Widerspenstige Drucksachen

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Selbst wenn man den Überschuss der Qualizeichen hinzuzieht, bleibt das Verständnis von Materialität bei Peirce – wie bei einer Zeichentheorie nicht anders zu erwarten – eingeschränkt auf alle Aspekte, die der Semiose zuarbeiten.45 Materialität wird so zwangsläufig zu einem Produkt der Semiose. Diese Form der Materialität soll im Folgenden »zeichentheoretische Materialität« genannt werden und spielt für die Typografie zweifelsohne eine Rolle, da sie erstens alle Qualizeichen umfasst, welche die Identifizierung eines korrespondierenden Legizeichens erlauben, und darüber hinaus signifikante tonale Aspekte einbringt. Dass jedes Zeichen eine Form von Materialität besitzt, die gleichzeitig Produkt der Semiose und dennoch als Tone und Tinge nicht nur passiver Empfänger der Zuschreibungen des Legizeichens ist, stellt einen wichtigen Punkt dar – auch weil so zugänglich wird, dass es sich bei Zeichen – bei gedruckten genauso wie mentalen – ebenfalls um Dinge handelt und somit kein ontologischer Unterschied mehr zu den Dingen besteht, auf die sie Bezug nehmen.46 Die Drucksache als Ding erschöpft sich allerdings nicht in ihrer zeichentheoretischen Materialität. Um zu einem Verständnis von Materialität zu gelangen, das über die Semiose hinausgeht, ist es nötig, weiter dem Begriff der Performanz zu folgen. Die Hervorbringung von Materialität in der Performanz der Semiose bildet dabei die Schablone für das weitere Vorgehen. Semiose soll aber nur als eine der Praktiken verstanden werden, welche die Drucksache in ihrer Materialität konstituieren. So gehört es genauso zum Umgang mit Zeitschriften und Büchern, sie in Taschen durch die Stadt zu tragen, ihre Seiten umzublättern und mit Eselsohren zu versehen und sie auf Kopierer oder Beistelltische zu legen. Erstens existieren rund um die Drucksache also eine Vielzahl von Praktiken neben dem Lesen, denen man genauso Anteil an der Hervorbringung der Materialität der Drucksache zusprechen sollte, und zweitens ist das Lesen – als die Praxis, die normalerweise im Zentrum steht, wenn die Semiose von Drucksachen untersucht wird – in ein Geflecht von Materialitäten eingebunden, die mitbestimmen, wie und ob gelesen wird.

Repräsentamen und Materialität  —  33

45 Mit Sybille Krämer könnte

man an dieser Stelle kritisieren, »[d]ie Sinnlichkeit der Schrift gilt als Steigbügelhalter des Sinns; […].« Sybille Krämer: »Operationsraum Schrift. Über einen Perspektivwechsel in der Betrachtung der Schrift«, in: Schrift: Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, hrsg. v. Gernot Grube/Werner Kogge/Sybille Krämer, München: Fink, 2005, S. 23–60, hier S. 26. Allerdings lässt sich ihr aus dieser Kritik entwickeltes Gegenkonzept der Operativität durchaus in der peirceschen Semiotik wiederfinden (siehe Kapitel 6). 46 Folgt man dieser Annahme, entfällt einer der Hauptkritikpunkte, der von Seiten nicht-cartesianischer Ansätze gegenüber der Semiotik angebracht wird. Vgl. dazu etwa Karen Barad: »Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter«, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 28.3 (2003), S. 801–831, hier S. 811.


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