Widerspenstige Drucksachen

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Reinterpretationsmotor klassischer Schnitte – erlaubt nun aber, bestehende Entwürfe nicht länger analog – durch Nachzeichnen –, sondern digital zu kopieren. Diese Erleichterung erschließt der Typografie die transkriptive Logik des Samplings. Die Schriften in FUSE sind nicht nur als Sample-Quellen konzipiert, sondern entspringen teilweise selbst dieser Logik – etwa »Can You (and Do You Want to) Read Me« aus Ausgabe Nr. 1, in der auch alle Kapitel-Zwischenseiten dieses Textes gesetzt sind: Das Konzept zu der Schrift stammt aus den frühen Achtzigern und ist Teil einer Untersuchung, die zeigen soll, wieweit sich das gemeine Alphabet beschneiden lässt, ohne seine Lesbarkeit vollends zu zerstören. Damit schließt der Gestalter Phil Baines direkt an vergleichbare Experimente von Brian Coe an, dessen Skizzen für eine reduzierte Grotesk 1968 in Herbert Spencers Lesbarkeitsstudie »The Visible Word« erscheinen.91 Die Spur des beschnittenen Alphabets reicht tatsächlich mindestens bis ins Jahr 1843 zurück, in dem Maître Leclair – ein französischer Notar – ein Buch veröffentlicht, das nur die obere Hälfte aller Zeilen zeigt und so auch nur die Hälfte der Druckerschwärze benötigt.92 Ganz ähnliche, wenn auch anders motivierte, Untersuchungen stellt Ende des 19. Jahrhunderts auch Emile Javal an und begründet damit die experimentelle Untersuchung der Buchstabenerkennbarkeit, aus der sich später die Lesbarkeitsforschung entwickelt. Baines bezieht sich hier also auf einen zentralen Berührungspunkt von Typografie und empirischem Experiment. Auch wenn das Konzept als solches und Phil Baines konkreter Plan zu der Schrift eindeutig vordigital sind, entsteht »Can You …« klar unter dem Vorzeichen des digitalen Samplings und bedient sich der nun offenen Formen von Adobes »Clarendon Light«.93 In dieser Fassung seiner Schrift unternimmt Baines keine Versuche, die Schnitte in den Glyphenkörper von Clarendon zu verschleiern, was an vielen Stellen zu ungewöhnlichen Spitzen an den Stämmen der Buchstaben führt. FontFont veröffentlicht 1995 eine weitere Version der Schrift unter dem Titel »You Can Read Me«,

Störungen in der digitalen Typografie  —  113

91 Vgl. Herbert Spencer: The

Visible Word, 2nd revised edition, New York: Visual Communication Books, 1969, S. 62.

92 Vgl. Unger: Wie

man’s liest, S. 69.

93 Vgl. Phil Baines: »Can You

(and Do You Want to) Read Me?«, in: FUSE 1 (1991), S. 3.


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