Leseprobe Sophia Band 1 - ISBN 978-3-7655-1235-3

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Tracie Peterson

Sophia Umwege zum Gl端ck


Copyright © 2010 by Tracie Peterson Originally published in English under the title Embers of Love by Bethany House, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A. All rights reserved. Titel der amerikanischen Originalausgabe: Embers of Love Copyright © 2010 Tracie Peterson Originalausgabe: Bethany House Alle Rechte vorbehalten. Deutsch von Friederike Gralle Lektorat: Konstanze von der Pahlen

© der deutschen Ausgabe: 2012 Brunnen Verlag Gießen www.brunnen-verlag.de Umschlagmotiv: Kevin White Photography, Minneapolis; CCat82/shutterstock.com Umschlaggestaltung: Olaf Johannson Satz: DTP Brunnen Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-7655-1235-3


Tracie Peterson Sophia - Umwege zum Gl端ck 336 Seiten, gebunden, 14 x 21 cm Erscheinungsdatum: 06.08.2012 ISBN 978-3-7655-1235-3 Bestell-Nr. 191235 EUR 14,99 (D) / SFr *22,50 / EUR 15,50 (A) * unverbindliche Preisempfehlung des Verlags




... George Vandermark wusste nicht, was er davon halten sollte, als seine Schwester und die in weiß gekleidete Braut am Bahn­ hof auf ihn zuliefen. Auch die anderen Leute in der Wartehalle starrten die beiden an. Eine ältere Frau, die hinter George stand, flüsterte ihrer Freun­ din zu: „Wie unpassend. Welche Braut behält denn ihr Kleid auf der Reise an? Es wird doch gleich schmutzig.“ Dann stellte sie sich neben George und sah ihn an: „Kennen Sie die beiden?“ „Ich denke schon“, antwortete er. „Zumindest die Dunkelhaa­ rige.“ Er trat vor und scherte sich nicht weiter um das missbilli­ gende Schnaufen der alten Dame. Sophia stellte ihre kleine Reisetasche ab, bevor sie George um den Hals fiel. „Ich habe dich so vermisst.“ „Mir scheint, dass du während deiner Abwesenheit erwachsen geworden bist. Ich sehe schon, ich werde dir die Jungs vom Leib halten müssen, damit sie dich nicht auf Schritt und Tritt verfol­ gen.“ „Ach, Unsinn. Du bist der, auf den man achthaben muss. Sieh dich doch mal an. So geschniegelt.“ Lachend ließ sie ihn los. „Darf ich dir meine liebe Freundin vorstellen?“ George schaute die junge Braut an, die neben ihnen stand, und tippte sich an den Hut. „Auf der Suche nach einer Hoch­ zeit?“, fragte er mit seinem gedehnten Südstaatenakzent. Er hat­ te noch nie ein Mädchen wie sie gesehen; sie war wirklich das hübscheste, das ihm je untergekommen war. Ihre blauen Augen hefteten sich geradewegs auf sein Gesicht, und auch George konnte nicht wegsehen. Sie sah wie eine dieser reizenden Pup­ pen aus dem Kaufhaus aus, mit goldenen Locken und glatter weißer Haut. „Lizzie, das ist mein Bruder George Vandermark. George, das ist Miss Elisabeth Decker.“ George tippte sich noch einmal an den Hut. „Tag auch!“ „Wir haben ein Problem. Lizzie – Miss Decker – muss mit uns nach Texas fahren. Sie wird doch nicht heiraten.“ 11


„Tatsächlich?“ Seine Gedanken fingen an zu rasen, als er da­ ran dachte, was für Komplikationen sich plötzlich ergaben. Es sah seiner kleinen Schwester ähnlich, mitten ins Wespennest zu stechen. „Ich habe ihr vorgeschlagen, dass sie einfach mit uns nach Texas kommen kann. Ihr Vater erklärt ihrer Mutter und­ ­ Mr. A ­ lbright just in diesem Moment die veränderte Lage.“ George sah auf die Uhr. Er hatte eine Million Fragen, wusste aber, dass sie jetzt in den Zug steigen mussten, wenn sie nicht auf den nächsten warten wollten. Weil er unschlüssig war, was er tun sollte, zerrte er an seiner Krawatte herum. Er hasste es, sich fein anzuziehen, aber um in den Osten zu reisen und seine Schwester abzuholen, hatte er seiner Mutter versprochen, sich ei­ nen neuen Anzug zu kaufen. Unglücklicherweise wurde das wollene Jackett mit einem langärmligen Hemd getragen, und die Junihitze war fast unerträglich. Ganz zu schweigen von der Krawatte, die ihm fast die Luft abschnürte. George war ver­ sucht, sich ihrer zu entledigen, bemerkte aber, dass die Gentle­ men um ihn herum alle einen Binder trugen. Zum Glück hatte er sich wenigstens gegen eine Weste entschieden. „Ich glaube, ich verstehe es noch nicht wirklich, aber es ist wohl das Beste, Sie geben mir erst einmal Ihren Koffer“, sagte er, um sich darüber klar zu werden, was sie tun sollten. „Ach, wartet mal. Miss Decker wird ja noch ein Ticket brauchen.“ Die junge Frau griff in ihren Pompadour und zog ein Bündel Geldscheine hervor. George lächelte, nahm ein paar Scheine und reichte ihr den Rest. „Das wird genug sein“, sagte er und machte sich auf zum Fahrkartenschalter. Worin um alles in der Welt hatte sich Sophia jetzt wieder eingemischt? Am Bahnhof mit einer Frau im Hoch­ zeitskleid aufzutauchen, das war selbst für seine Schwester unge­ wöhnlich. Es würde auf jeden Fall noch weitere Konsequenzen haben, aber Sophia schien Ärger geradezu magisch anzuziehen. Naja, vielleicht nicht gerade Ärger … aber Unvorhergesehenes. 12


Auf seinem Weg zurück konnte er sehen, wie die Leute sie im­ mer noch anstarrten und mit dem Finger auf die junge Braut zeigten. „Jetzt habe ich Fahrkarten für uns alle“, verkündete George. „Wollt ihr mir jetzt erklären, was es mit alldem hier auf sich hat?“ „Bitte, George, ich kann dir alles erklären, wenn wir erst mal im Zug sitzen“, sagte Sophia und schob ihn und Lizzie vorwärts. „Hilf Lizzie jetzt erst einmal in den Zug. Das Kleid ist etwas unhandlich; sie stürzt sonst noch, wenn du ihr nicht zur Seite stehst. Ich kann meinen Koffer selbst tragen.“ George zuckte mit den Achseln, nahm seinen Koffer in die eine Hand und ergriff dann Lizzies Arm. „Miss Decker, hier entlang.“ Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern ging direkt zum Bahnsteig, wo bereits der Zug wartete. „Herzlichen Glückwunsch“, empfing sie der Zugführer, als George und Lizzie näher kamen. „Sie sind aber wirklich ein hübsches Paar.“ George sah Lizzie an, die errötete. Zuerst wollte er dem Mann alles erklären, dann nickte er aber nur und half Lizzie die Stufen hinauf in den Personenwaggon. Sie zeigten dem wartenden Schaffner ihre Fahrkarten. „Das muss ja eine tolle Hochzeit gewesen sein“, sagte der Gepäck­ träger und nahm Sophia die Tasche ab. Dabei grinste er von ­einem Ohr zum anderen. Seine dunkle Haut sah gegen seine weiße Jacke noch dunkler aus. „Es war die beste Hochzeit seit Langem“, antwortete Sophia. Der Mann nickte und verstaute ihr Gepäck. Ein letztes Mal rief der Schaffner zum Einsteigen auf. Als sie sich gesetzt hatten, konnte George nicht umhin zu be­ merken, dass sich alle Köpfe nach ihnen umgedreht hatten. Überall sah man lächelnde Münder, und ohne Vorwarnung fing ein Mann laut an zu applaudieren, was dazu führte, dass bald das ganze Abteil es ihm gleichtat. „Ich wünschte, ich könnte einfach unter meinem Sitz ver­ 13


schwinden“, sagte Lizzie und zog den Kopf ein. „Es tut mir so leid.“ „Das ist jetzt nicht zu ändern“, sagte Sophia und tätschelte Lizzies Hand. „Wenn wir erst einmal für die Nacht angehalten haben, kannst du dich umziehen.“ George hatte Mitleid mit ihr. Ganz offensichtlich kränkte sie die Vorstellung sehr, mit einem Hinterwäldler verheiratet zu sein, der kaum lesen konnte, – auch wenn er jetzt gerade einen 30-Dollar-Anzug aus Houston trug. Er schenkte ihr ein Lächeln, doch Lizzie hielt ihren Blick streng auf den Boden gerichtet. „Warum erzählst du mir nicht mal, was eigentlich los ist und warum ihr beiden in eurer Hochzeitsgarderobe hier am Bahnhof aufgekreuzt seid?“, fragte er, als der Zug sich in Bewegung ­setzte. „Die Geschichte ist etwas kompliziert, aber wir haben ja eine lange Reise vor uns. Also …“, setzte Sophia an. „Elisabeth – nenn sie ruhig Lizzie, sie mag den Namen Elisabeth nicht so gern.“ Sie schaute zu Lizzie hinüber, die bestätigend nickte. „Lizzie musste fliehen.“ Verwirrt frage George: „Fliehen? Wovor denn?“ „Nun, weißt du, sie hat das nur getan …“, Sophia wies auf das Brautkleid, „naja, sie war eben nicht verliebt.“ George hätte fast laut aufgelacht, wäre ihr Blick nicht weiterhin völlig ernst ge­ blieben. Sophia hielt inne und schüttelte den Kopf. Sie lehnte sich zu­ rück und faltete ihre Hände. „Warte mal. Vielleicht hätte ich lie­ ber von vorne erzählen sollen.“ „Das ist im Allgemeinen das Beste“, sagte George. „Elisabeth und ich haben gemeinsam Seminare auf dem​ ­College in Philadelphia besucht und uns ein Zimmer geteilt. Sie ist in den letzten Jahren meine engste Vertraute gewesen. Be­ stimmt erinnerst du dich daran, wie ich von ihr erzählt habe, als ich im Sommer vor zwei Jahren zu Hause war.“ „Natürlich“, antwortete George, auch wenn er sicher war, dass sie nie erwähnt hatte, wie wunderschön diese Frau war. 14


„Nun, Lizzie ist für mich wie Familie. Sie hat eine traurige Vergangenheit – tragisch geradezu.“ „Oh, Sophia, du machst immer gleich ein Drama daraus.“ Rasch blickte Lizzie umher, um zu prüfen, ob sonst noch jemand mithörte. „Unsere Erscheinung ist schlimm genug. Halten wir es doch kurz.“ Sie sah George direkt an. „Meine Eltern haben sich vor etwa 10 Jahren scheiden lassen. Mein Vater hat wieder ge­ heiratet. Meine Mutter arbeitet für die Frauenbewegung und hält Männer in ihrem Leben für vollkommen überflüssig.“ „Und deshalb“, fuhr Sophia fort, „gab es Meinungsverschie­ denheiten zwischen Lizzie und ihrer Mutter, was ihre Zukunfts­ pläne anging. Eins führte zum anderen, und sie begann, mit ­Stuart Albright auszugehen.“ George hörte zu, wie Sophia sich über die bedauerliche Be­ ziehung von Lizzie und Mr. Albright ausließ. Scheinbar war dieser Mann sterbenslangweilig und liebte die goldgelockte Schönheit nicht im Geringsten. Wie er es geschafft hatte, sich nicht in sie zu verlieben, überstieg Georges Denkvermögen. Sie sah aus wie ein Engel. Wer würde sie nicht zur Frau haben wollen? „Obwohl sie Mr. Albright nicht liebte, hatte Lizzie das Ge­ fühl, dass sie keine andere Wahl hatte, als ihn zu heiraten, – bis sie soeben endlich zugab, dass sie die Hochzeit gar nicht wollte. Ihr Vater willigte ein, die Hochzeit abzusagen, und unterstützte auch meine Idee, sie mit zu uns nach Texas zu nehmen.“ „Und was ist mit Ihrem Bräutigam?“ „Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich …“, fing Lizzie an, bevor Sophia etwas sagen konnte. „Naja … wissen Sie … er kann mit schlechten Nachrichten nicht gut umgehen. Ich hatte ehrlich ge­ sagt einfach Angst. Nennen Sie mich ruhig feige, aber so ist es nun mal.“ George schüttelte den Kopf. „Ich würde Sie niemals feige nen­ nen, Miss Lizzie. Dafür kenne ich Sie noch gar nicht gut genug.“ „Nun, sie ist jedenfalls kein Feigling“, sagte Sophia. „Sie ist 15


sogar sehr mutig, dass sie dieser Farce ein Ende gemacht hat, be­ vor alles zu spät war.“ „Also wird sie einfach bei uns leben?“, fragte George. Lizzie wurde etwas rot und sah zum Fenster hinaus. Sophia nickte. „Sie braucht Zeit und Abstand, um herauszufinden, was sie als Nächstes tun möchte. Ihr Vater wird Kontakt mit ihr auf­ nehmen.“ „Der Vater ist gar nicht das Problem, oder?“, sagte George. „Was ist denn mit ihrer Mutter? Und dem Bräutigam? Scheint mir nicht der Typ Mann zu sein, der so etwas einfach hin­ nimmt.“ „Vielleicht nicht. Aber er weiß ja nicht, wo sie sich aufhält.“ Sophia wandte sich an Lizzie. „Und außerdem, welcher Mann würde schon einer Frau hinterherlaufen, die ihn so offensicht­ lich zurückgewiesen hat?“ George lachte. „Wenn sie so aussieht wie Sie, dann würde ich sie jedenfalls nicht so einfach davonkommen lassen.“ Lizzie blieb der Mund offen stehen. George lachte zwar herz­ haft, aber er befürchtete, dass er sie jetzt nur noch mehr beleidigt hatte. Deshalb lehnte er sich zurück und schob sich den Hut über die Augen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Sollten die Frauen doch denken, dass er schlief. Natürlich hätte er seine Zeit viel lieber damit verbracht, ­Lizzie Decker anzusehen. Sie war wirklich ein ganz besonders hübsches Exemplar. Und so vornehm. Sie erinnerte ihn sogar ein bisschen an die Geschichten, die ihm seine Mutter von den Frau­ en in Georgia vor dem Krieg erzählt hatte. Seine Mutter war ganz genauso elegant gewesen, bevor sie mit seinem Vater in den Westen gezogen war. Sie sagte immer, dass das Leben in Texas einer Frau jede Eleganz sofort austrieb, aber sein Vater hatte er­ widert, dass sie immer noch die eleganteste Frau war, die er kannte. Georges Blick verdüsterte sich, als er an seinen Vater dachte. Drei Jahre waren seit dem Waldunfall vergangen, der Rutger 16


Vandermark das Leben gekostet hatte. George hatte danebenge­ standen, als ein riesiger Kiefernstamm seinen Vater unter sich begraben hatte. Die Erinnerung verblasste nicht. Und sie wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass George sich für den Un­ fall die Schuld gab. Den Tag des Unfalls hatte George in Gedanken Tausende Male durchlebt. Die Schuld fraß ihn langsam auf, und sosehr er sich auch bemühte, er konnte den Anblick des zerquetschten Körpers seines Vaters einfach nicht abschütteln. Der fast eine Tonne schwere Baumstamm hatte ihn sofort getötet, also hatte er zumindest nicht leiden müssen. Aber es hatte weder Zeit ge­ geben, sich zu verabschieden, noch hatte George ihm sagen kön­ nen, dass er ihn liebte – und wie sehr er ihn brauchte. Es war einfach keine Zeit mehr gewesen.

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Kapitel 2

F

ast zwei Wochen später, im letzten Abschnitt ihrer Reise, begann Sophia allmählich, sich Sorgen über Georges Ge­ mütsverfassung zu machen. „Ich weiß nicht, warum er so un­ ruhig ist; das Schlimmste haben wir doch schon hinter uns“, ver­ traute sie sich Lizzie an. Der Zugwaggon ruckelte und neigte sich nach rechts, und Sophia musste sich festhalten, um nicht in ihre Freundin hineinzurutschen. Mit dem Houston-Ost-West-Zug zu reisen, war kein wirk­ liches Vergnügen: Wegen seiner Angewohnheit, auf den Schmal­ spurschienen kleine Hüpfer zu machen, wurde er liebevoll „das Kaninchen“ genannt. Nachdem sie in Nacogdoches umgestiegen waren, fuhr „das Kaninchen“ jetzt durch das Gebiet von Piney Woods. Sophia hätte die Strecke auch gerne auf einem Pferd zu­ rückgelegt, aber sie wusste, dass Lizzie damit keine Erfahrung hatte. Paul Bremond, der unter Houstoner Geschäftsmännern wohlbekannt war, hatte die Vision gehabt, eine Zugstrecke von Houston nach Shreveport in Louisiana zu bauen. Mit dem Houston-Ost-West-Zug war dieser Traum wahr geworden. Je­ doch war der arme Mr. Bremond einen Monat vor der Fertig­ stellung gestorben, sodass er die Einweihung der Strecke nicht mehr mit­erleben konnte. Die Öffentlichkeit hatte ihn für die Schmalspurbahn kritisiert und behauptet, dass er es bereuen würde, weil sich im Land gerade Züge mit Normalspurweite als Standard etablierten. Aber Mr. Bremond hatte die Strecke weiterbauen lassen, und nun hieß es, dass sie im nächsten Jahr endlich fertig sein würde. Sophia fand es außerordentlich schade, dass der Mann so hart für diesen Traum gearbeitet hatte, um dann kurz vor seiner Ver­ wirklichung zu sterben. Manchmal dachte sie, dass sie vielleicht 18


dasselbe Schicksal ereilen könnte. Das einzige Problem war, dass sie nicht genau wusste, wovon sie eigentlich träumte. „Diese Zugfahrt ist so unbequem“, stellte Lizzie fest und rutschte auf ihrem Sitz herum. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen so etwas hier als Hauptverkehrsmittel benut­ zen.“ Ein Lächeln huschte über Sophias Gesicht. „Das tun sie auch nicht. Naja, das stimmt auch nicht ganz. Der Zug ist das Haupt­ verkehrsmittel, um Vorräte nach Piney Woods zu transportieren. Aber er ist eben teuer, und die meisten Leute entfernen sich nie weiter als zwanzig Meilen von ihrem Haus, wenn überhaupt.“ „Und ich verstehe, warum“, antwortete Lizzie und hielt sich an der Armlehne fest. „Die meisten würden aber auch hierbleiben, wenn der Zug luxuriöser wäre.“ Sophia sah auf den leeren Sitz ihres Bruders. „George zum Beispiel. Er liebt Texas, und der einzige Grund zu verreisen war, um mich nach Philadelphia und zurück zu beglei­ ten. Naja, er fährt ab und zu nach Houston oder Lufkin, um Vorräte zu besorgen, aber er hat keine Ambitionen, die Gegend zu verlassen. Er liebt seinen Wald und die Menschen hier.“ Lizzie schüttelte den Kopf. „Das scheint mir eine sehr be­ schränkte Lebensweise.“ „Einigen kommt das sicherlich so vor.“ Sophia sah aus dem Fenster und bemerkte ein paar heruntergekommene Häuser. „Manche Leute haben aber keine Wahl. Die Menschen hier sind nicht gerade reich. Die meisten arbeiten im Sägewerk oder in den Holzernteunternehmen. Manche haben Vieh oder bauen Baumwolle an, andere Getreide. Aber der Krieg hat dem Süden sehr zugesetzt, das darf man nicht vergessen.“ Ihre Freundin wandte sich zu ihr und legte ihre Hand auf ­Sophias Arm. „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht kränken.“ „Oh, Lizzie, du könntest mich niemals kränken. Aber du musst dich auf einen kleinen Schock einstellen. Perkinsville ist nicht Philadelphia. Viele der Menschen, die jetzt deine Nach­ 19


barn sein werden, haben nur wenig Bildung genossen. Sie kön­ nen nur schlecht lesen und schreiben. Sie verstehen nicht wirk­ lich, warum das wichtig wäre, aber meine Hoffnung ist es, ihnen das beizubringen. Ich möchte die Leute hier in der Gegend dazu ermutigen, sich mehr zu bilden.“ „Gibt es keine Schule?“ Sophia dachte an das winzige Unterrichtsgebäude. „Doch schon, aber Bildung wird nicht wertgeschätzt – allein harte Ar­ beit zählt. In Perkinsville sind andere Dinge wichtig. Hier sind die Menschen schon glücklich, wenn sie ein Dach über dem Kopf haben – ganz zu schweigen von einem Fußboden.“ „Wie meinst du das?“ Lizzie schien die schlecht ausgebaute Strecke vergessen zu haben. „Viele hier haben nur Fußböden aus Lehm – selbst wenn es der sauberste Lehm ist, den man finden kann.“ Sie lachte. „Es ist immer wieder merkwürdig, Frauen zu sehen, die ihren Lehm fegen. Mama hat mir einmal erzählt, dass sie das früher auch ge­ tan hat, bis Papa ihr irgendwann einen Holzfußboden gelegt hat. Sie hat gesagt, mein Onkel und mein Vater haben monatelang Tag und Nacht Sperrholz gesammelt. Sie hat ihren Boden ge­ liebt, bis sie dann in das neue Haus gezogen sind, kurz bevor Papa gestorben ist.“ „Was ist denn mit deinem Vater passiert, Sophia?“ „Er ist von einem Baumstamm überrollt worden.“ „Einem Baumstamm? Wie kann das denn einen Mann um­ bringen?“ Sophia zeigte auf die vorbeifliegenden Bäume. „Siehst du die? Das sind Fichtenkiefern. Sie sind den Kiefern ganz ähnlich, die wir von der Ostküste kennen. Wir fällen hier Sumpfkiefern.“ „Sind denn nicht alle Kiefern mehr oder weniger gleich?“ Die Frage war natürlich naiv, und Sophia musste lachen. „Wohl kaum. Wenn du eine Weile in der Gegend bleibst, wirst du die Unterschiede noch früh genug lernen.“ „Aber was ist denn mit deinem Vater genau passiert?“ 20


„George und mein Bruder Rob waren gerade dabei, Vater zu helfen, die Ernte der Woche zur Bahn zu transportieren. Sie rollten die fertigen Baumstämme auf die Güterwaggons. Dabei werden mehrere Esel auf der einen Seite des Waggons einge­ spannt und dann mit mehreren Ketten und Kabeln an den Baumstämmen festgebunden, die sie auf der anderen Seite hoch­ ziehen. Ein paar besonders dicke Baumstämme werden so hin­ gelegt, dass, wenn die Esel vorwärtsgetrieben werden, die Baum­ stämme auf den Waggon hochrollen. Normalerweise funktioniert das sehr gut, aber dieses Mal ist die Kette gerissen. Der Baumstamm ist zurückgerollt und hat meinen Vater über­ rollt. Er hat etwa eine Tonne gewogen, und mein Vater hat es nicht mehr rechtzeitig geschafft, sich zu retten.“ „Eine Tonne? Das kann ich mir kaum vorstellen.“ „Der Baumstamm war riesig – er war bis kurz über den Baumwurzeln gefällt worden.“ Sophia schaute noch einmal auf die vorbeiziehende Landschaft. Sie war nicht zu Hause gewesen, als ihr Vater gestorben war. Die Nachricht wurde ihr von ihrer geliebten Tante Wilhelmina überbracht – derselben Frau, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Sophia eine gute Bildung zu verschaffen. „Der Kopf meines Vaters wurde zerschmettert. Er war sofort tot. Mama meinte, dass er die Gefahren kannte und es bestimmt so gewollt hätte. Ein schneller Tod war ja in jedem Fall besser als ein langsames Dahinsiechen … Ich war zu der Zeit gerade mit meiner Tante auf Reisen, und wir erfuhren erst etwa einen Monat später von dem Unfall. Da ging das College bereits wie­ der los, und mein Vater war schon lange begraben worden.“ Lizzie nickte. „Das war das Jahr, als wir uns kennengelernt haben.“ „Genau. Und das war wirklich ein Geschenk des Himmels.“ „Du hast noch nie viel darüber gesprochen, Sophia. Warum?“ Sie dachte einen Moment über Lizzies Frage nach. „Ich schät­ ze, weil es so weh tat, sich daran zu erinnern. Ich wusste, dass 21


George sich die Schuld für Vaters Tod gab. Wahrscheinlich habe ich das alles tief in mir vergraben, um mich vor seinem und vor meinem eigenen Schmerz zu verstecken.“ „Es tut mir so leid, Sophia“, sagte Lizzie traurig. „Und was ist mit deinem anderen Bruder – Rob? Gibt er sich auch dafür die Schuld?“ „Nein. Die Esel, die die Baumstämme hochzogen, scheuten, als die Kette nachgab. Sie konnten sich losmachen und rannten ein­ fach davon. Rob wurde mitgeschleift und auch schlimm verletzt. George hat Schuldgefühle, weil er den Baumstamm nicht zurück­ halten konnte. Er glaubt, dass er irgendwas hätte tun können. Aber Mama meint, dass das jedem hätte passieren können. Die anderen sind derselben Meinung – schließlich war er ja nicht allei­ ne da. Zu der Zeit hatten Papa und Onkel ­Arjan noch fünf andere Arbeiter angestellt, die ihnen halfen.“ „Wurden sie auch verletzt?“ „Nein, nur Papa und Rob.“ „Ich verstehe nicht, warum George sich dann die Schuld gibt – vor allem, wenn nicht mal eure Mutter das tut.“ „Ich kann mich auch alleine schuldig fühlen, dafür brauche ich keine Hilfe von anderen“, sagte George hinter ihnen. Sophia sah, wie Lizzie peinlich berührt wegschaute. „Aber des­ halb hast du noch lange nicht recht“, sagte sie zu ihrem Bruder. Sie war nie jemand gewesen, der seine Gedanken für sich behielt. „Ja, aber im Unrecht bin ich deshalb auch nicht“, antwortete er und nahm Lizzie gegenüber Platz. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und fixierte Sophia mit seinem Blick. Sie konnte den Schmerz in seinen blauen Augen sehen. „Nein, du bist einfach nur ein Dickkopf.“ „Sophia!“ Lizzie konnte es nicht fassen. „Sei nicht so schroff.“ George war überrascht, dass sie ihm so spontan zu Hilfe kam, und nickte etwas selbstgefällig. „Ja, sei nicht so schroff.“ Sophia verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich werde ihn bestimmt nicht mit Samthandschuhen anfassen, Liz­ 22


zie, und das solltest du auch nicht. Das bringt nichts. Der Unfall war nicht seine Schuld, und auch wenn er zu stur ist, das zu be­ greifen, ist es unsere Aufgabe, ihm dabei zu helfen.“ Schweigen senkte sich wie ein schwerer Mantel über sie. Keiner schien ge­ willt, Sophias Bemerkung infrage zu stellen oder die Unterhal­ tung fortzusetzen. Nach einigen Minuten sprach George schließlich doch. „Wir werden in etwa 20 Minuten anhalten.“ Er warf einen Blick nach draußen. „Außer natürlich, das Kaninchen hoppelt von den Gleisen.“ „Aber das glauben Sie doch nicht wirklich, oder?“, fragte Liz­ zie und griff sich erschrocken an den Hals. Er zuckte die Schultern. „Das kann schon mal vorkommen. Sollte es aber nicht. Nicht bei dem Tempo, das wir draufhaben. Ich könnte schwören, ich wäre von Nacogdoches zu Fuß schnel­ ler gewesen.“ Die Spannung löste sich, und George schien wieder etwas lo­ ckerer. Sophia schloss die Augen und flüsterte ein Gebet für ihn. Ihre Mutter hatte wenig von seiner anhaltenden Traurigkeit er­ zählt, aber Sophia hoffte, dass sie Zeit finden würde, einmal mit ihm alleine zu reden. Sie musste ihn überzeugen, seine Schuld­ gefühle abzulegen. In ihrer sachlichen Art fügte Sophia diesen Punkt ihrer Liste von Dingen hinzu, um die sie sich kümmern wollte, wenn sie wieder zu Hause war. Sie sollte bald schon die Buchführung und Leitung von Holzernte Vandermark übernehmen. Jetzt, wo sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, war sie dazu verpflichtet. Sie hatte es ihrer Familie versprochen – ein Versprechen, das ih­ rer Liebe zum Lernen entsprach. Sie erinnerte sich an lange Ge­ spräche mit ihrem Vater. „Ich werde alles lernen, was ich kann, um der Familie zu helfen“, hatte sie ihm erklärt. „Ich will, dass alles leichter wird für euch. Ich kann zwar nicht Holz fällen, aber ich kann mich um die Bücher kümmern.“ 23


An das Lächeln ihres Vater konnte sie sich noch sehr gut erin­ nern und spürte, wie stolz er auf sie gewesen war. „Das mach mal, Schätzchen. Du wirst mir eine große Hilfe sein.“ Sophia hatte so eifrig studiert wie möglich und ihre Familie dabei stets vor Augen gehabt. Sie war vielleicht nicht dafür ge­ macht, harte körperliche Arbeit zu leisten, aber alles, wofür man logisches Denken brauchte, entsprach sehr wohl ihren Fähig­ keiten. Ihre Familie brauchte sie, und genau aus diesem Grund hatte sie das Gefühl, ihre eigenen Träume hintenanstellen zu müssen. Mehr noch – sie erlaubte sich keinerlei Träume, die nicht auch ihrer Familie zugute kamen. Das würde alles nur noch mehr verwirren, und Sophia brauchte einen klaren Kopf, um ihre Pflichten zu erfüllen. Mit geschlossenen Augen dachte sie über ihre Zukunft nach und schob alle Sorgen beiseite. Sie fand Buchhaltung wahnsinnig langweilig. Wenn sie ehrlich war, hatte sie Biologie- und Botanik­ seminare immer vorgezogen. Wenn sie die Wahl gehabt hätte, wäre Sophia noch länger auf dem College geblieben. Sie seufzte. Was nützte es schon, sich jetzt darüber zu ärgern? Man erwartete von Frauen nicht, dass sie auf ein College gingen, noch wurden sie als Wissenschaftle­ rinnen ernst genommen. Aber ihre Begeisterung fürs Lernen war etwas, das ihr niemand nehmen konnte. Sophia liebte es, Bücher zu lesen, neue Welten und Kulturen zu entdecken. Ihr Intellekt war aber nichts, mit dem sie sich hätte schmücken kön­ nen. Männer fühlten sich schnell von ihr beleidigt, und Frauen waren eingeschüchtert. Im Grunde glaubte sie eher, dass Männer sich dumm vorkamen und Frauen Angst hatten zuzugeben, dass sie auch gerne gebildeter wären. Aber das war jetzt egal. Ihre Familie brauchte sie, und das gab ihr Trost. Naja, oder so etwas in der Art. Lieber Vater, betete sie im Stillen, ich weiß nicht, warum du mich gerade so gemacht hast. Ist es falsch, dass ich mich nach mehr sehne? 24


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