschen kann.

Nur gilt auch hier: Dieses bestehende Instrument wird nicht konsequent genutzt. Zurzeit ist erst ein Bruchteil der Zuströmbereiche definiert, die erforderlich wären. Nun will die Politik diese fehlende Konsequenz mit einer Reihe von Vorstössen angehen (siehe Box). Für deren Umsetzung will das Parlament den Kantonen Fristen setzen. Damit erhielte der Bund eine Handhabe, um die Massnahmen durchzusetzen. Auf diese Weise lassen sich Trinkwasserfassungen erhalten. So kann eine gute Qualität des Grundwassers auch in Zukunft sichergestellt werden. ■

FAZIT

Der hohe Siedlungsdruck und die intensive Landwirtschaft bedrohen die Schweizer Grundwasservorkommen –und damit auch unser Trinkwasser. Damit sauberes Wasser auch in Zukunft selbstverständlich bleibt, müssen wir jetzt Massnahmen ergreifen, um Verschmutzungen konsequenter als bisher zu vermeiden.

KONTAKT

Michael Schärer Sektionschef Grundwasserschutz, BAFU michael.schaerer@bafu.admin.ch

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DER GRUNDWASSERSCHUTZ ERHÄLT POLITISCHE ZUGKRAFT

Jüngst setzten sich mehrere parlamentarische Vorstösse durch, um das Grundwasser konsequenter zu schützen. Sie fordern etwa, dass die Schutzzonen eingehalten werden und die Kantone die Bestimmungen zum Schutz des Trinkwassers konsequent umsetzen müssen. Zudem sollen sich Zuströmbereiche neu auch vorsorglich festlegen lassen: Bis 2035 sollen für alle Grundwasserfassungen von regionaler Bedeutung sowie für Fassungen, bei denen die Gefahr einer Verunreinigung besteht, Zuströmbereiche definiert werden. Schliesslich soll auch der Zulassungsprozess von Pflanzenschutzmitteln in Gebieten über Trinkwasser verschärft werden.

«AUCH DIE LANDWIRTSCHAFT IST AUF GUTES TRINKWASSER ANGEWIESEN»

Kurt Seiler, warum ist es so wichtig, unser Grundwasser zu schützen? Wenn wir das Grundwasser schützen, können wir es direkt nutzen – ohne aufwendige Aufbereitung. So profitieren wir zu günstigen Preisen von einem naturnahen Gut.

Wie lässt sich verhindern, dass es zu chemischen Verunreinigungen kommt? Indem wir nur noch gut abbaubare Stoffe zulassen. So gäbe es keine Belastung der Umwelt. Da wir davon aber weit entfernt sind, müssen wir das Grundwasser besser schützen, indem wir beispielsweise Zuströmbereiche festlegen und dort Massnahmen erlassen.

Unter anderem können pflanzenschutzmittel unser Grundwasser verschmutzen. Müsste man nicht schlicht die Landwirtschaft in die pflicht nehmen? Das ist zu einfach. Nicht alle Verunreinigungen sind auf die Landwirtschaft zurückzuführen. Zudem müssen sich die Bäuerinnen und Bauern auf die Vorgaben

punkto Pflanzenschutzmittel verlassen

können: Wenn sie sich daran halten, darf das Grundwasser nicht verschmutzt werden. Doch beispielsweise der Einsatz des giftigen Fungizids Chlorothalonil war ja während Jahrzehnten erlaubt. Und: Nicht nur bei der Zulassung von Chemikalien gibt es Handlungsbedarf, sondern auch bei den Direktzahlungen.

Wie das?

Wenn wir Auswaschungen von Nitrat ins Grundwasser reduzieren wollen, dann müssen wir eine weniger intensive Landwirtschaft fördern. Doch die Kantone haben es schwer, entsprechende Massnahmen durchzusetzen, wenn der Bund nicht auch die richtigen Anreize bei den Direktzahlungen setzt.

Sie sind im Kanton Schaffhausen der oberste Chemiker und zuständig für das Grundwasser. Was tun Sie für seinen Schutz?

Wir haben vor Kurzem den ersten Zuströmbereich bestimmt, weitere werden folgen. Doch so eine Ausscheidung

braucht seine Zeit. Schön zu sehen ist, dass die Bauernbetriebe mit uns kooperieren. Ihnen ist bewusst, dass auch die Landwirtschaft auf gutes Trinkwasser angewiesen ist.

Kurt Seiler ist seit mehr als 15 Jahren Leiter des Interkantonalen Labors beider Appenzeller Kantone und des Kantons Schaffhausen und in dieser Funktion auch Kantonschemiker. Daneben ist er Mitglied in diversen Verbänden und Kommissionen mit Schwerpunkt Wasser und Pestizide. Zuvor forschte Seiler an der ETH Zürich und der University of Alberta in Kanada.

33 DIE UMWELT 3-23 FOCUS

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SCHADSTOFFE

AUS

Industriebetriebe sind verpflichtet, ihre Abwässer so sauber wie möglich zu halten, um Flüsse und Seen nicht mit Schadstoffen zu verschmutzen. Doch für viele Betriebe ist es schwierig zu ermitteln, welche Substanzen in ihrem Abwasser drin sind – und wie es folglich aufbereitet werden müsste.

TEXT: BRIGITTE WENGER

Am 1. November 1986 floss der Rhein rot durch Basel. In Schweizerhalle, einem Industriegebiet flussaufwärts, stiessen meterhohe Flammen aus einer Lagerhalle des Pharmakonzerns Sandoz, heute Novartis. Tonnen giftiger Herbizide, Insektizide und Quecksilberverbindungen verbrannten, versickerten im Boden oder flossen zusammen mit den rund 15 Millionen Liter Löschwasser in den Fluss. Eine Markierungsfarbe im Löschwasser färbte den Rhein rot. Unzählige Fische starben, und es dauerte Jahre, bis sich der Fluss und seine Wasserlebewesen erholten.

Schweizerhalle reihte sich ein in eine Liste von Ortschaften, die für Chemiekatastrophen stehen. Wie Flixborough (GB) mit dem Reaktorleck 1974 oder Seveso im Norden Italiens mit dem hochgiftigen Dioxin 1976. Diese drei Vorfälle waren aber auch Meilensteine für den Umweltschutz, denn sie zeigten die Risiken der Industrie auf. Als Folge von Schweizerhalle beschloss die Schweiz 1991 die Störfallverordnung, die Betrieben unter anderem vorschreibt, Löschwasser in Rückhaltebecken zu sammeln. Zudem legten das Gewässerschutzgesetz (1991) und die zugehörige Verordnung (1998)

Grenzwerte für Schadstoffe in Abwässern verschiedener Branchen fest.

Dadurch ist die Belastung der Schweizer Gewässer aus Industrie und Gewerbe in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Trotzdem stammen auch heute noch 20 Prozent der Mikroverunreinigungen aus diesem Bereich. Bis zu 30 000 Betriebe leiten ihr – teilweise vorbehandeltes – Abwasser in zentrale Kläranlagen ein. Rund 50 Betriebe vor allem aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie und der Lebensmittelbranche leiten ihre Abwässer direkt in Gewässer ein. Die sind dazu verpflichtet, ihr Abwasser rechtskonform in der eigenen Kläranlage zu reinigen. Daneben fliessen noch immer Verunreinigungen aus Altlasten als Folge früherer Industrieproduktionen in Oberflächengewässer und ins Grundwasser.

Die Löscharbeiten einen Tag nach dem Brand in Schweizerhalle

wirtschaftlich tragbar sind». Doch: In der Industrie werden heutzutage unzählige Chemikalien produziert und eingesetzt. Zusätzlich entstehen während den Produktionsprozessen und der Abwasserreinigung verschiedene Umwandlungsprodukte. Daher ist es für die Betriebe schwierig zu wissen, welche Stoffe in ihrem Abwasser enthalten sind, um es dann zielgerichtet zu behandeln.

«Die Abwassergrenzwerte aus den 90er-Jahren werden gut eingehalten», sagt Saskia Zimmermann-Steffens von der Sektion Siedlungswasserwirtschaft des BAFU. «Die Schwierigkeit heute ist, dass Betriebe der Pharmaoder Galvanikbranche nicht genau wissen, welche Stoffe in ihrem Abwasser enthalten sind.» Dies bestätigte eine Situationsanalyse des Verbands Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute VSA 2022. Sind die Stoffe unbekannt, ist eine massgeschneiderte Abwasserbehandlung – wie vom Gewässerschutzgesetz

1986 – das Unglück schwemmte giftiges Löschwasser in den Rhein und zeigte auf, wie wichtig Gewässerschutz ist. DER INDUSTRIE
Bei komplexen Industrieabwässern besteht Handlungsbedarf
Grenzwerte lösen das problem nicht Gemäss dem Gewässerschutzgesetz sind Betriebe verpflichtet, so wenig Stoffe wie möglich in die Kanalisation oder die Gewässer einzuleiten. Dafür müssen sie «nach dem Stand der Technik übliche Massnahmen treffen, soweit diese betrieblich machbar und

verlangt – nicht möglich und die Auswirkung auf die Umwelt ungewiss. Hier besteht Handlungsbedarf.

«Industriebetriebe und Kantone, die die Abwässer kontrollieren, kommen auf uns zu und fragen nach konkreten Grenzwerten», sagt Zimmermann-Steffens. «Aber es ist unrealistisch, für alle Stoffe einen Grenzwert festzuschreiben. Der Begriff ‹Stand der Technik› ist zwar schwer greifbar, aber er ermöglicht es uns, gemeinsam mit Partnern aus Industrie, Verbänden, Wissenschaft und Kantonen massgeschneidert für jede Branche die fortschrittlichste Lösung für die Aufbereitung zu finden.»

Immer neue Altlasten

Eine der Partnerinnen, die lieber konkrete Vorgaben als Interpretationsspielraum hätte, ist Christine Genolet-Leubin, Chefin der Dienststelle für Umwelt des Kantons Wallis. Das Wallis ist neben der Pharmastadt Basel der zweite grosse Chemiestandort

der Schweiz. Auf Genolet-Leubins Schreibtisch liegen entsprechend viele Altlastendossiers: Aus der LonzaDeponie Gamsenried tritt krebserregendes Benzidin ins Grundwasser, Böden sind mit Quecksilber kontaminiert, hochgiftige und kaum abbaubare PFAS (Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen) sind in Gewässern und Fischen nachgewiesen.

«Wir haben im Wallis mit der Geologie des Rhonetals die Besonderheit, nah am Grundwasser zu sein», sagt Genolet-Leubin. Dieses Grundwasser wird als Trinkwasser und in der Landwirtschaft für die Bewässerung genutzt, und es tauscht sich mit den Oberflächengewässern aus. Im Oktober 2022 hat der Kanton Karten mit erhöhten Schadstoffbelastungen im Grundwasser veröffentlicht. Darauf ist zu sehen, dass Trinkwasserentnahmestellen nicht betroffen sind, die landwirtschaftliche Bewässerung aber schon.

SO WERDEN GEWÄSSER ÜBERWACHT

Gewässer tragen Stoffe kilometerweit –auch über Landesgrenzen. Um die Gewässerqualität zu kontrollieren und bei einer Verunreinigung zu warnen, arbeitet der Bund deshalb mit den Kantonen und mit anderen Ländern zusammen:

Die CIpEL (Commission internationale pour la protection des eaux du Léman) ist die französisch-schweizerische Zusammenarbeit zum Schutz des Genfersees. Der Kanton Wallis misst als Haupteinzugsgebiet regelmässig, welche Stoffe die Rhone in welcher Menge in den Genfersee schwemmt: Arzneimittelreststoffe aus der Industrie, Pestizide aus Landwirtschaft und Privathaushalten, Abwässer von Strassen und Bahnlinien. Mit der regelmässigen Messung lassen sich die Verschmutzungen zurückverfolgen.

Die Rheinüberwachungsstation (RÜS) Weil am Rhein bei Basel misst, was aus der Schweiz nach Deutschland fliesst. Sie ist die weltweit modernste Wasserqualitätsmessung und entdeckt auch Stoffe, nach denen sie nicht gezielt sucht. Die RÜS ist eine direkte Folge des Chemieunfalls in Schweizerhalle.

Genolet-Leubin geht die Sanierung der Altlasten systematisch an. Sie kommuniziert offen und öffentlich, das nimmt Druck weg. «Ich frage mich, wann wir alle Altlasten entdeckt haben werden», sagt die Chefin der Dienststelle Umwelt. Und lässt damit anklingen, dass sie sich von der industriellen Vergangenheit ihres Kantons nicht mehr überraschen lässt. ■

FAZIT

Unzählige und teilweise unbekannte Mikroverunreinigungen aus der Industrie erschweren eine restlose Reinigung des Abwassers. Wie und wie stark wir die Oberflächengewässer und das Grundwasser damit belasten, erkennen wir häufig erst Jahre später.

KONTAKT

Saskia Zimmermann-Steffens Sektion Siedlungswasserwirtschaft, BAFU

saskia.zimmermann-steffens @bafu.admin.ch

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«Von Naturlandschaften profitieren wir auch wirtschaftlich»

Elodie Gerber und François Margot sprechen über die Herausforderungen für diese Naturräume und über das sensible Gleichgewicht zwischen der Biodiversität und dem Zugang für die Öffentlichkeit. Mit dabei war auch Luna, François Margots Enkelin.

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Die Schweizer pärke spielen eine entscheidende Rolle beim Schutz der Umwelt, denn sie bewahren die biologische Vielfalt und das kulturelle Erbe von Landschaften. Elodie Gerber (34), die aus Früchten aus dem Naturpark Chasseral Schnaps herstellt, und der ehemalige parkdirektor François Margot (63) im Gespräch über die Balance zwischen Natur und Tourismus.

GESPRÄCH: STÉPHANIE DE ROGUIN

BILDER: MARION NITSCH/LUNAX

Warum sollten die Leute Schweizer pärke besuchen – was erwartet sie? Elodie Gerber: Unsere Besucherinnen und Besucher kommen hauptsächlich in den Naturpark Chasseral, um den Jura mit seinen vielfältigen Gesichtern zu erkunden: die Natur und die Biodiversität, aber auch das kulturelle Erbe, etwa die regionalen Produkte oder das Zentrum der berühmten Uhrenindustrie. Wir möchten den Naturpark mit all seinen Aspekten vor allem Leuten, die hier in der Gegend leben, näherbringen. Das ist eine ziemliche Herausforderung, weil viele glauben, ihre Region gut zu kennen. Deshalb arbeiten wir gemeinsam mit lokalen Vereinen und Unternehmen daran, unbekannte oder wenig bekannte Dinge zur Geltung zu bringen, beispielsweise, wie kulinarische Spezialitäten gemacht werden, oder auch altes Handwerkswissen. Also Dinge, die für die Region von Bedeutung und gleichzeitig gute Beispiele für eine nachhaltige und sanfte Einbindung sind.

François Margot: Die Gegend des Regionalen Naturparks Gruyère Pays-d’Enhaut wird vor allem als Freizeitgebiet geschätzt und wegen der Ruhe, der ländlichen Kultur und der regionalen Produkte. Als Parkmitarbeitende ist es unsere Aufgabe, einen Mehrwert zu bieten, indem wir Wissen über dieses kulturelle und landschaftliche Erbe weitergeben. Es ist wirklich spannend, den Menschen aus der Gegend eine neue Sicht zu vermitteln, nämlich dass ihre Heimatregion nicht etwas Unveränderliches, sondern starken Veränderungen unterworfen ist. Und wir versuchen, sie für nachhaltige Verhaltensweisen zu gewinnen.

pärke sind da, um Landschaften, Ökosysteme und Ressourcen zu schützen, gleichzeitig laden sie ein breites publikum dazu ein, diese Landschaften zu erkunden. Wo

verläuft die Grenze zwischen Erhaltung der Natur und touristischer Attraktivität?

EG: Das ist tatsächlich ein fragiles Gleichgewicht. Grundsätzlich sind die Pärke aber so gross, dass sich die Gäste nur in begrenzten Gebieten aufhalten. Wir versuchen sie so zu lenken, dass nicht alle gleichzeitig an denselben Orten sind, und weniger bekannte Gebiete aufzuwerten. Dabei müssen wir immer überlegen, wie wir auf die Sehenswürdigkeiten des Parks hinweisen. Lange haben wir zum Beispiel den Standort des GelbFrauenschuhs, einer seltenen Orchideenart, geheim gehalten, um zu verhindern, dass alle dorthin strömen. Zusätzlich müssen wir auch daran denken, wie die Besuchenden sich im Park bewegen, und Shuttlebusse und Infrastrukturen für Velofahrerinnen und Fussgänger bereitstellen.

FM: Wir setzen vor allem auf touristische Angebote, die die drei Kantone und die vier Regionen, über die sich der Park erstreckt, miteinander verbinden. Für die Gestaltung der Grand Tour des Vanils zum Beispiel, eine Mehrtagestour über selten begangene Wege, haben wir die Meinung der Wildhüterinnen und Wildhüter eingeholt. Wir haben heute auch eine Charta für gutes Verhalten in den Bergen. 33 Parteien haben sie unterzeichnet, hauptsächlich Tourenbegleiterinnen und -begleiter und Tourismusbüros. Sie verpflichten sich unter anderem dafür, Aktivitäten auf

ELODIE GERBER

ist Umweltingenieurin und begleitet seit fast zehn Jahren Projekte zum Natur- und Kulturerbe im Naturpark Chasseral, der sich zwischen La Chaux-de-Fonds, Neuenburg und Biel erstreckt. Gleichzeitig leitet sie die Distillerie de l’Echelette in Orvin (BE), in der sie lokale Früchte zu Bränden verarbeitet und das Handwerk weitergibt.

37 DIE UMWELT 3-23 I M D IALOG 360°

EINZIGARTIGE NATURREGIONEN

Die Schweizer Pärke: Das sind schöne Landschaften, eine reiche Biodiversität und hochwertige Kulturgüter. Die Pärke entstanden aus der Motivation der Bevölkerung, ihre Region zu schützen. Diesen Prozess formalisiert das BAFU, indem es das Parklabel verleiht. Der Naturpark Chasseral beispielsweise erstreckt sich in einem Dreieck zwischen La Chaux-de-Fonds, Neuenburg und Biel auf einer Fläche von 473 Quadratkilometern. Der Regionale Naturpark Gruyère Pays-d’Enhaut in den Kantonen Waadt und Freiburg dehnt sich auf 632 Quadratkilometern von der Riviera bei Montreux bis nach Bulle und von Les Mosses bis nach Charmey aus.

I M D IALOG 360° 38

FRANÇOIS MARGOT

ist Agronom und seit Beginn seiner Laufbahn in der lokalen oder ruralen Entwicklung tätig. Bis zu seiner Pensionierung am 1. August 2022 war er Direktor des Regionalen Naturparks Gruyère Pays-d’Enhaut, zu dessen Gründungsmitgliedern er gehört.

Gegenden zu beschränken, in denen sie keine Wildtiere stören, auch ausserhalb der Schutzgebiete. Diese «sicheren»

Gegenden sind auf einer Karte ersichtlich, die wir eigens erstellt haben. Die meisten anderen Schweizer Pärke haben ein ähnliches System.

Wie hoch ist der ökologische Wert der pärke – lässt sich dieser überhaupt beziffern?

EG: Zum Teil ja, so haben wir die Bestandteile der ökologischen Infrastruktur des Parks inventarisiert und basieren inzwischen alle unsere Biodiversitätsprojekte auf dieses Instrument. Mittlerweile haben auch die Kantone das Inventar übernommen

und wir hoffen, dass sich bald Gemeinden und Naturschutzorganisationen wie Pro Natura anschliessen. Eine solche Vernetzung und eine gemeinsame Arbeitsgrundlage sind wichtig, um sinnvolle Massnahmen zu entwickeln.

FM: Ja, diese Erfassung ist ein wertvolles Instrument. Es ist wichtig, die Bedeutung der ökologischen Infrastruktur bekannt zu machen, nicht nur der breiten Öffentlichkeit, sondern auch den Gemeinden und anderen Landnutzern, besonders den Bäuerinnen und Bauern. Unser Park hat das Glück, Teil des Projekts «ValPar.CH» zu sein, das die ökologische Infrastruktur in Pärken untersucht und fördert (siehe Box). Als Park-Team sind wir sehr zufrieden mit seinem qualitativen Ansatz. Beim Versuch, den Wert der ökologischen Infrastruktur zu messen, ist es wichtig, die Mechanismen und Verflechtungen zwischen den einzelnen Komponenten herauszuarbeiten.

Ein pilotprojekt des BAFU will zudem den wirtschaftlichen Wert der ökologischen Infrastruktur ermitteln. Elodie Gerber, Sie haben in diesem Rahmen einen Innovationsworkshop angestossen. Warum?

EG: Bei dem Workshop ging es darum, Hecken aus Wildbeerensträuchern zu verwerten – und ihnen damit auch einen Wert zuzuweisen. Aus den

Früchten entstehen frische Säfte und Schnapsbrände. Die ersten Workshops liefen sehr gut und ich bin dabei, weitere zu organisieren. Zunächst lernen die Teilnehmenden die Sträucher erstmalig oder neu kennen, danach erfahren sie, wie sie die Beeren verarbeiten können. Das Ziel ist nicht ein massenhafter Verkauf der Produkte, sondern eine Sensibilisierung. Wir regen die Teilnehmenden auch dazu an, wilde Sorten im eigenen Garten anzupflanzen. Sobald man die Pflanzen kennt und weiss, wie nützlich sie sind, für die Biodiversität und für einen selbst, steigt die Motivation, ihren Lebensraum zu schützen.

FM: Mir gefällt diese Idee, dennoch halte ich es für wichtig, ein Naturgut nicht systematisch vom Standpunkt seiner Nutzung aus zu betrachten. Zunächst muss eine Verbindung mit dem Lebendigen entstehen, wir müssen die wechselseitigen Abhängigkeiten verstehen lernen. Davon werden wir letztlich auch wirtschaftlich profitieren.

KONTAKT

Simone Remund Sektion Landschaftspolitik, BAFU simone.remund@bafu.admin.ch

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DIE WERTE DER ÖKOLOGISCHEN INFRASTRUKTUR VERSTEHEN – ÖKOLOGISCH, GESELLSCHAFTLICH UND WIRTSCHAFTLICH

Um die Biodiversität in der Schweiz zu erhalten und zu fördern, hat der Bundesrat 2017 den «Aktionsplan Strategie Biodiversität Schweiz» verabschiedet und damit eine Reihe von Massnahmen zum Aufbau einer ökologischen Infrastruktur ergriffen. Als ökologische Infrastruktur bezeichnet man ein Netzwerk aus Flächen, die für die Biodiversität wichtig sind. Ein solches Netzwerk bietet Lebensraum für zahlreiche Tiere und Pflanzen, gleichzeitig erbringt es für den Menschen lebenswichtige Leistungen, die manchmal verkannt oder unterschätzt werden. Zum Beispiel die Regulierung der Wasser- und Luftqualität und des Klimas. Einige dieser Leistungen sind zudem unerlässlich für wirtschaftliche Tätigkeiten wie die Nahrungsmittel- und die Energieproduktion, oder für das Gesundheitswesen.

Aus diesen Gründen leitet das BAFU seit 2020 ein Pilotprojekt, das die Werte der ökologischen Infrastruktur in der Schweiz mit einem besonderen Augenmerk auf die Pärke von nationaler Bedeutung untersuchen und fördern soll. Das Projekt gliedert sich in drei Massnahmen: erstens ein von einem interdisziplinären Team geleitetes Forschungsprojekt namens «ValPar.CH»; zweitens Innovationsworkshops, um neue Güter, Dienstleistungen und Vermarktungsmodelle in den Pärken zu testen; und drittens ein Kommunikations- und Sensibilisierungsprojekt, um die Ergebnisse bekannt zu machen.

«Durch menschliche Aktivitäten wird die ökologische Infrastruktur immer mehr zerstückelt, so werden ihre Funktionen geschwächt oder gehen ganz verloren», sagt Simone Remund, Mitarbeiterin in der Sektion Landschaftspolitik des BAFU.

«So können beispielsweise Hecken oder ein Bach für eine Landeigentümerin oder einen Bauern hinderlich sein. In den Innovationsworkshops erfahren sie, dass diese Infrastruktur auch einen wirtschaftlichen Wert hat.» Für Johann Dupuis, den Leiter des Projekts «ValPar. CH», ist es durchaus möglich, der Bevölkerung eine neue Sicht auf die Biodiversität zu eröffnen. «Umweltschutz wird von Menschen oder Unternehmen häufig als etwas Aufgezwungenes empfunden. Sobald die Leute aber Instrumente erhalten, die ihnen zeigen, dass Moore, Wälder und Trockenwiesen zu ihrer persönlichen Gesundheit beitragen und auch einen wirtschaftlichen Wert besitzen, kann sie das dazu anregen, diese Landschaften und die Biodiversität zu schützen.» Die Forschungsergebnisse von «ValPar.CH» werden Ende Jahr erwartet.

39 DIE UMWELT 3-23 I M D IALOG 360°

Im schweisstreibenden Klimaworkshop

Wie viel ist eigentlich ein Kilo CO2? Welche alltäglichen Handlungen stossen welche Mengen dieses Treibhausgases aus? Und: Wie könnten wir unseren eigenen Energieverbrauch und CO2 -Ausstoss senken?

Um solche Fragen geht es im Klimaworkshop für Berufsund Kantonsschulklassen. Dabei treiben die Teenager mit Strom von einem Velo einen Beamer an oder tragen das Gewicht eines SUV.

TEXT: SANTINA RUSSO

BILDER: MARION NITSCH/LUNAX

Konstantin strampelt. «Nicht aufhören, weiter», spornt ihn Workshop-Leiter Christof Seiler an. Das Pedalen auf dem Velo treibt einen kleinen Generator an, dessen Strom eine Glühbirne zum Leuchten bringt. So anstrengend sieht das gar nicht aus und Konstantin wirkt fit, doch sobald der Kanti-Schüler zu langsam pedalt, flackert die Glühbirne. «Fühl mal», sagt Christof nun und streckt Konstantins Klassenkollegin Elena die Birne entgegen. «Ganz warm», sagt sie. Das ist bei der LED-Birne anders, die Christof als Nächstes an den Strom vom Velo anschliesst. Diese bleibt beim Leuchten kalt. Darum muss Konstantin für die LED nur 6 Watt erzeugen, für die alte Glühbirne aber 60 Watt, wie Elena am angeschlossenen Messgerät abliest. «Alles, was warm wird, braucht gleich viel mehr Energie», sagt WorkshopLeiter Christof in die Runde.

Was wie viel Strom braucht, ist nur eines der Themen, die im Klimaworkshop für Kantons- und Berufsfachschulen zur Sprache kommen. Vor allem geht es um Klimagase wie Methan und CO2 und wie sie die Erderwärmung verursachen. «Das

ist ein enorm wichtiges Thema, das aber an vielen Berufsschulen nach wie vor nur marginal behandelt wird», sagt Stefan Brehm. Er ist selbst Berufsschullehrer, hat den Workshop zusammen mit Interaktionsleiter Christof Seiler entwickelt und ist auch heute, an diesem Nachmittag Mitte Februar, als Co-Leiter mit dabei. «Wichtig war uns, dass wir dieses Thema möglichst anschaulich behandeln.» Christof ergänzt: «Im Workshop befassen sich die Schülerinnen und Schüler aktiv mit der Thematik. Sie erhalten Denkanstösse und erarbeiten selbst Ideen, um ihren CO2-Ausstoss zu senken und ihren Alltag klimabewusster zu gestalten.»

Rätseln ums Klima

Seit 2020 führen die beiden Leiter solche Workshops durch, inzwischen 30- bis 40-mal pro Jahr – heute mit der Fachmittelschul-Klasse 2A der Kantonsschule am Brühl in St. Gallen. Der Kursraum befindet sich im ZHAW-Gebäude K.118 in Winterthur, das übrigens komplett aus wiederverwendeten Bauteilen besteht. Hier haben es sich die Schülerinnen und Schüler der Wand entlang auf dem

KLIMAWISSEN FÜR TEENAGER
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Schüler Nalawi erzeugt mit dem Velo Strom und treibt damit einen Beamer an. Es läuft ein Kurzfilm über den Klimawandel.

QUIZ

Was stösst wie viel CO2 aus? Finden Sie die richtige Reihenfolge!

A. Ein Städtetrip nach Sidney, Retourflug ab Zürich, 33 100 km

B. 10 000 km mit einen Benzin-Offroader fahren

C. Ein iPhone 13, inklusive Herstellung, Transport, Nutzung und Entsorgung

D. 10 000 km mit einem E-Auto der Mittelklasse fahren, geladen mit Ökostrom

E. Ein Jahr lang Ökostrom beziehen (pro Person)

F. Ein fleischlastige Ernährung für ein Jahr (pro Person)

G. Baden in Marseille, Fahrt mit dem Zug retour ab Zürich, 1500 km

Lösung Seite 43

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Boden bequem gemacht. «Macht mal die Augen zu», bittet Christof. Er öffnet eine neue Mineralwasserflasche, es zischt. «Was hat das Geräusch verursacht, wie heisst dieses Gas?» Darauf kommen die 17- bis 18-Jährigen im Nu: CO2 natürlich. Im Wasser ist es harmlos, aber fürs Klima ist es derart schädlich – wie das?

Ein kurzer Film gibt einen Überblick: Etwa abgeholzte Regenwälder, schmelzendes Polareis oder die zunehmende Süsswasserknappheit werden thematisiert. Ebenso das 1,5Grad-Ziel und was alles passiert, wenn wir es nicht erreichen. Der Beamer, der den Film an die Wand projiziert, läuft wiederum mit Strom vom Velo: Inzwischen ist Schüler Nalawi im Sattel und erzeugt die nötigen 50 Watt.

Danach wird gerätselt. Die Schülerinnen und Schüler bilden Zweiergruppen und ordnen Kärtchen mit verschiedenen Handlungen nach ihrem CO2-Ausstoss. Was ist schlimmer – 10 000 Kilometer mit einem Benzin-Offroader fahren oder ein Jahr lang fleischlastig essen? Und für wie viel CO2 ist das Streamen auf dem Handy verantwortlich, etwa im Vergleich mit einem Flug nach Sidney? Waren die Teenager am Anfang des Nachmittags noch eher zurückhaltend, sind sie nun voll mit dabei und lebhaft am Diskutieren.

Unterstützung vom BAFU

«Dieser Ansatz, die Schülerinnen und Schüler in ihrem Alltag abzuholen, war für uns entscheidend, um das Projekt zu fördern», sagt Sévérine Haldi, Fachspezialistin Klimabildung beim BAFU. Sie entscheidet mit, welche Projekte über das Klimaprogramm Bildung des BAFU eine Finanzhilfe erhalten. «Toll finde ich, dass die Jugendlichen in den Workshops viel selbst spüren, etwa beim Stromerzeugen auf dem Velo», sagt Haldi. «Das sorgt für ein bleibendes Erlebnis.» Auch fiel ihr die Begeisterung der beiden Leiter auf. «Das ist sicherlich ein Erfolgsfaktor der Workshops.» Zudem haben Interaktionsleiter Christof und Lehrer Stefan ihr Projekt laufend weiterentwickelt. Inzwischen bieten sie beispielsweise auch Module an, die globale Klimagerechtigkeit oder kreative Ideen im Klimaschutz thematisieren.

Den Alltag klimabewusster gestalten – wie geht das? Die Schülerinnen überlegen sich Freizeitaktivitäten, die kein CO2 ausstossen.
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Die Gruppe kommt ganz schön ins Schwitzen, als sie das Gewicht eines SUV trägt. Workshop-Leiter Christoph Seiler (links) und Stefan Brehm (links im Hintergrund) feuern an.

Über das Klimaprogramm Bildung unterstützt das BAFU weitere Bildungsprojekte, die Kompetenzen von Fachkräften und Auszubildenden für den Klimaschutz oder für die Anpassung an den Klimawandel fördern – das sind laufend rund 15 Projekte. «Die meisten richten sich an eine spezifische Zielgruppe», sagt Haldi. Zurzeit werden etwa ein Weiterbildungsprogramm zur Hitzeminderung in Städten, Schulungen für Gemeinden oder Climate Labs für Lernende in Unternehmen gefördert. «Die Bildungsprojekte haben einen starken Praxisbezug, um konkrete Möglichkeiten für die Umsetzung im Alltag aufzuzeigen», betont Haldi. «Beispielsweise können die Lernenden in den Climate Labs Ideen für den Klimaschutz in ihren Lehrbetrieben entwickeln und umsetzen.»

Einen SUV schleppen

Für Klasse 2A geht’s nun raus an die Sonne, wo so richtig Action angesagt ist: Die Gruppe soll das Gewicht eines SUV zehn Meter weit tragen. Da die Workshopleiter Christof und Stefan aus Überzeugung keinen solchen Grosswagen besitzen, brauchen sie einen Trick: Auf einer Rettungsplane tragen die Schülerinnen und Schüler acht ihrer Gspänli nacheinander je viermal zehn Meter hin und her, bis sie kumuliert das Gewicht eines SUV geschleppt haben – rund zwei

Tonnen. Und: Das Ganze ist ein Rennen. Die Klasse tritt nämlich gegen die bisherige Rekordzeit aus dem Workshop an.

Das erste «Opfer» ist Klassenlehrerin Johanna Büche. Sie legt sich in die Plane, die acht Trägerinnen und Träger greifen sich je einen Zipfel davon und los geht’s, nun wird geschleppt, gerannt, gestolpert, gerufen, gelacht. «Los, los!» «Schneller, ihr schafft das», feuern Stefan und Christof ihre Schützlinge an. Am Anfang geht’s sehr schnell, doch mit der Zeit wird das Rennen und Tragen sichtlich anstrengender. Dafür läuft der Personenwechsel in der Plane immer routinierter. Und tatsächlich: Klasse 2A schlägt mit 2:56 Minuten den bisherigen Rekord von über drei Minuten. Alle sind ausgepowert, aber happy. «Mit dem viel leichteren Velo legt ihr diese Strecke in ein paar Sekunden zurück», kommentiert Stefan. Klar, das Ganze war nicht nur Spass, sondern auch eine Message: Ein so schweres Fahrzeug zu bewegen, benötigt viel Energie.

Auch für Lehrerin Johanna Büche ist der heutige Nachmittag ein Highlight. «Es ist schön, die Klasse mal in einem völlig anderen Setting als in der Schule zu erleben.» Für sie ist klar: «Dadurch, dass sie hier viel selbst machen, bleibt das Thema Klimaschutz

besser hängen als mit blosser Theorie.» Auch das Workshop-Velo haben Christof und Stefan mit nach draussen genommen. Mit seiner Hilfe gibt es nach der Anstrengung noch eine Erfrischung: Aus Saft, Beeren und Bananen mixen sich die Teenager einen Smoothie – zusammengerührt im Mixer, der am Lenker des WorkshopVelos befestigt ist. Vanessa steigt aufs Rad und sorgt mit etwas herumfahren in kaum einer Minute für Smoothie für alle. «Fein», sagt Konstantin. Während die anderen noch austrinken, schnappt er sich das Velo und fährt nochmal um den Block.

KONTAKT Sévérine Haldi Sektion Umweltbildung, BAFU severine.haldi@bafu.admin.ch

LINK ZUM ARTIKEL bafu.admin.ch/magazin2023-3-09

LÖSUNG –

BIS WENIG CO2

A 5900 kg CO2

B 4100 kg CO2

F 2200 kg CO2

D 850 kg CO2

C 64 kg CO2

G 26 kg CO2

E 17 kg CO2

VON VIEL
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Gleich gibt’s einen Smoothie als Erfrischung. Gemixt wird das Getränk wieder mit selbst erstrampelter Energie vom Velo, wie immer im Workshop.

In der Schweiz ist für viele Arten fünf vor zwölf

Die Tier- und Pflanzenwelt der Schweiz ist unter Druck. Das zeigen die jüngsten Berichte über den Zustand der Biodiversität und die Roten Listen der gefährdeten Arten. Ihr Fazit: Wir müssen mehr tun, um die einheimischen Lebensräume und Arten zu fördern und zu schützen.

Was meinen Sie, wie viele Wildtiere gibt es weltweit noch im Verhältnis zu uns Menschen und unseren Nutztieren? Noch weniger als Sie denken: Die wild lebenden Säugetiere machen nur noch vier Prozent der gesamten Säugetierbiomasse auf der Erde aus – von Haselmaus bis Blauwal. Die restlichen 96 Prozent gehören ganz dem Menschen und den Nutztieren. «Diese Zahl zeigt klar, wie stark wir Menschen die Ökosysteme beeinflussen und die Natur unter Druck setzen», sagt Jérôme Frei, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BAFU.

Nun ist aber die Natur mit einer reichhaltigen Biodiversität die Grundlage unseres Lebens und Wirtschaftens. Unter Biodiversität versteht man den Artenreichtum der Pflanzen-, Pilz- und Tierarten sowie die genetische Vielfalt innerhalb der Populationen. Aber auch die Vielfalt an Lebensräumen, die die Arten beherbergen. Schliesslich sind an die Biodiversität auch die Ökosystemleistungen geknüpft, die uns die Natur gratis zur Verfügung stellt. Sie sorgt etwa für saubere Luft und sauberes Wasser, dient als Ernährungsgrundlage

und reguliert das Klima. «Die Biodiversität ist komplex, noch versteht man längst nicht alles über die Wechselwirkungen zwischen Genen, Arten, Lebensräumen und wie diese auf menschliche Eingriffe reagieren», sagt Frei. «Klar ist aber: Wir müssen uns mehr für die Biodiversität einsetzen.»

Die Situation ist kritisch Kürzlich hat das BAFU zwei neue Untersuchungsberichte zum Zustand der Biodiversität und zu den Roten Listen der gefährdeten Arten in der Schweiz publiziert. Sie kommen zum Schluss: Die Biodiversität in der Schweiz ist unter Druck. Ohne Massnahmen kann sie die Ökosystem leistungen, auf die wir angewiesen sind, langfristig nicht mehr erbringen. So ist fast die Hälfte der 167 untersuchten Lebensraumtypen – von Felsensteppe über Flaumeichenwald bis Hochmoor – bedroht. Zwei Prozent der Arten sind bereits ausgestorben, mehr als ein Drittel sind gefährdet –von verletzlich bis unmittelbar vom Aussterben bedroht. Weitere 12 Prozent werden als potenziell gefährdet eingestuft.

Zersiedeltes und artenarmes Mittelland

«Besonders kritisch ist die Situation im Mittelland», sagt BiodiversitätsExperte Frei. Hier dehnen sich Industrie- und Wohngebiete aus, Gleise und Strassen zerschneiden die Lebensräume. Zudem wird im Mittelland intensive Landwirtschaft betrieben, deren Dünger und Pflanzenschutzmittel die Artenvielfalt beeinträchtigen. Zwar gibt es heute mehr sogenannte Biodiversitätsförderflächen als noch 2017: Inzwischen machen sie fast einen Fünftel der Schweizer Agrarfläche aus. Diese fördern die Artenvielfalt nachweislich. Doch das reicht noch nicht. Diese Flächen müssten an Qualität gewinnen, also arten- und strukturreicher werden, und besser miteinander vernetzt sein, sagt Frei. Und: «Auch ausserhalb der Förderflächen ist eine nachhaltige Bewirtschaftung sehr wichtig, um die Belastungsgrenzen der Ökosysteme nicht zu überschreiten.»

Dazu kommt der Klimawandel: Höhere Temperaturen und längere Trockenzeiten verändern die Lebensräume. Damit kommen manche Arten gut zurecht, andere weniger. Viele Arten wandern in die Höhe, auf der Suche nach jenen Temperaturen, an die sie angepasst sind. «Besonders gut können wir die Auswirkungen der Hitze an den Tagfaltern erkennen», sagt Frei. Unter diesen gibt es Arten, die mit der Wärme gut zurechtkommen, sogenannte Wärmezeiger, und umgekehrt solche, die sich nur bei kalten Temperaturen gut entwickeln, die Kältezeiger. In den letzten Jahren hat sich gezeigt: Wärmezeiger entwickeln sich positiv, dagegen leiden die Populationen und die Artenvielfalt der Kältezeiger. «Wir beobachten, dass die Kältezeiger zunehmend in höhere Lagen migrieren.» Dort könnten sie den Platz wiederum anderen, auf diese Lebensräume spezialisierten Arten streitig machen.

In den Alpen gilt: nachhaltig nützen Den Lebensräumen in den Alpen geht es generell etwas besser als jenen im Mittelland. Doch: «Die Artenvielfalt in den Bergen zu erhalten ist ein Balanceakt», sagt Frei. Ein gutes Beispiel dafür sind Trockenwiesen, ein Lebensraum, der besonders viele Pflanzenund Tierarten beherbergt. Gibt man

BIODIVERSITÄT
TEXT: SANTINA RUSSO
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die Wiesen auf, indem man sie nicht mehr bewirtschaftet, überwachsen sie mit Büschen und Bäumen. Doch bewirtschaftet man die Wiesen zu intensiv, etwa indem man häufig mäht, schädigt dies die Biodiversität umso mehr. «Wir müssen das Land nachhaltig nützen mit einer Bewirtschaftung, die der Biodiversität förderlich ist», sagt darum Frei. Das werde in einigen Regionen bereits gemacht, müsste aber ausgeweitet werden.

Wie geht es geschützten Gebieten?

Die höchste Biodiversität beherbergen in der Schweiz die Biotope von nationaler Bedeutung. Dazu gehören etwa Hoch- und Flachmoore, Trockenwiesen, Auen und Amphibienlaichgebiete in der gesamten Schweiz. Das sind zwar flächenmässig kleine, aber besonders wertvolle und deshalb geschützte Lebensräume. Sie beherbergen rund ein Drittel der gefährdeten Arten. Nur: Die Untersuchungsresultate zeigen etwa, dass die Moore seit 1990 trockener und typische Flachmoorarten seltener geworden sind. Im Durchschnitt haben die Biotope seit den frühen 1990er-Jahren mindestens eine Amphibienart verloren. So nahm etwa

mehr Nutzgeflügel als Wildvögel gibt es in der Schweiz, gemessen an ihrer Biomasse. Die Wildvögel kommen auf 1100 Tonnen, das Nutzgeflügel auf 16 000 Tonnen.

WIE LÄSST SICH DIE BIODIVERSITÄT MESSEN?

In den Roten Listen ist zusammengestellt, welche Arten und Lebensräume wie stark gefährdet sind. In der Schweiz beruhen sie auf Daten des Schweizerischen Informationszentrums für Arten Infospecies, das sich seinerseits auf verschiedene Monitoringprogramme und auf Fundmeldungen von Expertinnen und Experten und Privatpersonen stützt. Die Monitoringprogramme untersuchen zudem, wie sich Lebensräume und Arten entwickeln, und versuchen, die komplexe Biodiversität möglichst umfassend zu beobachten. So erfassen Programme des BAFU die Entwicklung der Pflanzen, Brutvögel, Tagfalter, Gewässerinsekten oder Moose über die gesamte Schweiz. Andere Programme schauen sich die Artenvielfalt in bestimmten Lebensräumen an, etwa in den über 7000 geschützten Schweizer Biotopen oder der Agrarlandschaft.

die Anzahl von Kreuzkröten und Geburtshelferkröten ab – beides Arten, die bereits stark bedroht sind. Es gibt aber auch gute Nachrichten. So haben sich verschiedene andere Amphibien in den geschützten Gebieten positiv entwickelt. Allerdings sind die Lebensräume isoliert: «Viele Populationen sind in kleinen und isolierten Winkeln ihres Lebensraums eingepfercht», stellt Frei klar. In der Schweiz sind heute etwas mehr als dreizehn Prozent der Landfläche unter Schutz gestellt oder für die Biodiversität gesichert. Diese geschützten Flächen zu vergrössern oder mehr davon zu schaffen, werde immer schwieriger, sagt der BAFUExperte. «Wir haben in der Schweiz einfach nicht unbeschränkt Platz.»

Darum sei es umso wichtiger, die Qualität bestehender Schutzgebiete aufrechtzuerhalten, diese gut zu pflegen und sie – durch eine nachhaltige Nutzung der Landschaft –miteinander zu vernetzen.

Good News: Massnahmen wirken

Eine wichtige Erkenntnis der Untersuchungen war denn auch: Wir können etwas tun, um die Biodiversität zu fördern. Entsprechende Massnahmen

wirken. So konnten sich als Folge von Renaturierungs- und Naturschutzmassnahmen, beispielsweise im Aargau, einige seltene Amphibienarten stabilisieren, etwa Bergmolche oder Erdkröten. Auch dem Wald und seinen Bewohnern, etwa den Waldvögeln und -insekten, geht es vergleichsweise besser. Das liegt daran, dass heute mehr Totholz in den Wäldern liegen bleibt und die Strukturvielfalt grösser ist als noch vor 30 Jahren. Dieses fördert die Biodiversität und verbessert die Nährstoffbilanz im Waldboden.

«Es ist also durchaus möglich, die Situation zu verbessern», sagt Frei. «Darauf können wir aufbauen.» Um den negativen Trend umzukehren, brauche es aber mehr: einen umfassenden Ansatz. «Künftig müssen wir in allem, was wir tun – von der Siedlungsentwicklung bis zur Nahrungsmittelproduktion – den Schutz der Biodiversität miteinbeziehen.»

KONTAKT

Jérôme Frei Sektion Biodiversitätspolitik, BAFU jerome.frei@bafu.admin.ch

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Ein Albtraum für Laubbäume

Der Asiatische Laubholzbockkäfer befällt gesunde Laubbäume und kann sie innerhalb von wenigen Jahren zum Absterben bringen. Der meldepflichtige Schädling wird in der Schweiz rigoros bekämpft. Dabei spielt die Bevölkerung eine wichtige Rolle.

Fällen, häckseln und umgehend verbrennen – diese Massnahmen beendeten das Dasein von knapp 900 grossen und kleinen Bäumen, Sträuchern und holzigen Topfpflanzen in einem Siedlungsgebiet im luzernischen Zell. Auslöser der umfangreichen Fällaktion ab August 2022 war der Asiatische Laubholzbockkäfer, kurz ALB.

Gefürchteter Schädling

Der schwarz glänzende und hell getupfte, rund 2,5 bis 3,5 Zentimeter lange Käfer mit sehr langen Fühlern gehört weltweit zu den gefährlichsten Wald-Schadorganismen. «In der Schweiz und in der EU ist er einer von sechs prioritären Quarantäneorganismen für den Wald», sagt Aline Knoblauch, Co-Leiterin des Eidgenössischen Pflanzenschutzdienstes und der Sektion Waldschutz und Waldgesundheit beim BAFU. Das bedeutet, dass der ALB melde- und bekämpfungspflichtig ist.

Der Grund ist das grosse Zerstörungspotenzial des invasiven Schädlings. Im Gegensatz zu einheimischen Käfern,

Entdeckt! Trainierte Spürhunde können den Schädling erschnüffeln. DER ASIATISCHE LAUBHOLZBOCKKÄFER TEXT: MAJA SCHAFFNER
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ALB ENTDECKT?

BITTE UMGEHEND MELDEN!

Fast alle bisherigen ALB-Befälle haben Privatpersonen entdeckt. Bitte informieren auch Sie bei einem Verdachtsfall umgehend die zuständige kantonale Stelle. Es besteht Meldepflicht. So gehen Sie vor:

Käfer einfangen und in geschlossenem Glasbehälter mit Luftlöchern im Deckel aufbewahren. (Plastikgefässe können durchgebissen werden.)

Käfer fotografieren. Rasche telefonische Meldung an den kantonalen Pflanzenoder Waldschutzdienst. Die entsprechenden Kontakte finden Sie unter pflanzengesundheit.ch. Hilfe beim Bestimmen finden Sie hier: bit.ly/3KBP2hs

· Falls Sie unsicher sind: Lieber einmal zu viel als zu wenig melden!

die sich in der Regel an bereits geschwächten Gehölzen oder Totholz gütlich tun, befällt der ALB völlig gesunde Laubbäume. In Europa bevorzugt er Weide, Birke, Ahorn, Pappel, Rosskastanie und Ulme. «Die Larven fressen zunächst unter der Rinde im Bast und dringen später ins Holz ein», erklärt Doris Hölling, Schädlingsexpertin bei Waldschutz Schweiz. «Dabei beschädigen sie die Leitungssysteme der Bäume, durch die Nährstoffe und Wasser fliessen.» Dadurch können Kronenteile oder ganze Bäume absterben. Da der ALB in Europa ursprünglich keine natürlichen Feinde hat, könnte er ganze Wälder zerstören und auch viele Bäume in Siedlungsgebieten abtöten.

Ein blinder passagier aus Asien Ursprünglich kommt der Käfer aus Ostasien. Von dort aus, insbesondere aus China, reisen seine Larven manchmal trotz Vorsichtsmassnahmen in Verpackungsholz versehentlich um die Welt. Sie können sich selbst in 2,5 Zentimeter dünnen Latten zu Ende entwickeln. Schlüpft ein Weibchen und findet einen Geschlechtspartner, kann sich der Schädling am Reiseziel vermehren und verbreiten.

Um dies zu verhindern, setzt in der Schweiz der Eidgenössische Pflanzenschutzdienst dieselben vorbeugenden

Bekämpfungsmassnahmen um wie die EU, mit der sie einen gemeinsamen Pflanzenschutz-Raum bildet. «Damit Verpackungsholz aus Drittländern importiert werden darf, muss es gemäss einem international validierten Standard behandelt werden, zum Beispiel durch Hitze», erklärt Aline Knoblauch vom BAFU. Entsprechende Lieferungen müssen angemeldet und kontrolliert werden: Einerseits die Zertifikate, die vorbeugende Massnahmen bestätigen, andererseits wird das Holz von Auge und mithilfe von Spürhunden inspiziert. Die Hunde sind auf bestimmte Duftstoffe des ALB trainiert und können ihn erschnüffeln. Zusätzlich sucht man in der Schweiz seit einiger Zeit auch im Freiland aktiv nach dem Schädling, etwa in Siedlungsgebieten und an Waldrändern, wo das Risiko eines Erstbefalls höher ist.

Die Bevölkerung passt auf Das Auftauchen des Schädlings in Zell (LU) war der fünfte und bisher grösste nachgewiesene Freilandbefall in der Schweiz. Hier zeigte sich erneut, wie wichtig eine aufmerksame Bevölkerung ist. Denn wie an fast allen bisherigen Fundorten hat auch hier eine Privatperson den ALB entdeckt: «Ein Gartenbesitzer war dabei, einen Ahorn aus seiner Hecke herauszuschneiden, da fiel ihm der grosse Käfer auf», berichtet Miguel Zahner, Waldschutzbeauftragter des Kantons Luzern. Der Finder tat genau das Richtige: Er fotografierte das Tier, recherchierte im Internet und meldete seinen ALB-Verdacht beim kantonalen Forstdienst.

Zahner, der diese Nachricht erhielt, leitete das Bild an SchädlingsSpezialistin Doris Hölling von Waldschutz Schweiz weiter. Sie bestätigte den Verdacht: Es war tatsächlich ein Asiatischer Laubholzbockkäfer. Darauf aktivierte Zahner umgehend den bereitstehenden kantonalen ALBAktionsplan und informierte alle vorgesehenen Stellen und Personen. Er stoppte auch die Grünabfuhr: «Diese hätte am nächsten Tag das Grüngut abgeholt und damit womöglich den Schädling verbreitet.»

Die einzige Möglichkeit, den Schädling wieder loszuwerden, ist, ihm die Lebensgrundlage zu entziehen.

Konkret heisst das, alle Wirtsbäume in einem bestimmten Umkreis zu fällen. Dass dieses Vorgehen funktioniert, liegt am trägen Charakter des Käfers: Er ist sehr standorttreu. Zudem wird er wegen seiner Grösse kaum vom Wind verweht.

Bäume auch vorsorglich fällen In Zell machten sich der Waldschutzbeauftragte und seine Leute – unterstützt von SpürhundeTeams und Baumkletterern –umgehend daran, alle Laubbäume rund um den ersten Fundort zu kontrollieren und zu kartieren. Befallene sowie verdächtige Bäume entfernte Zahners Team laufend.

Anfang 2023 folgten Präventivfällungen: Ihnen fielen im Umkreis von 100 Metern um die Fundorte des Käfers die 15 als besonders anfällig geltenden Laubbaumgattungen zum Opfer. «Das war natürlich schwierig für die Menschen – besonders, wenn es einen Baum traf, der bei einer Geburt gepflanzt worden war», sagt Zahner. Der Waldschutzbeauftragte betont, wie verständnisvoll die Bevölkerung reagierte.

Allerdings ist die Sache noch lange nicht ausgestanden. Ab Frühjahr 2023 geht es nun darum, alle Bäume im Risikogebiet sowie Risikostandorte im weiteren Umkreis regelmässig zu kontrollieren. Von April bis November, in der Flugzeit des ALB, versuchen Zahner und sein Team zudem, allfällig verbliebene Käfer mit Fangbäumen anzulocken oder mit Fallen einzufangen. Als befallsfrei wird Zell erst gelten, wenn in vier aufeinanderfolgenden Jahren, also zwei Entwicklungszyklen des Käfers lang, kein ALB mehr auftaucht.

KONTAKT

Aline Knoblauch

Co-Leiterin Sektion Waldschutz und Waldgesundheit, BAFU, aline.knoblauch@bafu.admin.ch

LINK ZUM ARTIKEL bafu.admin.ch/magazin2023-3-11

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Was in Sachen Nachhaltigkeit und Umwelt in Ihrer Region läuft.

Selbstfahrender Bus in Schaffhausen Busfahren ist klimafreundlicher, als mit dem eigenen Auto unterwegs zu sein. Besondere Vorteile versprechen selbstfahrende Kleinbusse: Sie sind flexibler mit Routen und Fahrzeiten, sollen auch abgelegene Gebiete erschliessen und per App bestellt werden können. In Schaffhausen läuft seit April das Projekt «Linie 13» der Non-Profit-Organisation Swiss Transit Lab: Ein autonomer E-Kleinbus befördert täglich Fahrgäste zwischen der Stahlgiesserei und dem Bahnhof. Da selbstfahrende Autos in der Schweiz noch nicht erlaubt sind und sich das Projekt in einer Testphase befindet, sitzt noch eine Person auf dem Fahrersitz.

Aarau will Asphalt aufbrechen

Immer häufiger leiden Aarauerinnen und Aarauer im Sommer unter schlaflosen Nächten, Erschöpfung und Konzentrationsschwierigkeiten: Die Stadt muss etwas gegen die zunehmende Hitzebelastung tun. Dabei ist es relativ einfach, asphaltierte Flächen zu entsiegeln und darauf Grünflächen zu schaffen, um die Hitze zu mindern. Eine Entsiegelungsanalyse ergab nun, dass knapp ein Fünftel der öffentlichen Fläche der Stadt versiegelt ist, wovon etwa elf Prozent Entsiegelungspotenzial aufweist. Nun wird ein Aktionsplan erarbeitet.

Hotel mit Bremsenergie beheizt

Die Stoosbahn ist vor allem für eines bekannt: Als steilste Standseilbahn der Welt überwindet sie von der Gemeinde Schwyz zum Bergdorf Stoos stellenweise eine Steigung von 110 Prozent. Neu wird der Steilhang auch für die Energiegewinnung genutzt. Das Bremsen während der Talfahrt und die Abwärme aus dem Maschinenraum erzeugen so viel Energie, dass das neu eröffnete Hotel Stoos-Lodge mit Warmwasser versorgt und beheizt werden kann. So werden jedes Jahr rund 41 000 Liter Heizöl eingespart.

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SZ SCHWYZ
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ZH ZÜRICH

Stadtzürcher Spitäler: vegane Menüs als Standard

Ein pflanzenbasiertes Menu ist grundsätzlich klimafreundlicher als ein Gericht mit Fleisch. Deshalb will die Mehrheit des Zürcher Stadtrats, dass vegane Gerichte mit guter Ökobilanz in den Spitälern, Altersheimen und Personalrestaurants der Stadt zum Standardmenu werden. Das Postulat von Grünen und SP, das AL und GLP unterstützten, wurde mit 73 zu 40 Stimmen angenommen. Ein Menu mit Fleisch kann weiterhin gewählt werden, aber man muss es explizit bestellen.

Autofreier Barfüsserplatz

Barfuss läuft es sich besser im Grünen als mitten im Verkehr. Im März hat das Basler Parlament mit überwältigender Mehrheit die Umgestaltung des Barfüsserplatzes gutgeheissen. Wohl nicht wegen des Namens, der auf den Franziskanerorden zurückgeht, der sich 1231 dort niederliess, sondern um das Klima zu schützen und um die Gastronomie auf dem Platz zu fördern. So sind 1,4 Millionen Franken für den Wettbewerb und das Pilotprojekt bewilligt worden. Das Ziel: ein autofreier und grüner Platz.

Berner Haushalte als Vorreiter im plastiksammeln Was in manchen Ländern längst gang und gäbe ist, steht in der Schweiz am Anfang: Plastik sammeln und recyceln. Der Schweiz fehlt allerdings eine eigene Sortieranlage für Plastik wie Shampooflaschen oder Käseverpackungen. Damit sich ein Bau lohnt, muss zuerst die Sammelmenge um etwa die Hälfte erhöht werden. Der Kanton Bern macht hier vorwärts: Seit dem 1. Mai sammeln 270 000 Menschen in 50 Berner Gemeinden den Plastikabfall in ihren Haushalten in einem speziellen Sammelsack. Zudem arbeitet der Verein Swiss Recycling an einer Lösung für ein schweizweit einheitliches Plastiksammelsystem.

Solardorf im Engadin

Die Bündner Gemeinde Samedan soll zukünftig ihren gesamten Strombedarf aus Sonnenenergie decken. Dafür errichten das Elektrizitätswerk Samedan und die TNC Consulting AG eine Solaranlage mit einer Leistung von 30 Megawatt. Diese soll rund eineinhalb Mal so viel Strom produzieren, wie Samedan inklusive seiner Industriebetriebe in einem Jahr benötigt. Der überschüssige Strom wird in das regionale Stromnetz eingespeist. Dass die Solarpanels senkrecht stehen, ermöglicht, dass sich dieselbe Fläche weiterhin landwirtschaftlich nutzen lässt und die Anlage aus der Höhe weniger sichtbar ist.

Wassermangel über die Grenzen hinaus Wie schon letztes Jahr wurde es in Italien im Frühling wieder extrem trocken. Auch dieses Jahr droht der Po, die Lebensader der norditalienischen Landwirtschaft, wieder auszutrocknen. Er speist sich unter anderem aus dem Ticino, der in den Schweizer Alpen entspringt und über den Lago Maggiore in den Po fliesst. Heuer ist der Wasserstand des Lago Maggiore wieder tief, weil in den Alpen deutlich weniger Schnee liegt als in vergangenen Jahren. Laut einer Studie der ETH und des WSL sind Dürren, die durch fehlende Schneeschmelze verursacht werden, in jüngerer Vergangenheit häufiger geworden.

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REBECCA CLOpATH ist 1988 geboren. Mit 16 Jahren verliess sie den elterlichen Hof in Lohn (GR), um eine Lehre als Köchin zu machen, und arbeitete danach in ihrem Beruf. 2015 kehrte sie zurück und machte sich als Naturköchin selbstständig. Um auf ihrem Biohof den Garten, die Felder und den Stall professionell selbst bewirtschaften zu können, absolvierte sie zusätzlich die Ausbildung zur Bäuerin mit Fachausweis. Heute bietet Rebecca Clopath zusammen mit ihrem mittlerweile achtköpfigen Team Esswahrnehmungen an. Die mehrstündigen ErlebnisMenus sollen nicht nur die Bäuche der Gäste füllen – sondern auch deren Geist beflügeln. rebecca-clopath.ch

Nicht nur ein voller Bauch, sondern auch ein voller Kopf

Naturköchin Rebecca Clopath will genau wissen, woher die Zutaten für ihre Gerichte stammen. Sie wählt ausschliesslich Lebensmittel aus der Alpenregion und kreiert damit ungewöhnliche Erlebnis-Menus.

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Ich bin sehr naturnah aufgewachsen auf unserem Hof in Lohn, einem kleinen Bergdorf mit fünfzig Einwohnerinnen und Einwohnern in Graubünden. Wir hatten keinen Fernseher. Das Leben von uns Kindern hat sich draussen an den Bächen, auf den Wiesen und am Waldrand abgespielt. Wir haben alles in die Finger genommen, daran gerochen, es probiert. Das ist tief in mir drin.

Später, als Köchin, hat mich die Anonymität von Lebensmitteln gestört – obwohl ich an Orten gekocht habe, an denen schon früh bewusst lokale Produkte aus der Schweiz verwendet wurden. Es gab da ein Schlüsselerlebnis: In der Küche stand eine grüne Kiste mit riesigen, fast vierzig Zentimeter langen Rüebli, ohne Kraut. Der Küchenchef hat sie kurz angeschaut und fand, dass sie gut sind. Ohne den Geschmack zu testen. Die haben aber geschmeckt wie Wasser mit ein paar Tropfen Rüeblisaft drin. Das war der Moment, in dem ich mich fragte: Willst du das wirklich?

Mir geht es nicht darum, jedes Rüebli selbst aus dem Boden zu ziehen. Aber es ist mir wichtig, zu wissen, woher das Gemüse kommt: Wer hat es wie und warum angepflanzt? Wer sind diese Menschen und wie schauen sie zum Boden?

Heute lebe und arbeite ich wieder auf dem Hof, auf dem ich als Kind und Jugendliche zu Hause war. Denn hier funktioniert, was ich wichtig finde und realisieren möchte. Ich führe mein eigenes Eventlokal und daneben den Hof. Während der Vegetationszeit arbeitet das gesamte Team viel draussen. Unter anderem pflegen wir den Gemüsegarten, ernten Kartoffeln, sammeln Wildpflanzen oder Beeren.

Natürlich produzieren wir längst nicht alles selbst. Doch alle Produkte, die wir verwenden, stammen aus dem alpinen Raum. Das schränkt einerseits ein, da tolle Zutaten wie beispielsweise Zimt oder Nelken wegfallen. Aber es ist auch eine hoch spannende Entdeckungsreise, auf der wir viele neue Sachen entdecken.

Unseren Gästen bieten wir sogenannte Esswahrnehmungen an. Die Mehrgangmenus sollen vor allem schmecken – besonders dann, wenn wir Ungewohntes oder Ursprüngliches auftischen, wie Brownies, die mit Blut gebunden sind. Darüber hinaus möchte ich mit den Esswahrnehmungen Interesse, Wertschätzung und Freude wecken für das, was um uns herum ist. Mir ist wichtig zu zeigen, wie alles mit allem verbunden ist, und auch zum Nachdenken anzuregen. Ich sage immer: Unsere Gäste sollen nicht nur mit einem vollen Bauch, sondern auch mit einem vollen Kopf nach Hause gehen.

Wir laden regelmässig Kunstschaffende ein, für Ausstellungen oder andere Formate. Auch das inspiriert mich für neue kreative Gerichte. So sind unsere Esswahrnehmungen auch eine Art Kunstprojekt: eine Mischung aus Kunst, Kulinarik und Kultur. Wir haben uns zum Beispiel mit dem slowenischen Philosophen und Kulturkritiker Slavoj Žižek beschäftigt, mit verschiedenen Erfindungen aus dem Alpenraum –vom Sparschäler bis zur Relativitätstheorie – oder mit dem ältesten Kochbuch der Schweiz. Wenn man durch die 500 Jahre alten Rezepte blättert, wird einem bewusst: Das würde heute niemand mehr essen. Manche Speisen, wie Schwanenbraten oder Biberschwanz, früher Festtagsgerichte, wären heute sogar illegal.

Wir servieren auch Fleisch. Das sorgt regelmässig für Diskussionen mit unseren Gästen. Nicht nur, weil ich jeweils den Namen des Tieres angebe, von dem es stammt. Ich finde einfach, dass es auch hier wichtig ist, das grosse Ganze zu sehen: Fleisch essen ist bei uns oben, wo nicht so viel wächst und die Leute arm waren, eine Tradition. Und Traditionen sind für mich wertvoll. Alpwiesen, so wie wir sie kennen, gibt es ja auch nur, weil Vieh darauf weidet. Ausserdem produzieren die Tiere Dünger. Und wenn ich wählen kann, verteile ich anstatt Kunstdünger lieber Kuhmist auf Wiesen und Äckern.

In jeder Ausgabe von «die umwelt» schildert eine persönlichkeit ihre Beziehung zur Natur. Maja Schaffner hat die Aussagen von Rebecca Clopath zusammengetragen und aufbereitet.

Das Magazin «die umwelt | l’environnement» des BAFU erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Leserservice

bafu.admin.ch/leserservice +41 58 510 29 71 Herausgeber Bundesamt für Umwelt (BAFU).

Das BAFU ist ein Amt des Eidg. Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), bafu.admin.ch, info@bafu.admin.ch. Projektoberleitung

Katrin Schneeberger, Robert Stark Konzept | Produktion

Jean-Luc Brülhart (Gesamtleitung), Murielle Heimo, Daya Moser

Redaktion

Large Network Genève: Santina Russo, Maria-Theres Schuler, Carole Extermann, Pierre Grosjean, Gabriel Sigrist, Carole Berset, Audrey Magat

Externe journalistische Mitarbeit

Erik Freudenreich, Florian Niedermann, Stéphanie de Roguin, Maja Schaffner, Ori Schipper, Lisa Stalder, Brigitte Wenger

Design | Grafiken

Large Network, Genève: Aurélien Barrelet, Sabrine Elias, Lena Erard, Julien Savioz

Redaktionsschluss

13. Juli 2023

Redaktionsadresse

BAFU, Kommunikation, Redaktion «die umwelt», 3003 Bern, Tel. +41 58 463 03 34 magazin@bafu.admin.ch

Bildnachweis

Titelbild: Patrick Gueller/Keystone

S. 2–3/17–19/36–37/39/40–43

Marion Nitsch/Lunax

S. 4 Niklas Bienbeck/Universität Basel

S. 7/22 DR

S. 8 Andreas Gerth/BAFU

S. 9 Markus Bolliger/BAFU

S. 9 Renato Bagattini/Schweiz Tourismus

S. 11 Aurélien Barrelet/Large Network

S.12 Ivo Scholz/Switzerland Tourism

S. 19 Linda Haltiner/Eawag

S. 33 Jürg Fausch

S. 35 Michael Kupferschmidt/Keystone

S.38 Marcus Gyger/Schweiz Tourismus

S. 46 Markus Forte/Ex-Press

S. 50 Claudia Link

S. 52 Markus Buehler-Rasom/ Switzerland Tourism

Sprachen

Deutsch, Französisch; Italienisch (nur Focus) ausschliesslich im Internet Online

bafu.admin.ch/magazin

Auflage dieser Ausgabe

35 000 Exemplare Deutsch 13 160 Exemplare Französisch

Papier

Refutura, rezykliert aus 100 % Altpapier, FSC-zertifiziert mit Blauem Engel, VOC-arm gedruckt Schlusskorrektur, Druck und Versand Vogt-Schild Druck AG, Derendingen

Copyright

Nachdruck der Texte und Grafiken erwünscht, mit Quellenangabe und Belegexemplar an die Redaktion

ISSN 1424-7186

Schlüsseltitel: Umwelt (Bern. Print)

IMPRESSUM
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51 DIE UMWELT 3-23 M EINE N ATUR 360°

DER WALD UND DAS KLIMA

Ganze 95 Prozent der Bevölkerung erholen sich laut einer aktuellen Befragung im Wald – beim Spazieren, Joggen, Bräteln, Pilzesammeln. Der Wald ist ein unglaublich beliebter, ja, ein unverzichtbarer Raum, den es zu schützen und nachhaltig zu nutzen gilt. Auch, weil er wichtige Aufgaben erfüllt: Wälder beheimaten eine reiche Tier- und Pflanzenwelt, ihr Holz dient uns als Baustoff und Heizmaterial. Wälder schützen vor Lawinen und Erdrutschen und spenden im Sommer Kühle. Und: Sie binden CO2 und mildern so den Klimawandel. Doch der Klimawandel setzt unsere Wälder auch unter Druck: Trockenperioden lassen Bäume verdorren und erhöhen die Waldbrandgefahr, invasive Arten bedrohen ganze Bestände und Stickstoffeinträge gefährden den Waldboden. Was also tun? Dieser Frage widmet sich die nächste Ausgabe von «die umwelt». Wir stellen etwa vor, wie sich Wälder nachhaltig bewirtschaften lassen und wie sie klimaresistenter werden. Und wir werfen einen Blick auf die Bedeutung von Stadtbäumen.

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Wasser ist nicht nur konstituierend für die Landschaft in der Schweiz, sondern auch lebensnotwendig. Das Titelbild wurde im wilden Tal von Derborence (VS) aufgenommen, einem geschützten Gebiet.

VORSCHAU Markus Buehler-Rasom/Switzerland Tourism
Der Parc Ela ist der grösste Naturpark der Schweiz. Er zeichnet sich vor allem durch seinen Reichtum und die Vielfalt seiner Landschaften aus. Der Parc Ela ist Teil des nationalen Kulturerbes der UNESCO.
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