Widerspenstige Drucksachen

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Hypothese zwangsläufig widersprechen: Schrift verfügt über spezifische Ausdrucksmöglichkeiten, die kein Pendant in der Mündlichkeit besitzen, genauso wie sich viele mündliche Eigenschaften nicht schriftlich festhalten lassen. Die Absurdität der Vorstellung einer bijektiven Abbildung zwischen Graphemen und Phonemen stellt sich allein durch die Anzahl der Glyphen in einer modernen Schriftart ein, die rund 200 Stück in wenigstens drei Schnitten20 umfasst und damit einen eindeutigen Zusammenhang mit dem europäischen Phoneminventar ausschließt. Das soll nicht heißen, dass kein Zusammenhang zwischen Mündlichkeit und Schrift besteht. Schrift aber als sekundäres System zu klassifizieren, ist hochgradig problematisch, auch wenn man sich vor Augen führt, welchen Einfluss Schrift über die Jahrhunderte auf Mündlichkeit hatte.21 Diese Bestimmung lässt Wehde nurmehr den Zeichenträger als Ort der Typografie zurück. Hierbei macht sie allerdings eine weitere Unterscheidung und trennt Materialität und grafische Konfiguration.22 Die Bestimmung der Schrift als sekundäre Abbildung von Mündlichkeit lässt ihr an dieser Stelle keinen Raum für Ikonizität, weshalb dieser Umweg über den Zeichenträger nötig wird. Ikonizität wird so zu einem sekundären, im Sinne Ecos konnotativen23 System, das erst über den Umweg des Außen in die Semiose eindringt. Trotz aller Kritik an Bestimmungen der Typografie über den Umweg der Materialität soll an dieser Stelle Susanne Wehdes Beispiel ein Stück weit gefolgt und ein genauer Blick auf das Repräsentamen in der peirceschen Zeichenkonzeption geworfen werden. Auf diesem Weg kann gezeigt werden, wie Materialität im semiotischen Kontext gefasst werden kann und wo die Grenzen eines zeichentheoretisch geleiteten Materialitätsverständnisses liegen. Auch wenn Materialität nicht der Ort sein kann, an den sich Theorien des Typografischen zurückziehen, ist ihre Betrachtung keineswegs nebensächlich für ein typografisch aufgeklärtes Verständnis von Schrift, sondern nimmt für sie eine zentrale Rolle ein.

Repräsentamen und Materialität  —  27

20 Vgl. Unger: Wie man’s

liest, S. 176f. 21 So zeigt Christian Stetter,

dass Wort und Satz als grammatische Kategorien erst mit der Entwicklung der Schrift denkbar wurden: vgl. Christian Stetter: Schrift und Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997, S. 10. Gleichsam muss man mit Jäger geltend machen, dass die Logik der Selbstbearbeitung, die oft erst der Schrift zugesprochen wird, ihre Wurzeln in der Mündlichkeit hat und somit bereits ein zentrales Verfahren der Schriftlichkeit vorausnimmt: vgl. Ludwig Jäger: »Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen«, in: Performativität und Medialität, hrsg. v. Sybille Krämer, München: Fink, 2004, S. 35–74, hier S. 40. Die von Stetter beschriebene »Kohabitation« zwischen Schrift und Mündlichkeit (Stetter: Schrift und Sprache, S. 9) muss also als symmetrisches Einflussverhältnis, das durch beständige intermediale Transkription getragen wird, konzeptionalisiert werden.


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