Nun hat der Krieg ein Ende. Erinnerungen aus Hohenschönhausen.

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Einführung Wie leben Menschen in Zeiten des Krieges, was tun sie, wenn die Welt um sie herum unterzugehen droht? Was zählt? Der Kampf ums Überleben. Das sichere Versteck. Sie leiden und sind verzweifelt. Sie beklagen die Toten. Und doch, das alltägliche Leben geht weiter. Sie essen, trinken und schlafen, sie lieben sich, sie schreiben Briefe an ihre nächsten Freunde und Verwandten. Und da sind einige, die Tagebuch führen. Auf kleinen Notizzetteln oder in ein eigens dafür vorgesehenes Heft schreiben sie hastig alles auf, was um sie und mit ihnen geschieht. Sie beschreiben den Alltag, ihre Gedanken und Gefühle, die Sehnsucht nach Frieden »Der große Tag: Frieden! Der erlösende Moment, auf den wir fünf und dreiviertel Jahre gewartet haben. Deutschland hat bedingungslos kapituliert. Nun hat das Blutvergießen ein Ende.«: notierte Kurt Wafner am 9. Mai 1945 in sein Tagebuch. Gerda Lohausen fühlte beim Anblick der Russen die Ohnmacht des deutschen Volkes. In ihren Erinnerungen schreibt sie: »Im Keller haben wir uns damit abgefunden, daß wir das Schrecklichste, den Russen, über uns ergehen lassen müssen.« Für Liselotte Millis überwog am 8. Mai das Gefühl der Befreiung von Angst und Krieg. Im Umfeld von Hildegard Goerlich wollten die Menschen lieber trocken Brot, als weiterhin diesen Krieg. Horst Kern kam in Kriegsgefangenschaft und begann, über den Krieg nachzudenken. Hermann Wegener mußte sein Abitur abbrechen und auf dem Bauernhof seines Vaters, der die sowjetischen Internierungslager nicht überlebte, mithelfen, die Familie zu ernähren. Clemens Napieraj, Sohn des Friedhofinspektors, wurde als 9jähriger zum Leichenbestatter. Hildegard Müller konnte sich nach der Befreiung ihren Berufswunsch, Lehrerin zu werden, erfüllen. Lisel Jacoby hat lange auf den Tag gewartet, endlich wieder ein Mensch zu sein, ohne Registriernummer, ohne Kennkarte mit dem aufgedruckten »J«, ohne Angst der Verfolgung und Ent6


würdigung. Ingrid Mattern hatte große Angst vor dem Einmarsch der Russen. Der Keksfabrikantin Martha Heinzmann wurde das Letzte abverlangt, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten. Doch am 7. Mai fehlte ihr die Kraft zum Weiterleben. Es sind die ganz persönlichen Schicksale von Menschen aus Hohenschönhausen, erlebt in den letzten Wochen des Krieges und in den ersten Monaten nach dem Einmarsch der Roten Armee, die im nachfolgenden Buch aufgezeichnet werden. Dabei bleibt es oft nicht aus, daß ihre Reflexionen bis in die 50er Jahre reichen. Der Krieg und sein Ende hat ihre Lebensläufe, so wie die der meisten Deutschen, einschneidend verändert. Sie waren noch jung, als der von Deutschland entfachte Krieg mit seiner ganzen Wucht in das Ursprungsland zurückkehrte. Fliegeralarm und Bombennächte bestimmten den Rhythmus des Alltags. Deutsche Städte fielen in Schutt und Asche. Deutschland selbst wurde zum Schlachtfeld. Flüchtlingstrecks zogen von Pommern, Schlesien und Ostpreußen nach Westen. Artillerie und Panzer kündigten das Nahen der Sieger an. Was werden die Russen tun? Werden sie Vergeltung üben? Bange Fragen über das, was nach dem Ende kommt, bewegten jeden. Die hier vorliegenden Erinnerungen an das Jahr 1945, Tagebuchaufzeichnungen und Briefe sowie die Gespräche, die 50 Jahre später geführt wurden, sind einige Mosaiksteine, die das Bild über die Ereignisse der letzten Kriegsmonate in Hohenschönhausen, das damals zum Bezirk Weißensee gehörte, ergänzen. Das facettenreiche Porträt ist unvollkommen, denn noch längst nicht sind alle Quellen über diese Zeit gänzlich ausgeschöpft, bleiben viele Zeitzeugen ungefragt oder möchten ihre schmerzlichen Erinnerungen nicht der Öffentlichkeit preisgeben. So erhebt die vorliegende Zusammenstellung nicht den Anspruch, repräsentativ für alle Hohenschönhausener zu sein und eine umfassende historische Darstellung zu ersetzen.

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Die Autoren lassen auf den folgenden Seiten alle Zeitzeugen zu Wort kommen, die sich in Vorbereitung auf die Ausstellung »Als die Befreier kamen - Hohenschönhausen vor 50 Jahren« gemeldet haben. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Hohenschönhausens haben Zeugen der Vergangenheit frei von ideologischen Leitbildern und sehr offen über die Ereignisse vor 50 Jahren berichtet, so, wie das Geschehen von ihnen in unterschiedlichster Weise erfahren und wahrgenommen wurde. Dabei sollte die Leserinnen und Leser berücksichtigen, daß subjektiv geprägte Erinnerungen wiedergegeben werden, die auch widersprüchliche Aussagen enthalten. Manches bleibt unausgesprochen oder ungenau, weil sich die Erinnerung in der Vergangenheit zu verlieren scheint. Die uns freundlicherweise überlassenen Tagebuchaufzeichnungen und Briefe sind wörtlich übernommen, die nachträglich geführten Tonbandprotokolle wurden mit Genehmigung der Gesprächspartner behutsam stilistisch redigiert. Das im vorliegenden Buch verarbeitete Material war Bestandteil der anläßlich der 50. Wiederkehr des Endes des Zweiten Weltkrieges im Heimatmuseum von Hohenschönhausen gezeigten Ausstellung »Als die Befreier kamen - Hohenschönhausen vor 50 Jahren«. Sie gab vielen Besuchern Anregung, über das Jahr 1945 nachzudenken. Um diesen sehr persönlichen Zeugnissen auch über die Dauer der Ausstellung hinaus einen achtbaren Platz einzuräumen, ist die Idee zu diesem Buch entstanden. Ein Großteil des Fotomaterials und zahlreiche Dokumente, die sich in erster Linie auf den Standort Hohenschönhausen beziehen, wurden aus der Ausstellung übernommen. In ganz Europa war der Zweite Weltkrieg mit dem 8. Mai beendet. Vielen Menschen brachte dieser Tag Frieden, die Befreiung von Nationalsozialismus und Barbarei. Das Nachdenken über das Ende des Krieges erfordert, seine Ursachen zu erkennen, den 30. Januar 1933 und die folgenden zwölf Jahre des »Tausendjährigen Reiches«, das

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Denken, Handeln und Fühlen der Menschen in dieser Zeit zu reflektieren. Fast sechs Jahre hatte der Krieg gedauert. Nahezu 80 Prozent der Erdbevölkerung und 22 Millionen Quadratmeter unseres Planeten wurden vom ihm erfaßt. 1945 waren es über 60 Staaten, die gegen Deutschland Krieg führten. Er forderte mindestens 62 Millionen Tote unter der Zivilbevölkerung und den Soldaten. Allein 27 Millionen Menschenleben hatte die UdSSR zu beklagen, Deutschland über fünf Millionen. Nie zuvor war in einem Krieg das deutsche Hinterland in einem solchen Maße als Kampfgebiet einbezogen. Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung waren ein fester Bestandteil der Kriegsführung. Die Ursachen des Krieges sind sehr komplex, wobei viele Historiker sie in der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg sehen. Die Forderungen der Sieger an das besiegte Deutschland, festgeschrieben im Vertrag von Versailles, schürten bei vielen Deutschen Existenzangst. Hinzu kam für große Teile der Gesellschaft das Schreckgespenst der bolschewistischen Revolution, die auf das eigene Land überzugreifen drohte. Und schließlich hatte die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise Deutschland besonders hart getroffen. Soziale und politische Spannungen, die es schon in der Weimarer Republik gab, verschärften sich. Aufgrund der Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Depression sowie des Versagens der agierenden Parteien rückten viele Menschen von der Republik ab und wandten sich links- und rechtsradikalen Positionen zu. Die Rechtsopposition sammelte sich in der National-Sozialistischen Partei Deutschlands, in der NSDAP. Ihr Programm setzte sich aus älteren ideologischen Bestandteilen zusammen, wie Rassismus, Antikommunismus, Antisemitismus, Antikapitalismus und übersteigertem Nationalismus sowie einer »Volksgemeinschafts«-Ideologie, die besondere Anziehungskraft unter den Wählern fand.

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Der Krieg war im politischen Konzept der Nationalsozialisten von vornherein enthalten. Schon 1925 legte Hitler in seinem Buch »Mein Kampf« politische Ziele fest, die in mancher Hinsicht an extreme Kriegsziele des Ersten Weltkrieges anknüpften. Das außenpolitische Programm sah als zentrales Ziel die Vernichtung des jüdischen »Todfeindes« und die Eroberung von »Lebensraum im Osten« vor. In einer ersten Etappe nach der Machtergreifung sollte in Deutschland der »Krebsschaden der Demokratie« beseitigt werden und Juden, Bolschewisten und Marxisten aus der nationalen Gemeinschaft ausgestoßen werden. Nach der Konsolidierung des nationalsozialistischen Reiches im Innern war vorgesehen, die deutsche Position in Zentraleuropa zu festigen und zu erweitern. Anschließend sollte Deutschland als »Großgermanisches Reich deutscher Nation« zur Weltmachtstellung geführt werden. Die Mehrheit des konservativen und national eingestellten Bürgertums sowie Teile der Arbeiter billigten, verführt von sozialpolitischen Versprechungen der Nationalsozialisten, die Machtergreifung Hitlers, weil sie sich von ihr ein Ende der wirtschaftlichen Not versprachen. Zwar sank die Zahl der Arbeitslosen, zwar schien Ordnung und Ruhe in der Gesellschaft Einzug zu halten, doch die Abwendung von der Republik führte nicht zu der erhofften »konservativen Erneuerung«, sondern vielmehr im Ergebnis zum totalitären Führerstaat, der nationalsozialistischen Diktatur. Mit dem Reichstagsbrand vom 28. Februar 1933 lieferten die Nazis den Vorwand, durch eine Notverordnung die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft zu setzen. Es war der Beginn der Verfolgung, Verhaftung und der physischen Vernichtung politischer Gegner, die vor allem im linken Lager standen. Durch die Zerschlagung aller anderen Parteien und der Gewerkschaften konnte die NSDAP im Sommer 1933 das Monopol der politischen Macht in Deutschland erobern. Das neue Regime gewann jene Teile der Wirtschaft, die Hitler bislang nicht unterstützt hatten, mit

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seinen Aufrüstungsplänen sowie durch die Ausschaltung der Gewerkschaften und die Beseitigung der Tarifautonomie. Durch kreditfinanzierte Staatshaushalte wurde die Wirtschaftstätigkeit belebt und die Arbeitslosigkeit allmählich abgebaut. 1936 waren die Voraussetzungen zur Kriegsführung gegeben. Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, dem Aufbau der Wehrmacht, einschließlich einer Luftwaffe sowie dem Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland, dem »Anschluß« Österreichs und der Annexion der Sudetengebiete wurde der Versailler Vertrag von 1918 gewaltsam revidiert. Im März 1939 folgte die von den Westmächten gebilligte Zerschlagung der Tschechoslowakei. Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Eine rigorose Umsiedlungspolitik vertrieb die polnische Bevölkerung aus den westlichen polnischen Gebieten, die als »Warthegau« und »Reichsgau Danzig-Westpreußen« an das Reich angeschlossen wurden. Sogenannte «Volksdeutsche« wurden angesiedelt. Einsatzgruppen der SS, Gestapo, des Sicherheitsdienstes (SD) und der Polizei unternahmen im »Generalgouvernement« Polen Terror- und Vernichtungsaktionen - vor allem gegen die jüdische Bevölkerung. »Blitzkriege« gegen Dänemark und Norwegen im April 1940 leiteten den deutschen Angriff im Westen ein. Die neutralen Staaten Belgien, Luxemburg und die Niederlande wurden überfallen und am 14. Juni 1940 kam es zur kampflosen Besetzung von Paris. Unter Bruch des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspaktes begann am 22. Juni 1941 der deutsche Überfall auf die Sowjetunion in dessen Folge vor allem die Bevölkerung einem grausamen Terror ausgesetzt war. Die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland und den besetzten Ländern war von einem bis dahin nicht gekannten Schrekkensregime begleitet. In zahllosen Konzentrationslagern wurden Millionen Menschen industriemäßig liquidiert, sie wurden erschlagen, ertränkt, vergast und verbrannt. Allein der Holocaust am jüdi11


schen Volk forderte sechs Millionen Opfer. Überall in Deutschland, auch in Hohenschönhausen, wurden Menschen aus den besetzten Ländern zur Arbeit gepreßt, mußten unter unzumutbaren Bedingungen Zwangsarbeit für Deutschland leisten. Die Niederlage der deutschen Wehrmacht bei Stalingrad Anfang 1943 veränderte das Kräfteverhältnis im Krieg und leitete die Wende ein, die durch militärische Operationen der Westmächte begünstigt wurde. Die Rote Armee begann ihren Vormarsch nach Westen, befreite das Territorium der UdSSR und war nun bemüht, den Aggressor in seinem eigenen Land zu vernichten. Der amerikanisch-britische Bombenkrieg gegen Deutschland, der im Mai 1942 seinen Anfang nahm, erreichte im November 1943 Berlin. Es begann die systematische Bombardierung der Reichshauptstadt. Der wohl schwerste Bombenangriff am 3. Februar 1945 forderte 2.600 Tote und 100.000 Obdachlose. Verglichen mit anderen Bezirken hatte man in Hohenschönhausen und den Ortsteilen Malchow, Wartenberg und Falkenberg relativ wenig Verluste durch den Luftkrieg zu beklagen. Dennoch gab es auch hier eine Reihe von Zerstörungen. Am 16. Januar 1943 traf die erste Bombe in Hohenschönhausen die Siedlung Gartenstadt. Anfang 1944 hatten die Alliierten die Luftherrschaft über Deutschland errungen. Nach der alliierten Invasion in der Normandie im Juni 1944 wurden die deutschen Truppen von Osten, Süden und Westen auf die Reichsgrenzen zurückgedrängt. Als sich die Regierungschefs der drei Hauptalliierten USA, Großbritannien und Sowjetunion zur Konferenz auf der Krim im Februar 1945 trafen, standen die alliierten Armeen bereits innerhalb der Grenzen Deutschlands. Der Krieg war endgültig auf den Boden Deutschlands zurückgekehrt. Doch bis zur Unterzeichnung der Kapitulation wurde noch viel Blut vergossen werden. Hunderttausende Armeeangehörige und Zivilisten verloren ihr Leben, weil die politische und militärische Führung des Nazireiches nicht bereit war, den aussichtslo12


sen Kampf zu beenden. Man verstärkte dagegen die antibolschewistische Propaganda und verschärfte den Terror gegen jene deutschen Soldaten und Zivilisten, die nicht mehr an den »Endsieg« glaubten. Allein die »Schlacht um Berlin«, die vom 16. April bis 2. Mai dauerte, war eine der größten und verlustreichsten des Zweiten Weltkriegs. Ein Drittel der sowjetischen Streitkräfte war dabei im Einsatz. Nach ihren eigenen Angaben verlor sie rund 200.000 Mann, davon 100.000 im Kampf um die Seelower Höhen. Auf deutscher Seite waren für die Verteidigung Berlins nur etwa 100.000 mangelhaft ausgebildete Soldaten, ergänzt durch Volkssturm- und Arbeitsdiensteinheiten, Polizei- und Feuerwehrkräfte, eingesetzt. Am 16. April 1945 begann die letzte große Offensive der Roten Armee an der Oder. Geführt wurde sie von der 1. Belorussischen und der 1. Ukrainischen Front. Vier Tage später schlossen sich die Truppen der 2. Belorussischen Front dem Angriff an. In dreitätigen Kämpfen durchbrachen die Truppen unter Marshall G. K. Shukow die deutschen Verteidigungsstellungen auf den Seelower Höhen und zerschlugen die zu Gegenangriffen übergegangenen Reserven der Heeresgruppe Weichsel. Schon Tage zuvor, am 12. April, wurde in Wartenberg und Hohenschönhausen sowie in den anderen Dörfern der Umgebung ständiger Fliegeralarm ausgelöst, ein unerbittliches Zeichen für die heranrückende Front. In Hohenschönhausen führte der Schuhmachermeister Franz Gröpler als »Luftschutzwart« von 1941 bis 1945 das Luftschutzwachbuch der Evangelischen Kirche Hohenschönhausens, dessen Eintragungen am 17. April 1945 enden. Allein von Januar bis März 1945 sind darin 93 Alarme verzeichnet. Die höchstgelegene Sirene vom Bezirk Weißensee zur Bekanntgabe des Luftschutzsignals befand sich in Hohenschönhausen auf dem Wasserturm am Obersee. Die letzte Schadensmeldung der Luftschutzstelle Weißensee ist auf den 18. April 1945 datiert. Die Meldungen der Luftschutzstelle von Dezember 1943 bis April 1945 über Personen- und Sachschäden 13


sind meist nüchterne Statistiken. Hinter ihnen verbarg sich das Leid und Elend vieler Menschen und ganzer Familien, deren Leben durch die Bomben ausgelöscht wurde. Beim Angriff vom 20. Januar 1944 wurde neben anderen auch das Wohnhaus Quitzowstraße 46 (heute Simon-Bolivar-Straße) in Hohenschönhausen getroffen. Die Schadensmeldung gibt dazu an: 22 Vermißte, 3 Häuser total, 4 schwer, 6 mittelschwer, 80 leicht beschädigt. Bei den Aufräumungsarbeiten konnten anhand der geborgenen Knochenreste und Bekleidungsgegenstände die letzten Todesopfer identifiziert werden. Zu den Toten dieses Hauses gehörten zumeist Mütter mit kleinen Kindern und ältere Ehepaare. Beim Angriff vom 18. März 1945 wurden mehrere Hohenschönhausener Betriebe, die in der Berliner und den umliegenden Straßen gelegen waren, schwer beschädigt. Darunter die Maschinenfabriken Heike, Groß & Graf und Max Uhlendorf. Teile des ASID-Seruminstituts, die Seifenfabrik Dr. med. Singer & Co und das Tobis-Filmlager wurden zerstört. Überall im Nordosten Berlins mußten Zwangsarbeiter und Dorfbewohner bis zur letzten Stunde bei andauernden Bodenkämpfen, im Donnergrollen der nahenden Front und bei Fliegerangriffen, Panzersperren und Hindernisse errichten. Militärische Stellungen, Bunker und befestigte Feuerpunkte wurden zum Teil mit schweren Waffen bestückt. Der Verwaltungsbezirk Weißensee mit Hohenschönhausen gehörte zum äußeren Verteidigungsring, der sich bis Alt-Landsberg hinzog. Die Stadtranddörfer wie Wartenberg, Falkenberg, Malchow und Hohenschönhausen waren damit in das Schlachtfeld einbezogen. Am 17. April wurde die Flakbatterie in Klarahöhe, nördlich der Siedlung Wartenberg, unmittelbar an der Stadtgrenze zu Lindenberg, für den »Endkampf« umformiert. Noch kurz vor Ende der Kampfhandlungen, am Morgen des 21. April, wurden die alten Dorfkirchen in Wartenberg, Malchow und Falkenberg gesprengt, vermutlich aufgrund des Nero-Befehls Hitlers vom 14


19. März 1945, nach dem alle zivilen und industriellen Anlagen zerstört werden sollten, die sich der Gegner nutzbar machen könnte. Auf diese Weise sollte der sowjetischen Artillerie die Zielorientierung genommen werden. In den umliegenden Bunkern wurde geflüstert: »Wenn im Dorf die Kirche in die Luft geht, sind die Russen da«. Wenige Stunden später kamen sie von Ahrensfelde und stießen in Richtung Falkenberg und Wartenberg vor. Landsberg wurde genommen, Hönow und Malchow erreicht. Die angreifenden Truppen der Roten Armee konnten sich hier nur auf der Dorfstraße bewegen und waren den gegnerischen Panzerfäusten frei ausgesetzt. Hinzu kam Flakbeschuß aus Wartenberg. Ein russischer Kommandant der SFL (Selbstfahrlafetten) meldete über Funk: »In Malchow geht’s heiß her. Ich bin kaum 300 Meter von der Barrikade weg ...Wir schießen mit allem, was wir haben. Wenn die Panzerfaustschützen an uns herankommen, dann gute Nacht. Jetzt ist es passiert.« (Mironow, Die stählerne Garde, Berlin 1986, S. 156) Nach längeren erbitterten Feuergefechten wurden die Hindernisse niedergewalzt. Noch am Vormittag des 21. April hißten sowjetische Aufklärer der 219. Panzerbrigade des 1. Mechanisierten Korps der 5. Stoßarmee auf einem Bunker am Dorfrand von Wartenberg eine rote Fahne. Panzer rollten auf der Lindenberger Straße in Wartenberg weiter nach Hohenschönhausen und am Abend des 21. April erreichten die russischen Soldaten den Ort. Aus einigen Häusern Hohenschönhausens hingen weiße Fahnen. In der Berliner Straße (heute KonradWolf-Straße) brachten die sowjetischen Truppen »Katjuschas«, auch »Stalinorgeln« genannt, in Stellung, um Ziele im Berliner Zentrum zu beschießen. Es gab wohl kaum einen Berliner, der sich nicht bewußt war, daß jetzt die letzten Tage des Krieges gekommen waren. Die Gewißheit über Niederlage und Zusammenbruch Hitlerdeutschlands nahm auch unter der Hohenschönhausener Bevölkerung mehr und mehr zu. Und mit dieser Gewißheit wuchs die Angst vor den Siegern, in erster

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Linie vor den »Russen«. Werden sie sich rächen für das, was ihnen Deutsche in ihrem Land angetan haben? Werden sie Vergeltung üben? Diese wohl nicht unberechtigten Fragen waren eng verknüpft mit einer jahrelangen Propaganda über den »bolschewistischen Untermenschen«. Mancher wollte nicht wahrhaben, daß der Krieg verloren war, andere verhielten sich passiv; doch nicht wenige begannen nachzudenken, darüber, was sie nach dem Krieg erwarten könnte. Und dann dieser Tag: Zum letzten Mal gingen Frauen, Kinder und alte Menschen in Hohenschönhausen am 20. April in die Bunker und Luftschutzkeller, die sie für viele Stunden, oftmals sogar Tage, nicht mehr verlassen sollten. Für die Bewohner von Weißensee und den Ortschaften Hohenschönhausen, Wartenberg, Malchow und Falkenberg endete der Krieg am 22. April 1945 und damit früher als in anderen Bezirken der Reichshauptstadt. Bis zuletzt wurde versucht, alle männlichen Einwohner Hohenschönhausens für die »Verteidigung« Berlins zu mobilisieren. Tausende starben noch in letzter Minute einen sinnlosen Tod. In einigen Fällen gelang es beherzten Bürgern, die Soldaten und Volkssturmleute zur Abgabe ihrer Waffen und Uniformen zu bewegen. Ein Teil der Dorfbewohner Hohenschönhausens erwartete das Ende im Luftschutzkeller des evangelischen Pfarrhauses in der Dorfstraße 39, wo der Dorfschmied Bruno Wegener und der Schuhmachermeister Franz Gröpler nach einigem Zögern doch noch die weiße Fahne hißten. Auch Robert Sachs befand sich dort. Welch Aufatmen für ihn an diesem Tag. Seit Dezember 1943 wurde er zusammen mit anderen jüdischen Leidensgefährten im Siedlungshaus Nr. 9 der Straße 156 von dem Ehepaar, den Sozialdemokraten Hedwig und Otto Schrödter, versteckt. Und dann trug sich auch dies zu: Der Ortsbauernführer Wilhelm Huckwitz aus Hohenschönhausen, der polnische Zwangsarbeiter

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jahrelang schikaniert hatte, überlebte den Einmarsch der Roten Armee am 22. April nicht. Er wurde von sowjetischen Soldaten im Luftschutzkeller in der Dorfstraße 39 erschossen. Und dann auch das: Aus Furcht vor »den Russen», geboren aus blindem Fanatismus, und Angst vor dem, was nun kommen wird, setzten Bewohner Hohenschönhausens ihrem Leben selbst ein Ende, wie beispielsweise die Freundin von Frau Mattern. So viele Schicksale. So viel Unbegreifliches, Unfaßbares. Wieviel von dieser Zeit lebt in der heutigen Erinnerung? Die Zeugen jener Zeit sind nicht mehr zahlreich anzutreffen. Fünf Jahrzehnte liegen zwischen dem Heute und dem damaligen Kriegsende, das sowohl Befreiung wie auch Niederlage war. Ihr Blick zurück ist oft nur ein Detail, ist das, was jeden unmittelbar betraf. Gesellschaftliche Veränderungen jener Zeit bleiben in den Erinnerungen der hier vorgestellten Zeitzeugen weitgehend unerwähnt. Während im Zentrum Berlins noch heftig gekämpft wurde, begann nach dem 22. April 1945 in den Ortsteilen von Weißensee, in Hohenschönhausen, Wartenberg, Malchow und Falkenberg, schon der Nachkriegsalltag. Die sowjetische Besatzungsmacht brachte Hoffnung, doch zugleich auch Furcht. Erste Begegnungen, erste Erfahrungen mit den neuen Machthabern, den Siegern, waren sehr unterschiedlicher Couleur. Da war der freundliche Soldat, der Suppe und Brot, für die Kinder gar Schokolade, verteilte. Doch lösten nicht selten Plünderungen, Diebstähle, Vergewaltigungen, Überfälle der »Befreier« sowie das in der Genslerstraße 66 existierende Internierungslager Angst und Schrecken unter den Bewohnern aus. Zu den ersten Schritten der sowjetischen Kommandanten gehörte die Bildung arbeitsfähiger Verwaltungen und die Versorgung der Bevölkerung. Antifaschisten, Mitglieder der KPD und SPD standen ihnen zur Seite und halfen mit, das Leben in Hohenschönhausen zu normalisieren. Wichtigste Aufgabe war die Sicherung der Lebens-

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mittelversorgung, denn der Hunger war allenthalben groß. Straßen mußten von Trümmern beseitigt, die Toten bestattet werden, Panzer- und Laufgräben eingeebnet, Bombentrichter zugeschüttet werden. Für diese Aufräumungsarbeiten wurden in erster Linie ehemalige NSDAP-Mitglieder angefordert. Zu den Problemen der ersten Nachkriegsmonate gehörte auch in Hohenschönhausen die Wohnungsnot. Zwar waren die Kriegsschäden hier nicht annähernd so groß wie im Zentrum waren, dennoch hatten auch in diesem Teil Berlins zahlreiche Familien ihre Wohnungen während der Bombardierungen verloren. Hinzu kam der Strom der Flüchtlinge, die notdürftig versorgt werden mußten. Die Beschlagnahmung von Wohnungen durch die Rote Armee löste somit heftige Diskussionen und Unmut aus. Das Gebiet um den Obersee mußte von seinen Bewohnern binnen kürzester Frist verlassen werden und wurde zum militärischen Sperrbezirk erklärt. Dort lebten bis Anfang der fünfziger Jahre sowjetische Offiziere mit ihren Familien Die Menschen, die nunmehr zu Wort kommen, sind Zeugen einer Zeit, die unser Jahrhundert wie kaum eine andere geprägt hat. Die Erinnerung daran nicht verblassen zu lassen, ist Anliegen dieses Buches. Und daß Geschichte etwas sehr Konkretes ist, belegt das Erlebte dieser Zeitzeugen. Bewohner von Hohenschönhausen, die somit zu einem Teil der umfassenden Geschichte Deutschlands wurden, denn was ihnen widerfuhr, erlebten ungezählte andere Deutsche auch. Die Autoren danken all jenen, die mit ihren Aussagen und persönlichen Dokumenten geholfen haben, diese Geschichte für die heute Lebenden wieder erfahrbar zu machen. Daß die Robert-Bosch-Stiftung das Zustandekommen des Buches finanziell ermöglicht hat, soll besondere Erwähnung finden. Hilfreiche Unterstützung erhielten wir darüber hinaus vom Kunstverein am Obersee e.V., vom Landesarchiv Berlin, der Landesbildstelle Berlin, der Stiftung Archiv 18


der Parteien und Massenorganisation der DDR im Bundesarchiv, der Staatsbibliothek Preußischer Besitz, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, dem Schulmuseum Berlin, dem Ullstein Bilderdienst und der Friedhofsverwaltung der St. Pius- und St. Hedwigsgemeinde. Unser Dank gilt Frau Ute Schiller für die Bildredaktion, Frau Dr. Ines Meinicke für das Zusammenstellen der Chronik und Frau Bärbel Ruben für ihre kritischen Hinweise. Thomas Friedrich, Monika Hansch

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Kurt Wafner: Tagebuch 1945 Kurt Wafner, geb. 29.11.1918 in Berlin; Besuch der Weltlichen Schule Weißensee und der Neuköllner Karl-Marx-Schule; gehörte der Anarchistischen Vereinigung Weißensee, dem Kreis um Erich Mühsam an; Mitglied der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter-Jugend, die sich auch nach 1933 antifaschistisch betätigte; während des Krieges u.a. Soldat einer Landschützen-Einheit im besetzten Weißrußland (Minsk); 1943 entlassen und bis zum Kriegsende Physiklaborant im Elektrobetrieb Siemens Plania (Lichtenberg); seit Juli 1934 wohnhaft in der Große-Leege-Str. 63 a (zusammen mit seiner Mutter und seiner späteren Frau Barbara); 2.6.1945 heiratet W. Barbara Marcuse; 1954 wurde die Ehe Kurt Wafner, 1995 geschieden; 1945 KPD, Austritt aus der SED am 17.1.1950; Juni 1945 bis Juni 1947 Meldestellenleiter im Hohenschönhausener Polizeirevier; anschließend dreijähriges Studium an der Berliner Büchereischule und bis Dezember 1949 Leiter der Stadtbibliothek Weißensee; nach 1950 Lektor; u.a. Chefredakteur der »Roman-Zeitung«; 1965 bis 1983 Kulturredakteur der »FF dabei«; 1989/90 Vertreter der Vereinigten Linken am Runden Tisch von Hohenschönhausen und verantwortlicher Redakteur der »Orankepost«; heute lebt Kurt Wafner als Rentner in Hohenschönhausen. Kurt Wafner führte vom 1. Januar 1945 bis zum Kriegsende Tagebuch , welches im folgenden erstmalig veröffentlicht wird.

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1. Januar 1945 Nun ist das neue Jahr erschienen. Ein Jahr des Friedens? Wer kann das sagen? Ach, wenn man es doch fühlen könnte: Aber zu oft sind die Hoffnungen schon zunichte gemacht worden, als daß sie noch eine starke Macht hätten, wie am Anfang des Krieges. Es ist manchmal schwer, an die gute Sache noch zu glauben, die einmal kommen soll und nicht zu verzweifeln an der menschlichen Dummheit, die man täglich vor Augen hat. Doch, wozu leben wir denn sonst? Denn was jetzt geschieht, ist ja kein Leben. Immer und überall spürt man die grausame Knute des Krieges. Ach, wie herrlich ist es, daß ich so glücklich lieben darf. Hier bin ich frei und wahrhaft froh. Noch haben wir unsere Liebe für uns und der Krieg hat noch nicht hineingegriffen. Nein, unsere Herzen darf er nicht gewinnen! Die gehören uns nur allein. Manchmal habe ich ein bitteres Gefühl dabei, wenn ich an unsere Zukunft denke. Wird alles so bleiben, so schön und rein, oder wird auch uns die grausame Kriegsmaschine noch in ihre Krallen nehmen? Wir wollen doch beide unser Glück nicht verlieren - es soll doch erst richtig beginnen. 3. Januar 1945 Gestern war es sehr schön! Bärbel blieb zu Hause und erwartete mich, als ich vom Luftschutzdienst nach Hause kam. Und ich war ja so froh darüber, daß ich nicht alleine war, nach diesem langen monotonen Tag Kurt Wafners Frau Bärbel Macuse. im Betrieb. Nun hatten wir noch ei21


nige köstliche Stunden vor uns - waren allein ... und glücklich ... auch etwas ausgehungert. Bärbel erfüllt mich, füllt mein Geistes- und Triebleben vollständig aus. Mit Mühe nur mach ich mich los, um an mir zu bilden und den Geist auf irgendeine Sache zu konzentrieren, die mir wichtig erscheint und die ich nicht missen möchte. Dabei ist das noch alles viel zu wenig und ich könnte meinen Egoismus verdammen, der mich so ganz und gar diesem süßen Genuß verschreibt, aber ich kann und will mich nicht befreien, von dieser einzigen Freude, die mir bleibt. Ist es vielleicht Selbsttäuschung? Und wenn schon, ich werde mich schon nicht verlieren, auch in der Liebe nicht. Ich brauche sie, um daran zu wachsen. Also liebe ich doch aus Egoismus. Ständig habe ich Bärbels Bild vor Augen, wenn ich so viele Stunden am Tage allein bin. Ich sehe sie in all ihren Bewegungen und Formen und fühle dann nur noch stärker, wie sehr wir zusammengehören. Wir ergänzen uns so gut. Bärbel hat viel Erfrischendes, Junges. Wie schön, daß ich immer an sie denken muß und um sie bange, in dieser schrecklichen Zeit. Mir ist warm in ihrer Nähe. 9. Januar 1945 Bärbel hat schlecht geträumt. Sie zuckt im Schlaf zusammen und spricht manchmal unverständliche Worte. Ich weckte sie zart; das arme Mädchen muß sich doch gequält haben. - Sie wollen Dich immer wegholen, sagte sie, sie sollen Dich nicht fortnehmen, ich brauche Dich doch! Dann schlief sie wieder ein. Ja, Du brauchst mich, Bärbel - nein, wir brauchen uns! Wir sollten uns beide nicht so viele Sorgen um unsere Zukunft machen, aber wer kann denn das? Noch bleibt das Denken, wenn auch der Körper in den Rhythmus des Krieges gepreßt wird. Manchmal beneide ich die, die nicht denken können, sondern stumpf und frei 22


von geistigen Sorgen dahinleben. Man sieht, wie schädlich Intellekt und Kultur werden können, wenn uns das aufgezwungene Leben dieselben versagt - besser die Ausnutzung derselben. Was drinnen ist, das bleibt, das frißt und bohrt, sucht sich zu betätigen und darf es nicht. Heute habe ich die Tolstoi-Biographie von Löwenthal ausgelesen. Tolstoi wollte ja diesen einfachen, naturnahen Menschen, er haßte alles Kultivierte, das in seinen Augen die Wurzel der sittlichen Verderbtheit war. Nein, diese Ansicht teile ich nicht. Er wollte das Volk zurückziehen zur Natur. Ich glaube an den großen Fortschritt, den T. ablehnt und an das Aufwärtsstreben des arbeitenden Volkes zur Kultur. Ich sage, nicht die Kultur an sich ist schädlich und unsittlich, sondern ihre falsche Anwendung zum Nachteil der Menschheit. Wenn eine Reihe von Wissenschaftlern hervorragende technische oder chemische Produkte entdecken, ist das ohne Zweifel eine Kulturleistung. Wenn dieselben Produkte aber zum Kampf gegen Menschen, zur Ausbeutung von Menschen angewandt werden, schlägt die Kultur in das Gegenteil um: in Barbarei unter der Maske der Kultur. Die Kultur von dieser Unsittlichkeit zu befreien, das ist die Aufgabe, der man sich stellen muß. Der Ruf aber, zurück zur Natur, ist Rückschritt und wenn er noch so edlen Grundlagen entspricht. Bei Rousseau hatte er gewiß noch seine Berechtigung als Gegenüberstellung zu einer verfeinerten, durch Nichtstun verseuchten Adelskaste, aber heute, wo Wissenschaft und Technik die Arbeit des Menschen und überhaupt sein ganzes Leben erleichtern könnten, müßte man sagen: Vorwärts Mensch, bilde Dich, denn der Weg zur Bildung führt zur Kultur und damit zur Freiheit! Ob man sich als einzelner Mensch, als Individualist unter den gegebenen, unkultivierten Verhältnissen auf das Land oder in den Urwald vergräbt und dort der Natur so nahe kommt, daß man keine Stadt oder sonstige Kulturerscheinung mehr sehen möchte, ist für die Allgemeinheit nicht möglich. Freiheit des Individuums, aber auch

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hier wie überall Abhängigkeit von der Gesellschaft, von der verpönten Macht. B.* war ja in der letzten Zeit für diese, individuelle Befreiung durch den Weg in die Natur. Möge er ihn in Argentinien gefunden haben. Vielleicht stehe ich auch noch mal an dieser Pforte; vielleicht lerne ich auch einmal den Unwert der Kultur einsehen und versuche, frei von sozialer Bindung mein Ich in der Wildnis zu behaupten. 12. Januar 1945 Ach, daß ich so unbeherrscht sein kann, meine Nerven nicht im Zug halten kann! Und noch dazu wegen einer solchen läppischen Kleinigkeit, die bestimmt nicht eines Streites wert ist. Aber das empfindet man erst hinterher, wenn man sich wieder beruhigt hat. Wir gingen zusammen nach Hause. Bärbel erzählte mir, daß sie vorhin etwas verloren habe und es nicht wiedergefunden hätte. Mich reizte das so, daß ich begann, ihr Vorwürfe zu machen, um meinem Ärger Luft zu verschaffen. Nun war ein trüber Schatten zwischen uns, der immer mehr wuchs, trotz unseres Vorsatzes, daß der Abend schön werden müsse. Beide waren wir erregt und sagten uns keine schönen Worte. Ich war so häßlich zu ihr, kränkte sie aus einem grenzenlosen Gefühl der Erbitterung heraus, unbeherrscht und brutal. Es war wie ein harter Schlag, der auf sie herunterfiel. Bärbel war plötzlich ganz ruhig, machte kehrt und wollte fortgehen. Ich kam wieder zu mir, sah mit einem Mal klar die verhängnisvolle Häßlichkeit meiner Worte, die unüberlegt aus mir herausströmten, gereizt durch ihre störrische Hartnäckigkeit. Nun war das bittere Gefühl vorbei, in mir wurde es ruhiger und klarer. Ich nahm Bärbel in meinen Arm und zog sie mit mir fort.

* Bernard (1901-1958), mein Onkel, Lebensgefährte meiner Mutter von 1927 bis 1934.

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14. Januar 1945 Heute hatten wir dreimal Fliegeralarm. Herrliche Sonntagsfreude! Beim ersten Mal waren wir gerade mit dem Baden fertig, gegen Mittag, als die Sirene losging und uns in den Bunker jagte. Lange standen wir in dem engen, mit Menschen vollgepreßten Gang. Später, am Abend, begann der Spaß neuerdings. Erst die Jagd über den dunklen, glatt gefrorenen Laubenweg im Trippelschritt, dann wieder das barbarische Gedränge in erdrückender Luft. Ganz in der Nähe zwei Einschläge. Dröhnen, Zittern und Schwanken des Bunkers, Aufschreien einiger Frauen, dann wieder Ruhe. Am Wasserwerk gingen die Brocken runter. Kurt Wafners Mutter Li Die englischen Flieger flogen sehr verstreut über Berlin und warfen die Bomben nur auf vereinzelte Ziele. Ein Blindgänger war in der Nähe gefallen, wir mußten uns vorsehen. Nachts um 23 Uhr, wir lagen gerade im Bett, konnten wir wieder unsere Sachen zusammenpacken und den glatten Weg entlangstolpern. Ich muß staunen, was die Menschen aushalten. Dabei ist Berlin noch nicht einmal so gefährdet im Augenblick, verglichen mit den westlichen Gebieten. Doch was kann noch alles kommen, die Großangriffe vom vorigen Jahr liegen mir noch in den Knochen.

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Li* tut mir leid, sie leidet sehr unter diesem blödsinnigen Leben. 17. Januar 1945 Die große Winteroffensive der Russen ist im besten Fluß. Wie der Wehrmachtsbericht heute bekannt gibt, sind sie schon bis in den Raum von Krakau, Tschenstochow und Modlin vorgedrungen. Nun wird auch Oberschlesien unmittelbar bedroht. Man muß staunen, mit was für einem ungeheuren Material die Russen noch aufzuwarten haben. In Ostpreußen geht es ebenfalls tüchtig los. Schönberg ist schon eingenommen. Nun tobt die Schlacht in dem Gebiet, das mir nur allzu vertraut ist, in dem ich so manchen bitteren Schweißtropfen auf dem Exerzierplatz in Sodargen vergossen hatte. Und bei der Sklavenarbeit an der Rauschwe. Oh - der R.A.D.[Reichsarbeitsdienst - d. Hrsg.], der Schinder meiner Jugend, ich werde ihn nie vergessen, aber mit keinem einzigen freundlichen Gedanken an ihn denken. Was wohl aus dem Lager geworden sein mag? Sicher wohnen in unseren alten Barackenstuben nur russische Rotarmisten und stärken sich zum neuen Einsatz. Oder alles ist längst dem Erdboden gleich gemacht worden. Ich lese jetzt ein wundervolles Buch, das gerade in dem augenblicklichen Kriegsgeschehen sehr aktuell ist: »Der stille Don« von Michail Scholochow. Dieser Roman schildert das Leben einiger DonKosaken während des Weltkrieges und der Revolution in sehr anschaulicher Weise. Lebensecht und farbenprächtig ziehen die Gestalten an mir vorüber, mit all ihren Vorzügen, Lastern und Leidenschaften. Und der blutige Krieg der Jahre 14-17 ist die schaurige Bühne. Dann die Revolution mit dem Auftakt zu menschenwürdigem Los, Erhoffen der Befreiung von der alten russischen Knute.

* Li (Luise), meine Mutter (1891-1974).

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18. Januar 1945 Wie eine Bombe platzte die Nachricht herein, daß nun auch Warschau gefallen sei und die Russen in ungeheuren Vorstößen bis in den Raum von £odz vorgestoßen seien. In so kurzer Zeit diese gewaltigen Geländegewinne und noch immer kein Aufenthalt. Näher und näher rückt die Lawine dem Reiche zu, der Osten brennt und erzittert in gigantischer Bewegung. Erzittern tut auch so mancher von den Menschen, denen diese Ereignisse wie gewaltige Schläge auf den Nacken prasseln. Mit fahlen Gesichtern und nur mühsam verhaltener Erregung laufen sie herum und versuchen noch in allem etwas Positives zu sehen. Aber bei vielen ist die Flamme schon merklich kleiner geworden und der Heldenmut der Heimatstrategen in unverkennbare Angst ausgelaufen. Wie eine Fata Morgana zuckt das Gerücht von den neuen Waffen durch die Luft, ein Strohhalm des Ertrinkenden. Und wenn, was werden das für Waffen sein? Vielleicht Gas? Ich mag schon nicht daran denken, was daraus entstehen würde. Es wäre ein grausames, gewaltsames Morden, wie es schlimmer nicht vorzustellen wäre. Und die deutschen Soldaten, wie lange werden sie dieser Wucht noch standhalten? Wie wird sich das alles auf ihre Moral auswirken? An ein Ende von dieser Seite glaube ich nun auch nicht mehr, ebensowenig wie von der Heimat. Viele sagen: Kriegsende, ja sofort, aber wenn die Bolschewisten kommen, was dann ... Nein, das darf niemals geschehen und trotten weiter im schleimigen Sumpf herum. Was wissen die schon von den Bolschewiken? Viele würden sich den Amerikanern oder Briten gerne ergeben, aber den Bolschewisten, nein. Was für Vorurteile die Menschen mit sich herumschleppen. Vor allen Dingen: Sie tragen ihre Nation wie eine Zentnerlast auf dem Buckel und sind darunter ganz klein und unscheinbar. Ihr angekränkeltes Herz läuft über vor Heimatliebe und all der seichten Sentimentalität.

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23. Januar 1945 Bärbel ist krank, liegt mit einer Grippe zu Hause und klagt über Schmerzen in Brust und Rücken. Das Fieber ist nicht so sehr hoch, Gott sei Dank! Ach, wenn ich doch den ganzen Tag bei ihr bleiben könnte, sie pflegen und lieb zu ihr sein. Dann würde sie viel schneller gesund werden. Nun liegt sie so alleine und sehnt sich nach mir und es vergehen viele lange Stunden, ehe ich nach Hause komme. Hoffentlich haben ihre Kopfschmerzen nachgelassen. Alles ist gespannt und erwartungsvoll auf die künftigen, nahen Ereignisse an der Ostfront. Man sieht die Russen schon in Berlin einrücken und debattiert Verhaltensmaßregeln. Jeder operiert dabei nach seinen Gesichtspunkten. Kein Wunder, die Sowjets sind bis Posen vorgerückt, tief in Oberschlesien und Ostpreußen eingedrungen. Wenn nun kein Halt mehr geboten wird, können sie bald in Berlin sein. Deutschland wehrt sich mit seinen letzten Kräften. Die Industrie wird schon teilweise stillgelegt, weil Kohlenmangel herrscht. Ab heute darf in den Haushalten kein Gas mehr verbraucht werden, wir müssen nun die paar Kohlen auch noch zur Herdfeuerung nehmen. Das sind wahrhaft goldige Aussichten! Viele Tausende von Menschen werden evakuiert aus den bedrohten Gebieten, Ostpreußen und Schlesien und dem Wartheland. Wo will man nur mit den vielen Menschen hin? Es ist ein Jammer unter welchen Umständen die Flucht aus dem Heim angetreten werden muß. Wie rasende Bestien stürzen sich die angstgepeitschten Menschen auf die wenigen Züge, um dann eine Fahrt ins Ungewisse anzutreten. An ein Mitnehmen von Koffern ist meistens nicht zu denken. Ich mache mir Sorgen um die Graudenzer* . Wo werden die jetzt stecken? Ob mein Brief noch ankommen wird?

* Die Verwandten meines 1923 verstorbenen Vaters stammten aus Polen und lebten in Graudenz (Westpreußen), heute Grudziadz.

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An Jenny* , meine bisher noch unbekannte Cousine, schrieb ich gestern. Sie will mich gern kennenlernen und ich sie natürlich auch. Was wird das für ein Mensch sein? Komisch, daß sich erst nach so langen Jahren derartige Gedanken bemerkbar machen. Bisher habe ich nie etwas von ihr gehört, mich auch nie darum gekümmert. Verständlich - jeder hatte zu viel mit sich zu tun. Die Zeit, die der Kriegsrummel noch übrig läßt, bleibt gerade für die internsten persönlichen Freuden. Aber ich bin nie abgeneigt, neue Bekanntschaften anzuknüpfen, natürlich nur mit Menschen, die ich als wertvoll bezeichne oder mit denen mich ein gemeinsam ertragenes Schicksal verbindet. Momentan lebe ich ziemlich abgesondert (wie das bei der unruhigen Zeit auch kaum anders möglich wäre) mit meiner kleinen Frau. Wir sind noch beide so von uns ausgefüllt, daß wir uns nicht sehr nach Zerstreuung von außen sehnen. Nur zu T.’s gehen wir hin und wieder. Fabelhafte Menschen - klar, nüchtern und geistvoll. Den »Stillen Don« las ich aus. Ich bin sonst eigentlich nicht für solche großangelegten Milieu-Schilderungen, wo das einzelne Individuum in der Masse aufgeht. Der psychologische Roman, die Biographie lockt mich mehr, aber hierbei vermisse ich das Fehlen der Persönlichkeit nicht. Hier ist ein ganzes Gebiet, ein ganzer Zeitabschnitt Träger der Handlung und die Einzelschicksale sind kraftvoll hineingeschleudert in diesen Rahmen. Die Rolle des Grigorij ist überraschend untendenziös. Mich hat dies befremdet. Aber auf der anderen Seite ist die Schilderung echt, denn die Schwerfälligkeit, mit der die Kosaken sich zum Sozialismus durchgerungen haben, kommt dabei zum Ausdruck. Wie stark wird das konservative Element erst in Deutschland sein? Soll denn wirklich nur noch die Knute helfen? Ja, wenn die eigene Einsicht in solch einer naiven Kindlichkeit stecken geblieben ist, gibt es wohl keine andere Möglichkeit. * Tochter des Bruders meines Vaters, lebt in Frankreich.

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Nur muß man auch den Zeitpunkt finden, wo damit Schluß zu machen ist. Eine freie Entfaltung darf nicht verhindert werden. Mir kommen manchmal Zweifel an so vielen Dingen. Ich versuche theoretisch bis zur letzten Klarheit vorzudringen und schaffe es nicht, weil immer wieder ein Gegengewicht da ist, das ein scharfes Sehen verhindert. Die Praxis wird vieles erleuchten, was noch unklar ist und ich werde den richtigen Weg finden. Und immer wieder werde ich mir bewußt, wie wenig Bildung ich habe. Lernen, lernen, nochmals lernen, dies muß zum Prinzip werden. 1. Februar 1945 Heute früh um halb fünf Uhr machten wir uns auf den Weg nach Seelow, um von den Sachen noch, was irgend möglich, zurückzuholen. Die übliche Fahrt verlief ohne besondere Ereignisse. Menschen standen auf den Bahnhöfen, mit leeren Koffern, um die letzten Habseligkeiten aus den gefährdeten Gebieten zu retten - gleich uns. Was man im vorigen Jahr mit Mühe hinausgeschleppt hatte, geht nun den gleichen Weg zurück, in ein ebenfalls unbestimmtes Schicksal. Das kleine unscheinbare Seelow wird von einem Hasten und Treiben beherrscht, wie auf einem kleinstädtischen Jahrmarkt. Hunderte von Flüchtlingen mit einfachen Bauernwagen und armseligen Pferden rasten nach entbehrungsvollem Zug über die Landstraßen des Ostens. Die letzte Habe liegt verloren auf Wagen, die nur gewohnt waren, das Korn von den Feldern auf den Hof zu fahren. Wagen und Gegenstände, alles was verwachsen war mit dem heimatlichen Hof, schwirrt losgerissen über vereiste oder vermatschte Straßen in ungewisse Ferne. Ich muß bei diesem Heerlager des Elends an die russischen und polnischen Flüchtlinge denken, wie sie 1942 in langen Trecks aus den Kampfgebieten herauszogen. Nun hat sich das Blatt gewendet, Deutschland ist Kriegsschauplatz geworden. Was man krampfhaft zu verhindern suchte, ist zur Wirklichkeit geworden, mag 30


auch manchen der Hosenboden noch so sehr brennen, - sie werden ihrem Schicksal nicht entgehen! Nicht weit weg ist schon die Front. Sie schreit uns mit lautem Knallen und dumpfem Donnern in die Ohren. Über uns schwirren deutsche Flugzeuge sehr tief. Dieses blutrünstige Geschrei des Kampfes vermischt sich mit dem aufgeregten Lärm in der Stadt. Hier brüllt jemand eine Anweisung, dort heult ein Kind oder man hört erregtes Zanken. Wir stapfen durch den Matsch, beeilen uns, denn Li soll mit dem Zug wieder zurückfahren. Ob und wann nachdem noch einer fährt, ist ungewiß. Aber wir müssen es wagen, denn in einer knappen Stunde werden wir mit dem Packen nicht fertig. Li hat sich ihren Mantel und einen Karton mit Kleidern gegriffen und ist wieder fort. Ich bin froh, denn wer weiß, was uns noch für Strapazen bevorstehen. Wir räumten das Wichtigste in die Koffer und Rucksäcke und doch mußte viel zurückbleiben. Fast meine ganzen Bücher mußte ich zurücklassen. An Mittag war nicht mehr zu denken, es gab nichts in den Gasthäusern: Alles beschlagnahmt für Flüchtlinge und Militär. Um 14 Uhr waren wir auf dem Bahnhof, kein Mensch wußte, wann ein Zug kommen sollte. Volkssturmmänner sprachen von der nahen Front. Krank und hungrig schimpften sie auf ihre unwürdige Behandlung, hatten nur den Wunsch, nach Hause zu gehen. Fußkranke Soldaten schleppten sich hin, wollten weiterfahren zum Lazarett. Alle diese Menschen haben den Krieg satt. Einige fressen die Wut in sich hinein, andere äußern sie laut. Aber an allen zerren die schrecklichen 5 ½ Jahre und die letzten Ereignisse im Osten. Eine Frau, die aus Landsberg flüchtete, dort alles verloren hatte, fluchte laut ohne Hemmung auf die Bonzen, die die Leute aufforderten, bis zum Letzten auszuharren, dann aber die ersten waren, die in ihren Autos vor den anstürmenden Russen davoneilten.

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Überall Grollen, Murren. Ob die Bombe bald platzt? Die Geschehnisse reißen an den Nerven, werden sie auch den Kessel zum Überlaufen bringen? Endlich um 17.30 Uhr kam der Zug in Richtung Fürstenwalde. Wir waren rasend froh und spürten den Hunger nicht so sehr. Als wir in Fangschleuse waren, gab es Alarm. Flakgeschütze bellten, Bomben ließen den Wagen erzittern. Beherrscht ruhig saßen wir eng gepreßt; um uns stockdunkle Nacht. Die Bomben fielen nicht in der Nähe, aber der Schall trug weit. Nach endlosem Warten in Erkner und Ostkreuz fuhren wir bis Bahnhof Landsberger Allee. Noch ein Marsch gegen den anbrausenden Sturm, dann winkte die warme Wohnung und das behagliche Bett ... Es sollte noch nichts aus der Ruhe werden, wie wir hofften. Man wollte mich heute früh zum Volkssturm holen. Ein Glück, daß ich nicht zu Hause war. Nun mußte ich mich noch unsichtbar machen, bis sich meine Lage geklärt hat. Wie eine Flucht war der Gang durch die Nacht. Vergessen waren Hunger und Müdigkeit. Ich preßte Bärbels Arm, wurde von allen möglichen Gefühlen bewegt. Wo wäre ich jetzt, wenn ich heute morgen noch zu Hause gewesen wäre und wie lange dauert der Aufschub? Bärbel ist ein so lieber Kamerad, sie möchte nicht von meiner Seite gehen, will mich festhalten ... und doch kann ich sie nicht mitnehmen, wenn sie mich holen. Und sie? Sicher krampft sich ihr Herz zusammen, ängstlich wagt sie keinen schreckhaften Gedanken. Ich weiß, sie würde mich an ihre Brust drücken und vor jedem Unheil bewahren wollen. 2. Februar 1945 Meine Lage hat sich geklärt: Ich bin im Rüstungsbetrieb, gehöre zum Zweiten Aufgebot, brauche noch nicht fort.

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3. Februar 1945 Die Hölle tobte in Berlin. 1900 Flugzeuge setzten die Innenstadt, Osten, Südosten in ein Meer von Flammen und Schutt. Bärbel stand neben mir im Bunker und sah mir immerfort ins Gesicht. Ich hielt ihre Hand. Das Mädel ist so tapfer. Sie lächelt immer ein wenig und schmiegt sich an mich. Der Bunker bebte und erzitterte von den nahen Einschlägen. Das Schwanken hielt noch lange an, bis eine neue Detonation ertönte. Neben dem kleinen Bunker ein Trichter. Arme Li, sie wird gezittert haben. Unsere Scheiben sind wieder raus. Bei G’s ist die Zwischenwand eingestürzt, der Kleiderschrank umgefallen. Was gilt dies schon, wo Hunderte obdachlos sind? Verheerend sollen die Schäden in der Innenstadt sein. 11. Februar 1945 H. ist zum Volkssturm eingezogen, muß Barrikaden bauen. Er kann wenigstens noch zu Hause schlafen. Sie müssen aber damit rechnen, daß sie kaserniert werden. Die Russen sind von ihrem Brückenkopf bei Steinau bis in den Raum Liegnitz, bis zum Bober vorgedrungen. Liegnitz ist gefallen. In Pommern stehen sie dicht bei Stettin. Ich glaube, sie versuchen Berlin zu umgehen und dann einzukesseln. Es wird auch davon gesprochen, daß Hohenschönhausen Verteidigungszone werden soll und geräumt werden muß. Natürlich nur von Frauen und Kindern. Was für einen Sinn soll das nur alles haben? Sieht denn das Volk immer noch nicht ein, daß der Krieg für die Deutschen verloren ist? Der Staat will alle zu Helden machen. Jämmerliches Heldentum, für solch eine verratene Sache. Wenn sie schon anfangen, sich gegenseitig umzubringen, wie die Oberhäupter von Breslau, Bromberg, Posen, mit welchem Terror behandeln sie erst das Volk, dem der Krieg schon zum Halse heraushängt. Und doch der preußische Kommiß-Geist

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ist nicht herauszukriegen. Wie kann ein Volk mit einer immerhin hohen Kultur auf der anderen Seite so barbarisch sein? Der Hang zum Gehorsam, zu einer entsetzlichen Spießerhaftigkeit bilden den deutschen Geist schon seit Generationen. Wie eine Fessel liegt er auf den freiheitlichen Regungen, die erst eine solche blutrünstige Diktatur mit Gewalt hervortreiben lassen. 15. Februar 1945 Morgen soll unser freier Tag sein, weil wir ja am Montag arbeiten müssen. Man hat uns in erbärmlicher Weise einen Strich durch die Rechnung gemacht: Die männliche Belegschaft muß zum Schippen nach Biesdorf, natürlich zwangsweise. Freiwillig würde wohl kaum einer hingehen - zu diesem »Kriegsverlängerungsdienst«. Und auch das noch, ich habe mich umsonst auf den freien Tag gefreut. Wieder ein Nagel mehr, der ins Fleisch getrieben wird. Und noch immer schreit man nicht auf, man knirscht mit den Zähnen und wartet. So wie mir geht es bestimmt vielen. Alle möchten sie hinausbrüllen, was in ihnen bohrt und tun es doch nicht. Es sind noch zu viele da, die über Geist und Gedanken keine Herrschaft haben, noch nie gehabt haben. Jede freie Regung ist erstorben, ist in stupiden Sklavengeist aufgegangen, verbrämt mit allerlei hohlen Phrasen. Je stärker die Peitsche knallt, desto krummer beugen sie den Rücken. Von den Kulis ist natürlich nichts zu erwarten. Sie sind keinen Schuß Pulver wert, diese jämmerliche Brut, ... nur, daß ein so großer Teil des Volkes ihr angehört. Die Stromsperren werden immer ekelhafter. Kaum bin ich zu Hause, geht das Licht aus. Man sitzt dann wie verloren bei der Kerze und kann nichts beginnen. Wenn es endlich nach zwei Stunden wieder Licht gibt, gibt es auch meistens Alarm und der schauderhafte Weg zum Bunker wird angetreten. Und dazu dauernd Hunger!

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16. Februar 1945 Bis um 13.30 Uhr dauerte das Schippen. Zickzack laufende Laufgräben wurden ausgehoben, die teilweise durch die Gärten der Siedler verliefen und ihnen die Hoffnung auf eine kleine, karge Ernte raubten. Aber wo wird schon im Krieg Rücksicht genommen, noch dazu, wenn das Messer am Halse steht. Fast alle hatten wir eingesehen, wie zwecklos eigentlich diese Arbeit ist und gingen mit einem entsprechenden Gefühl heran. Es wurde nicht viel mehr getan, als nötig war, um warme Glieder zu bekommen. Und je näher der Feierabend rückte, desto weniger arbeiteten wir. Merkwürdig, wo die Menschen noch diesen traurigen Mut zum Optimismus hernehmen, wie z.B. die beiden Volkssturmmänner, mit denen ich sprach. Soldat waren sie alle beide nicht, hatten nie eine Front oder etwas ähnliches gesehen. Der eine stieß aber gewaltig ins Horn, als er von Soldaten berichtete, die, da sie die Nutzlosigkeit eines Widerstandes einsahen, einfach die Beine in die Hand nahmen oder sich versteckt hielten bis der Russe kam, um sich dann zu ergeben. Diese Leute sind schnell dabei mit »Aufhängen« oder »Erschießen« dieser »Verräter«, nur weil die keinen Selbstmord begehen wollten. Und wenn es auch für sie Ernst wird, wie werden sie sich dann verhalten? Der andere war gemäßigter, aber - wie so viele - arg durchdrungen von Greuelgeschichten und sah auch im Widerstand die letzte Rettung, weil er meint, die Regierung habe noch ein Mittel bereit, auf welches man hoffen dürfe. Nein, den Glauben, daß vom Volk eine Entscheidung käme, habe ich nicht mehr. Damals glaubte ich daran, als ich in Rußland war und die Urlauber erzählten, wie die Berliner zu murren begannen. Oh je, es kam uns damals schon unheimlich vor, wenn ein paar Leute den Mund auftaten, weil man doch früher auch das kaum erleben 35


konnte. Und beim Murren bleibt es eben ... bis heute. Was fehlt sind Führung und Organisation. Es muß ein Aufschwung da sein - ein Fanal! Aus eigener Brust erwächst dem Proleten nichts. Ihm fehlt die Klarheit, noch ist er blind wie ein Säugling. 21. Februar 1945 An einen freien Freitag brauchen wir nicht zu denken, der gehört dem Staat. Und wir werden schippen, um den Russen aufzuhalten oder werden es Gräber für Volkssturm-Sklaven? In der freien Zeit nehme ich jetzt die Geschichte der Philosophie durch. Natürlich nur in Grundzügen, schnell, in der Art einer Reportage. Gewiß verleitet mich oft vieles zum Verweilen, aber es geht nicht. Ich muß so viel Versäumtes nachholen. Dabei gehört das nur zu den Grundbegriffen einer Allgemeinbildung und ich merke, wie vieles mir daran noch fehlt. Ob ein Menschenleben ausreicht, um all das Vielseitige in der Welt nur einigermaßen zu erfassen und systematisch zu ordnen? Daß der Mensch nie auslerne, hat B. oft gesagt ich habe mir diesen Satz angeeignet - aber einen »Streifzug« durch alle Gebiete zu machen, die mich nicht nur besonders interessieren, sondern auch bildend sind, hat etwas für sich. Vielleicht verleitet es zur Oberflächlichkeit - allein, ich kann nur dort länger bleiben, wohin mich meine Neigung besonders treibt. Und das wäre: Literatur, Kultur- und Sozialgeschichte. Dabei ist auch Ökonomie so wichtig und ich habe nichts dafür übrig. 24. Februar 1945 Wir fuhren nach Seelow. Ich wollte wenigstens die wertvollsten meiner Bücher mitbringen. Bärbel hatte auch noch allerlei Wäsche und Kleidung draußen und Friedel* packte gleich zwei große Säkke voll.

* Bärbels Mutter.

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Reges Leben herrscht dort. Tanker, LKW’s und andere Wagen rattern durch die Straßen, zur Front oder von dort her. Der Flüchtlingsstrom von ehedem ist fort und die Seelower sitzen bereit zum Abtransport. Denn man rechnet wohl damit, daß der Russe bald vorstößt. Dann geht es bestimmt Hals über Kopf. Sonst macht das ganze Gebiet einen kriegsmäßigen Eindruck. Tiefflieger tauchen auf, mit einer Schnelligkeit, daß man meint, der Himmel müsse bersten. Dann tackern die MG-Garben durch die Luft. Ehe deutsche Flak einsetzen kann, sind sie meist schon fort. Auch das Haus, in dem Bärbel so lange Zeit wohnte, wurde beschossen. Durch die Fenster fegten ein paar Geschosse und wären beinahe der dort wohnenden Frau in den Kopf gegangen. Heute früh hat man standrechtlich vier deutsche Soldaten an Telegraphenmasten aufgehangen, nicht weit vom Ort, an der Chaussee. Jedes Fahrzeug mußte halten und die Leute sich diese Schmach ansehen. Wie Puppen schaukelten sie im Winde, mit Schildern um den Leib: »Feigheit vor dem Feind«. Weil sie nicht feige genug waren, wie all die anderen, weiterhin in diesen sinnlosen Massenmord zu gehen. Sie starben als Märtyrer, als Revolutionäre, diese Männer, die vielleicht schon seit 1939 Soldaten waren. Das sind die ersten Opfer, wie sie jede Umwälzung erfordert. Und der zurückschlug ins Gegenteil und was abschreckend und gerecht erscheinen sollte, wurde zum bohrenden Stachel im Herzen. Zur harten Erkenntnis eines blutigen barbarischen Terrors einer irrsinnig geordneten Kriegsmaschinerie, die in Todeszuckungen liegt. Ich habe erfahren, mit welchen Gefühlen der Kamerad, der andere »Sklave« diese Schandtat aufgenommen hat. Ich habe gesehen, wie ihm die Hände zitterten, die Stimme sich in Wut krallte, als er davon sprach, wie ihm, dem aufs tiefste Erschütterten, die Tränen nahe waren. Und dieser Mann war kein Sozialist. Er war ganz und gar Soldat, der seine Feinde sterben sehen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken, dem auch der Freund vor den Augen fiel, ohne daß sein Leben daran zerborsten wäre. Doch was er hier gezwungen war zu sehen, gab ihm den Rest. Das 37


rüttelte ihn auf, er sah ja so deutlich, für wen er täglich im vordersten Dreck einen hundertfachen Tod starb, für wen seine Familie litt und darbte. Er sah die gewissenlose Bestie hinter dem süßlichen Gefasel von Sieg und Heldenmut. - Am Nachmittag mußte er wieder losziehen ... zur Front. Frauen erzählen, wie deutsche Soldaten in den verlassenen Wohnungen gehaust hatten. Ohne Achtung vor den Habseligkeiten der geflüchteten Leute wurde geplündert und zerstört, was nur zu erreichen war. Nur, um den Russen nichts in die Hände fallen zu lassen. Und dies geschah nicht im weiten Rußland oder dunkelsten Polen, sondern in deutschen Ortschaften an der Oder. 26. Februar 1945 Heute war wieder Großkampftag der amerikanischen Luftwaffe über Berlin. Der Berliner Osten brennt, so weit man sehen kann, ist alles in dicken, grauen Qualm gehüllt. An einzelnen Stellen sieht man blutige Flammen hochzüngeln. Die zwei Stunden waren endlos in dem notdürftig zum Unterstand eingerichteten Gang des Erdgeschosses unseres Gebäudes. Welle auf Welle kam herüber. Hagel von Bomben Volkssturm, Soldbuch knallten in der Nähe herunter, das Haus schwankte, der Boden bebte und der Luftzug der sausenden Granaten pustete durch Fenster und Türen. Und immer noch kein Ende. Dabei die Sorge um Bärbel und Li. Als alles vorbei war, ging ich mit Bärbel durch die brennenden Straßen. Wir blieben diesmal noch verschont und wollten nach Friedel schauen. Wir liefen über Trümmer, hochgeschleuderte Pflastersteine an brennenden Häusern vorbei. Stellenweise drang uns der brennende Rauch in Mund und Nase, wir mußten wieder umkehren, ei38


nen anderen Weg versuchen. In Richtung Bahnhof konnten wir nicht, dort explodierte ein Munitionszug, ... stückweise. Das Knallen dröhnte laut, ließ die Luft erzittern. An einer Stelle war ein Blindgänger mitten auf der Straße, wir konnten nicht vorbei. Weiter, noch weiter nach Osten, obwohl wir nach Westen wollten. Im großen Bogen wollten wir über Neu-Lichtenberg laufen. Auch dort alles in Flammen. Unmöglich war es, an den feuerspeienden Häusern vorbeizukommen. Hitze und Qualm nahmen uns den Atem, die Funken sprühten um die Ohren und der Wind blies in die Brunst hinein. Ströme von Menschen stürzten, gleich uns, ihrer vielleicht nicht mehr vorhandenen Wohnstätte zu. Andere standen an ungefährdeten Ecken bei ihren letzten geretteten Habseligkeiten. Mit Augen voller Wut oder grenzenlosem Leid sahen sie in die Flammen, die dort tobten, wo sie noch vor ein paar Stunden am Herd standen. Sicher erst langsam konnten sie fassen, daß sie nun alles verloren hatten. Oh, wie unbeschwert steht der Mensch in der Welt, der nichts hat, um das er sich sorgen müßte. Und doch sind wir so bürgerliche Naturen, an jedem Stück Eigentum zu hängen. Wir sind förmlich verwachsen damit, reißen uns nur unter Schmerzen los von dem Gegenstand, der uns gehört, uns Nutzen bringt oder Kultur bedeutet. Bärbel lief tapfer mit. Ihre Augen schmerzten, die Füße waren wund gelaufen, doch noch versuchten wir einen Weg zu finden, bis wir sahen, daß es erfolglos war. 28. Februar 1945 Es wird immer schlimmer mit den Luftangriffen, wenn auch nicht an Ausmaß, so doch an Zahl der Angriffe, die jetzt jeden Abend, manchmal zweimal über uns kommen. Sicher ist alles nur Aufschub für uns, einmal kommen auch wir noch dran. Man muß viel Mut zum Leben haben, in dieser Zeit nur Hoffnung an eine bessere Zukunft. Ich habe beides, immer noch, dazu eine unbändige Liebe zu meiner kleinen Frau. Um ihretwillen muß ich schon stark sein. Wenn

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wir nur am Leben bleiben, bis dieses verfluchte Volk sich zum Frieden bequemt und die verbrecherischen Lumpen zum Teufel jagt, haben wir schon gewonnen. Hungern werden wir noch ... aber auch das vergeht. 12. März 1945 Die Menschen sind so hin und her gerissen von den sich widersprechenden Nachrichten über angebliche Greueltaten der Russen an Frauen und Kindern. Ständig stehen die Zeitungen voll davon, Radios schreien es hinaus, dazu kommen noch (meist über mehrere Personen hinweg verbreitete) Aussagen von Flüchtlingen und Soldaten. Viele Menschen fressen gleich alles, was sie lesen oder hören unverdaut, andere schwanken zwischen dem, was sie glauben sollen. Gewiß, es wird nicht überall fein hergehen, vielleicht auch grausam und brutal, leider auch an Unschuldigen. Aber wer ist unschuldig? Die große Masse des Volkes bestimmt nicht, denn sie wäre stark genug gewesen, Krieg, Grauen und Hunger zu vermeiden, wäre sie nicht so bodenlos dumm und gutgläubig. Aber auch Dummheit ist eine Schuld, wenn auch eine traurige, denn sie hatte Tausende von Klugen geopfert. Diese Klugen und Wissenden, die leider noch zu schwach sind, um die stupide Masse mitzureißen. Und sie werden immer schwach bleiben, dem äußeren Zwang gegenüber, wenn sie die Masse nicht hinter sich bringen können - vor allem, wenn sie jene nicht bilden können. Die Wurzel des Übels liegt tiefer als man glaubt, nämlich im jahrtausendealtem Geist des Nationalismus, Ahnentums und Duldsamkeit gegenüber Staat und Kirche. Das Resultat ist der Spießer; ob er nun Prolet oder Kleinbürger ist, er steckt voll mit seichtem Spießertum. Eine grundlegende Änderung dieses Typus kann erfolgen nur durch: Bildung, Zertrümmerung bisher bestehender Moralbegriffe und angestaubter Traditionen, Selbstbewußtsein.

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Jetzt liegt aber der Gegensatz klar auf der Hand: Wer noch nicht erkannt hat, was gespielt wird, ist ein armseliger Tropf, den man bedauern müßte, wenn er harmlos wäre, den man aber hassen und ausrotten muß, weil er den Krieg verlängern hilft und durch sein Dasein anderen das Leben nimmt. Wenn diese Ansicht auch sehr unmoralisch erscheint, sie hat ihre Berechtigung. Wir müssen uns eben von einer falschen, rührseligen Nächstenliebe befreien, die sich wie eine schleimige Qualle an unser ehrbares Gemüt hängt, uns dabei den Blick total vernebelt. Hier muß es eben heißen: Willst Du nicht begreifen, dann hole Dich der Teufel, dann mußt Du krepieren, denn Du hinderst uns, die wir uns befreien wollen! Ja, soviel Egoismus muß ich als Mensch in mir haben, denn mein Leben ist noch immer das wichtigste. Wenn ich sterben will für eine Idee, ein Märtyrer sein will - gut, so ist das meine Sache, wenn ich aber leben will, so soll mir das auch niemand verwehren. 16. März 1945 Heute hat uns O. besucht. Ein feiner Junge. Typ: intellektueller Arbeiter, wie man sie leider noch zu wenig trifft. Er ist auch, wie ich, Autodidakt, Prolet aus kleinstem Milieu mit intensivem Bildungsdrang. Er ist ruhig, macht einen selbstbewußten Eindruck, was mir sehr sympathisch ist. Wir haben viel Gemeinsames, weltanschaulich, nur ist er bewegter, aktiver als ich. Darum könnte ich ihn beneiden. Wir sprachen über Erziehung des einzelnen Menschen und der gesamten Arbeiterschaft. Bärbel ist darin noch sehr skeptisch, sie glaubt nicht sehr an die enorme Macht der Erziehung und der Umwelt zur Förderung des menschlichen Charakters, seiner Vorteile und Schwächen. Sie läßt sich vom ausgeprägten Vererbungsgedanken nicht abbringen, dem ich aber nur zweitgradige Bedeutung bewillige. Bärbel ist jedoch aufmerksam bemüht, in diese Welt des »Materialismus« einzudringen, der ja nur der einzig naturgemäße Maßstab

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zur Erkenntnis geschichtlicher und menschlicher Zusammenhänge ist. Ich kann weltanschaulich nur materialistisch denken, neige aber ethisch zum Individualismus, den ich mit dem Sozialismus verbinden will. Warum soll das auch nicht möglich sein? Wenn Freiheit der Produktionsweise die ökonomische Voraussetzung zu einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung ist, muß die Freiheit der Persönlichkeit eine ethische Bedingung dazu sein. Doch ist die ökonomische Befreiung am wichtigsten, weil erst auf ihrem Boden die individuelle Befreiung wachsen kann. Natürlich muß auch schon vorher, wenn eine Befreiung noch nicht vollzogen ist und das Volk sich im Kampf befindet, der Wert der Persönlichkeit gepflegt werden. Dies ist leider bisher nicht genug beachtet worden. Die Arbeiterparteien, die als Lehrkörper dafür in Frage kamen, legten mehr Wert darauf, Massen und Stimmaterial zu bekommen und bei diesen Massen das Massen-Bewußtsein und proletarische Niveau aufrecht zu erhalten, als einer weniger großen Menge, die dafür aber ausersehen ist, zu einer geistigen und individuellen Bildung zu verhelfen. Dies tritt dem nicht entgegen, daß das erste und wichtigste Moment der Kampf um ökonomische und politische Freiheit ist, ein Kampf, der nur von der Masse durchgeführt werden kann. Um aber diese Masse zum Kampf um ihr eigenes Recht zu ermuntern, muß man ihr weniger Phrasen, dafür aber mehr persönliche und wissenschaftliche Schulung zuteil werden lassen, denn sonst fehlt die innere Stärke und das Verständnis für den Sinn und Zweck der Sache, für die der Einzelne kämpft. Wer dabei nicht mitkommt, wer keinen Wissensdrang verspürt und aus seinem geistigen Milieu nicht heraus will, kann höchstens nur ein Mitläufer, ein persönlichkeitsloser Nachredner gehörter Phrasen sein, und der Gesellschaft oder der Revolution nicht von Nutzen sein. Denn eine sozialistische Partei sollte sich nicht der Masse anpassen, sondern sie zu sich hinaufziehen. Der intellektuelle Individualist darf nicht hinabsteigen zum ungenügenden Bildungsgrad des Proletariats, sondern muß durch seine Per-

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sönlichkeit und sein Wissen alles tun, dort Unwissenheit und Herdentum zu beseitigen. Praktisch sieht es natürlich so aus, daß eine Bildung zu freien Persönlichkeiten aus der Masse heraus länger dauern wird, während aber das Bedürfnis, aus dem drückenden materiellen Elend herauszukommen bei der Masse viel stärker sein kann und zu erhöhter Aktivität anspornen wird. Dann muß man alle Kraft daransetzen, die Masse zum entscheidenden Kampf zu veranlassen. Man muß ihr voraus sein und sie mitreißen. Wenn nach siegreich vollendeter Revolution die ökonomische Befreiung durchgeführt worden ist, muß auch schon die geistige Bildung der Persönlichkeit im Fluß sein. Noch wird Zwang des Wissenden, Geschulten gegenüber der unwissenden Masse nötig sein, um sie zu so selbständigen denkenden Persönlichkeiten zu erziehen. Ich bekam wieder eine Aufforderung vom Volkssturm für den Donnerstag zur Unterführer-Ausbildung zu erscheinen und wurde Gruppenführer. Weil ich mal Soldat war, hielt man mich wohl dazu für geeignet, auf eine weltanschauliche Eignung hat man mich jedenfalls nicht geprüft. So wird einem die Zeit gestohlen: Donnerstags und Sonnabends je zwei Stunden. So ganz ohne Vorteil ist die Sache jedenfalls nicht. Man lernt neue Menschen kennen und Gott sei Dank auch ganz vernünftige. Li hat sich eine Gesichtsrose zugezogen. Vollständig aufgequollen und unkenntlich sah sie im Gesicht aus, doch nun ist es schon besser, auch das Fieber hat aufgehört. Ich bin mächtig froh, daß es ihr wieder besser geht. 30. März 1945 Jetzt kommt auch die Front im Westen ganz anständig ins Rollen: Die Amerikaner sind bis Gießen, Marburg, Grünberg, Lohr vorgestoßen und stehen außerdem schon im Ruhrgebiet. Dafür geht es im

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Osten momentan nicht vorwärts. Pause vor dem Ansturm auf Berlin. Die Luftangriffe sind auch noch immer intensiv. Die »Geschichte der Philosophie« bin ich durch. War sehr gut als Umriß. Aber zum korrekten Durcharbeiten fehlt mir jetzt die Energie. Ich werde nächstens die »Ethik« von Kropotkin, und Engels »Anti-Dühring« noch mal lesen, evtl. auch Stirners »Einzigen«. Mit dem russischen Roman von Gladkow »Zement« bin ich sehr zufrieden. Zwar tendenziös, aber kritisch, zumindestens stilistisch sehr nett. Na, ich werde weiter sehen. Li ist wieder auf dem Posten, aber noch ganz schwach. Bärbel hat ein paar Taschen genäht und Nährmittel und Kartoffeln dafür bekommen. Nun futtern wir jeden Tag Griespudding, füllen unseren Magen damit, weil wir mit Brot und Kartoffeln mächtig sparen müssen. Für eine Tasche hat Bärbel Zigaretten eingetauscht. Dem Mädel macht es eine zu große Freude, für mich etwas Gutes zu tun, was mich glücklich macht. Und ich könnte jubeln. Mein Frauchen hat ein Talent, immer dann noch etwas zu organisieren, wenn ich am Verschmachten bin. 7. April 1945 Gestern fuhr ich mit Bärbel aufs Land, zum Organisieren. Wir sind am Ende mit Kartoffeln, Brot - überhaupt mit allem. Was bleibt, man muß hamstern gehen, muß versuchen, den hartleibigen Bauern die Kartoffeln pfundweise herauszuziehen, muß auch Mitleid erwekken können und sich ebenfalls triefende Klagen mit anhören. Bärbel versteht das ganz gut. Sie hat auch meist Erfolg. Wir pilgerten von Ort zu Ort in Richtung Frankfurt/Oder, ein Stück mit einem raschen Pferdewagen, dann per Auto bis Falkenhagen. Erst hier, im schönen hügeligen Land, gab es Erfolg. Zwei nette lachende Russenmädchen luden uns die kostbaren Kartoffeln gleich von der Miete aus in die Säcke. Sie waren überhaupt so froh und lachend, vielleicht weil 18 Kilometer weiter ihre Landsleute auf den Moment zum Losschla44


gen warteten. Wir hatten jedenfalls unsere Kartoffeln, soviel wie wir nur tragen konnten und waren selig. Auch der Schnaps ging über Bord: Er brachte vier Kommißbrote, vier Eier, Speck und eine Büchse Käse. Lange kam kein Auto. Endlich hatten wir Glück und kamen zum Bahnhof Fürstenwalde. Dort ein wüstes Treiben, Fluchen von Frauen. Es kamen verschiedene Menschen von der »Tour« mit prallen oder weniger prallen Säcken. Ein Heer der Hungernden, das nicht mehr Wäsche und Betten auf der Bahn herumtransportiert, sondern Kartoffeln ... in allen Verpackungsarten. Ein ankommendes Auto wurde angehalten, kontrolliert, den Frauen die Kartoffeln fortgenommen, auch Brote. Die Menschen, die nach langen Mühen kurz vor dem Ziel standen, sahen sich enttäuscht und grausamer Haß stieg in ihnen hoch, gegen diese gemeine Schikane, gegen diese gemeinen Peiniger und Unterdrücker. Sie kamen sich gepeitscht und zertreten vor, weinten und fluchten und in ihrem Innern zerriß eine neue Faser, die sie noch mit dem Bestehenden verband. Krasser noch wurde der Abgrund, größer die Frage: »Warum?« 12. April 1945 Große Aufregung im Werk: Alliierte Truppen in Magdeburg. Diese Schnelligkeit kam unerwartet und brachte die Geister in Aufregung. Was wird nun kommen, wie sich unser Schicksal in den nächsten Tagen gestalten? Das waren Fragen, die uns jetzt alle bewegten. Dazu der Wunsch, recht schnell Ruhe zu haben. Fast alle wünschen eine rasche, kampflose Besetzung. Nur noch ein paar unverbesserliche Idioten glauben an Sieg und faseln von Kampf bis zur Selbstaufopferung. Doch auch die meisten der »kleinen Kriegsverbrecher« haben die Hosen voll, sind klein und still geworden und in einem Winkel ihres verschrumpelten Gehirns dämmert leise der Hauch einer Erkenntnis, daß sie betrogen wurden. Sie fühlen sich nun einsam, im Stich gelassen. Der Boden unter ihnen fängt gewaltig an zu schwanken und irgendwie ahnen sie, daß die Zeit, so sie zu Fall kommen, ganz nahe ist. 45


Beim Volkssturm zur Unterführer-Ausbildung werden Gruppen, Formationen geübt. Wir pauken »Reihe«, »Schützenkette« und lautes Kommando. Und der Amerikaner steht in Magdeburg. Daran denken wir mehr als an den blöden Kram, den man mit uns durchexerziert. Ich schaue mir die Männer an, stelle die Frage: »Wie werden sie sich verhalten, wenn es hart kommt?« Es sind meist ältere Leute mit abgearbeiteten Gesichtern, Arbeiter. Ich glaube, sie werden vernünftig sein, man merkt ihre Unlust an allem, man merkt den Zwang, der dahinter steht, dessen blutige Fratze höhnisch grinst. Mit diesen Männern wollt ihr siegen, wollt zurückholen, was verloren ist, von Aachen bis Magdeburg, von Königsberg bis Küstrin? Die ganze Welt lacht darüber schallend laut. Ich lache auch, aber in mir krümmt sich etwas wie toll, wälzt sich gemartert im Sumpf. Verfluchtes Leben, welch hohen Tribut verlangst Du noch? Wo sind die Grenzen dessen, was ein Mensch ertragen kann? Es gibt wohl keine! »Krepiere du Aas, wenn du das Leben nicht erträgst, philosophiere nicht; hilf, die festgefahrene Karre aus dem Dreck zu ziehen, verblute, damit wir noch ein paar Wochen länger am Leben bleiben«. So schätzt man uns ein: Die Ware Mensch, deren Wert täglich sinkt. Vielleicht überlebe ich diese Hölle, vielleicht darf ich später meinen Kindern von diesem Irrsinn, dessen der geistige Höhepunkt der Natur, der vernunftbegabte Mensch fähig ist, berichten. Vielleicht darf ich mein Leben behalten, darf wirken und an einem gesunden Aufbau helfen, der mir, wie allen anderen zugute kommt. Ohne Pläne und festgelegte abstrakte Konstruktionen, die vom Gang der Geschehnisse wie ein Kartenhaus umgepustet werden, nur mit dem Willen zum Gestalten. Der Augenblick wird zeigen, was notwendig ist. Dann wird der Weg frei sein, und Du, kleine Bärbel wirst fest und hoffnungsvoll mit mir im gleichen Schritt gehen. Dann wird es sich gelohnt haben, auszuhalten, auch im Schlimmsten. Wenn ich Dich bei mir habe, so wie bisher, ist eine tausendfältige Kraft da, die uns vorwärtstreibt. Gemeinsame Freude - gemeinsames Glück. Un-

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sere Zukunft, wir werden sie finden, begraben unter dem ganzen Schutt dieser erbärmlichen Zeit. Und müssen schaufeln mit schwieligen Händen, bis wir sie bloßlegen. Du hast keine Furcht davor, Bärbel ... ? 14. April 1945 Volkssturm - Vereidigung. Die lächerlichste Phrase, die ich je erlebte. Ein Bataillon alter Knochen, grauhaariger Greise. Abgehärmte Proleten, die schon 1914/18 im Dreck lagen und nun wieder brauchbar sind zum Kanonenfutter? Oh, Schande, ihr alten Väter, womit hab ihr das verdient? Doch auch ihr bildet die Masse, die stumpfe, gedankenlose Herde: Habt ihr etwa keine Schuld? Habt ihr nicht am Biertisch gesessen, als die braune Meute durch die Straßen zog, mit verschränkten Armen zugesehen, wie eure Jungens dabei waren, wie sie dann mit Mörderorden geschmückt in den Krieg zogen und »Hurra« und »Vaterland« brüllten? Habt ihr denn nicht verhindern können, daß dies aus ihnen wird, daß sie anstatt der »Nation« den Gedanken »Menschsein« in ihrem jungen Schädel tragen sollen, konntet ihr sie dazu nicht erziehen? Nun ist der Weg schwer zu gehen. Wir ließen Reden über uns ergehen, strotzend von Sieg und Glauben. Dann - die Vereidigungsformel versickerte in lautlosem Gemurmel. Nur wenige Münder bewegten sich. Ein paar Führer schrien sie über den Platz hin, die meisten schwiegen. Auch bei der Hymne blieb es erschreckend ruhig. Erstes Anzeichen beginnender Aktivität. Passive Resistenz. Ich glaube nicht, daß diese Männer sich lange verteidigen. 16. April 1945 Heute früh ist der Russe an der Oder zum Großangriff angetreten. Mörderisches Trommelfeuer grollte bis zu uns hin. Nun kann es nur noch wenige Tage dauern. Die letzte Runde für Berlin hat begon-

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nen. Jetzt sagt schon jeder: »Je schneller, desto besser«, »Wenn sie nur erst hier wären«. Abends. Russische Bomber in Richtung Berlin. Als es Alarm gab, war schon ostwärts der Himmel rot von Leuchttrauben. Frauen, Kinder, auf dem Wege zum Bunker, rasten in die Keller zurück. Aber bis zu uns kamen die Flugzeuge nicht, in mehreren Verbänden griffen sie die Räume Fürstenwalde, Eberswalde, Freienwalde an. Gleich nach Entwarnung gab es neuen Alarm: Englische Moskitos flogen aus dem Westen ein. Diesmal bebte die Erde, der Luftdruck ließ die Türen erzittern und wir hielten den Atem an. Bombe auf Bombe, aber weiter weg. 20. April 1945 Die russischen Flieger machen uns die Hölle heiß. Außerdem die Moskitos. Wenn es Alarm gibt, bleibt meistens keine Zeit mehr, zum Bunker zu laufen. Wir sitzen im Keller des gegenüberliegenden Hauses, das etwas besser gebaut ist. Wir sitzen und verfolgen durch den Drahtfunk eine Welle nach der anderen, die in Berlin einfliegen - erst Russen, dann Briten - in regelmäßigen Abständen. Fünf Stunden lang, dann endlich gab es Ruhe. 21. April 1945 Jetzt kommen ereignisreiche Tage: Die Russen sind dicht bei Berlin, bald wird es hier losgehen. Wenn es doch bloß soweit wäre und wir alles hinter uns hätten. Heute früh die ersten Artillerieinschläge bei uns und dann ohne große Unterbrechung Dröhnen und Ballern auf beiden Seiten. Wenn das schwere Geschütz in unserer Nähe loslegt, zittern unsere Fenster. Dann wieder ein helles Pfeifen in der Luft, darauf ein knallender Aufschlag, immer ziemlich dicht bei uns. Wir wagen uns nur noch kurze Zeit in der Wohnung aufzuhalten. Meist sitzen wir im Keller in banger Unruhe, daß uns das Haus über

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dem Kopf in Brand geschossen werden könne und hören das Getöse der abfeuernden Geschosse und einschlagenden Granaten. 22. April 1945 An ergiebigen Schlaf war in dem engen Luftschutzkeller nicht zu denken. Dazu ununterbrochen Beschuß. Wir erfahren, daß die Russen schon in Ahrensfelde, Wartenberg sind, etwas später in Weißensee. Züge von Soldaten in Kraftwagen und Panzern flüchten in Richtung Stadt. Flüchtlinge mit ihrer kleinen Habe ebenfalls. Ein wahres Heerlager, ein nicht abreißendes Band. Wir wagen uns nur rennend über die Straßen, weil die Einschläge ziemlich dicht liegen. Aber wir müssen an Lebensmittel denken. Die Geschäfte verkaufen ihre Restbestände. Doch Brot ist nirgends mehr zu haben, was noch in den Läden war, wurde schon gestern verkauft. Wir stehen in langer Reihe bei einem Lebensmittelgeschäft im Hausflur. Ich bin vorne auf der Straße, während sich Bärbel einpacken läßt, was abgegeben wird. Von Weißensee her wird geschossen. Wir sind gerade fertig, da kommen andere aus unserem Hause, stellen sich hinten an. Nicht lange, wir sind schon zu Hause, kommen sie ganz verstört zurück, mit Schrecken in den Gesichtern. Dicht bei dem Geschäft, genau vor dem Hausflur ist eine Granate explodiert. Ein paar Männer waren gleich tot, Frauen wälzten sich auf der Erde, schreiend, stöhnend. Sie selbst standen hinten, welch Glück, bekamen nichts mehr ab. Nur Herr G. einen Splitter in die Hand. Bärbel wurde weiß, mir stockte der Atem. Li konnte sich auch kaum fassen und drückte uns gleich an sich. Fünf Minuten früher und von mir wäre sicher nicht viel übrig geblieben. Heute soll uns niemand mehr rausbringen. Der Russe kommt näher und näher. 23. April 1945 Heute früh erste Bekanntschaft mit russischen Soldaten. Drei Mann kamen herein, fragten nach deutschen Soldaten und nahmen uns dann unsere Taschenuhren ab. Schöne Begrüßung! Na, trotzdem waren 49


wir alle viel zu froh darüber, daß nun für uns alles vorbei war, als daß wir uns dadurch erschüttern ließen. Noch pfiffen Granaten, und kamen deutsche Flieger und warfen Bomben. Ruhe war keineswegs, aber es wurde hier kein großer Widerstand geleistet und die Russen konnten ungehindert einziehen. Wir gingen auf die Straße, unterhielten uns mit den Russen, fragten nach allem möglichen, ließen uns Tabak und für die Kinder Schokolade geben. Endlich wieder Luft, welche Wohltat. Von der großen Zuckerwarenfabrik Lembke kamen Leute mit Eimern voll Marmelade, Sirup, und anderen süßen Dingen. Wir holten uns auch verschiedene Eimer voll. Die ersten Enttäuschungen von den Befreiern: Frau G. wurde im Keller vergewaltigt, dann in ihrer Wohnung noch ein paar Mal. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Sollten sich diese grauenhaften Gerüchte teilweise bewahrheiten, sollten russische Soldaten, Träger der Idee der Weltrevolution und des Sozialismus wirklich ihre Wut an uns auslassen und alles begangene Übel entgelten? 25. April 1945 Wir hausen noch immer (23 Menschen) in dem engen Luftschutzkeller, die Wohnungen haben die Russen belegt. Wüst, unbeschreiblich sieht es dort aus. Alles ist durcheinandergeworfen, verschmutzt, zertreten. Viele Gegenstände sind gestohlen. Wir haben keine Ruhe. Immerzu gehen Soldaten aus und ein. Die Frauen müssen sich in acht nehmen. Sie sind alle mächtig ängstlich. Es sind schon viele vergewaltigt worden, wie man dauernd zu hören bekommt. Heute nacht ist Li herausgeholt worden, von einem Offizier. Sie kam aber bald, sehr erschüttert, weinend. Die Kinder haben es gut, erhalten Süßigkeiten, Brot, Essen; auf der anderen Seite sind die Soldaten freigiebig und freundlich.

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Bärbel hat Angst, werde ich sie schützen können? Sie will ein Kind von mir ... wenn sie vielleicht dran glauben muß, dann ist es schon besser so ... Wir haben es getan; nun ist sie ruhiger, zuversichtlicher. Berlin hat noch immer nicht kapituliert. Die großen Bunker am Friedrichshain, Humboldthain und Zoo leisten erbitterten Widerstand. Viele Flüchtlinge aus diesen Gegenden ziehen her. Die Kämpfe toben erbittert. Diese Tollköpfe lassen die ganze Stadt in Brand schießen. Und die Russen plündern unsere Keller aus. Wenn sie doch nur erst wieder von hier abrücken würden. 26. April 1945 Ich habe es gewagt, mit Bärbel zu Friedel zu gehen. Es war auch gerade kein Beschuß, kleine Feuerpause, sonst hämmert die Artillerie ununterbrochen auf die Widerstandsnester. Ein trauriges Bild auf den Straßen: Noch mehr Trümmer und Ruinen, als ohnehin schon waren, tote Pferde, aufgedunsen, mit vorquellenden Därmen stinken in der Sonne, Leichen von Männern, Frauen, teilweise ganz zerfetzt. An einem zerschossenen Lastwagen liegt ein Mann, seine Beine hängen zerrissen, blutig oben an der Bremsvorrichtung. Überall dasselbe Elend. Auch bei Friedel wurde so gehaust, mit den Frauen und Sachen. Im Hause kochen wir gemeinschaftlich. Die Lebensmittel wurden zur allgemeinen Benutzung herausgegeben und werden gemeinsam verbraucht. Brot haben wir nur noch sehr wenig. Hin und wieder kleine Reibereien, doch sonst geht alles gut. 2. Mai 1945 Gestern 1. Mai, Tag des internationalen Proletariats. In Rußland wird dieser Tag festlich begangen, auch die Soldaten hier haben gefeiert Aber wir, deutsche Proletarier, besiegte Proletarier, müssen die letz51


te Wäsche und unsere Frauen hergeben für die Sieger, die Helden des großen russischen Vaterlands, für die russischen Proletarier. Von Internationalität, von Verbrüderung keine Spur. Wir sind die Besieg ten, an uns muß sich der Haß austoben, ... den wir geschürt haben. Oh, Terror unter Hitler - und nun Terror unter der roten Fahne. Die Idee des Kommunismus nach sowjetischer Grundlage hat es nun sehr schwer, sich durchzusetzen. Bei vielen war Hoffnung, doch nun ist alles zerbrochen. Nun muß man erst beweisen, daß diese Soldaten nicht die Idee verkörpern, für die wir gekämpft haben und noch kämpfen werden. »Proletarier aller Länder vereinigt euch« ist die alte Parole und sie ist noch immer neu. Heute hat der Beschuß aufgehört. Berlin hat kapituliert, endlich! Ich war in Weißensee und Heinersdorf. Dort tobt noch die Widerstandsbewegung. Hirnlose Volksverbrecher knallen aus den Lauben und Häusern. Die Häuser, aus denen geschossen wird, werden kurzerhand in Brand gesteckt. Eine große Enttäuschung: E.* ist einen Tag vor Weihnachten abgeholt worden und kam in ein KZ in der Nähe von Bayreuth. Hoffentlich ist er noch am Leben. Schade, nun kann er die Befreiung vom Nazijoch in Berlin nicht mehr miterleben. Und gerade darauf hatte er sich so gefreut. 5. Mai 1945 Ich bin Blockobmann geworden und habe Verbindung mit den Genossen der sozialistischen Richtung. Endlich kann ich wieder arbeiten, wenn auch zuerst im kleinen Rahmen. Von einer kommunistischen Zelle bei uns ist noch nichts zu hören. Noch muß alles aus dem Schlaf geweckt werden. Wir fangen an, die Brotversorgung zu organisieren.

* Erdmann Meyer, kommunist. Funktionär, Widerstandskämpfer, war mit uns befreundet.

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9. Mai 1945 Der große Tag: Frieden! Der erlösende Moment, auf den wir 5 ¾ Jahre gewartet haben. Deutschland hat bedingungslos kapituliert. Nun hat das Blutvergießen ein Ende. Die Russen feiern den Sieg und wir flaggen auch rot. Bei vielen ist es auch nur aus Zwang und ein bißchen Theater, aber ein freudiger Anblick, aus allen Häusern rote Fahnen. Wenn nur der Geist so wäre wie die Fahnen, so rot und revolutionär, wie die roten Fahnen des Proletariats. Ich will helfen, ihn zu schaffen. Jetzt kann und darf ich nicht untätig sein..

Gespräch mit Kurt Wafner FRAGE: Sie erwähnten in ihrem Tagebuch, daß Sie zum Volkssturm eingezogen wurden. Wie ging das vor sich und wann konnten Sie sich dem Einsatz entziehen? ANTWORT: Ich war im Sommer 1943 u.k. (unabkömmlich) gestellt worden, da ich in einem Rüstungsbetrieb (in der ElektrokohleFabrik Siemens-Plania in Lichtenberg) als Physik-Laborant beschäftigt war. So wurde ich also aus der Wehrmacht entlassen, konnte von einem Tag zum anderen meinen Standort in Minsk (Weißrußland) verlassen und nach Berlin fahren. Kurze Zeit Entlassungslager in Strausberg, dann konnte ich die verhaßte Uniform abgeben und wurde wieder Zivilist. Eines Tages erhielt ich die Aufforderung, mich beim Volkssturm zu melden, in der Gottfriedstraße, in der Gartenstadt, in einer kleinen Villa war wohl die Kommandostelle. Die erste Reaktion war: Abhauen! Weg von hier! Nicht noch einmal eine Waffe in die Hand nehmen! Ich fuhr also Hals über Kopf mit meiner damaligen Lebensgefährtin Bärbel* nach Seelow - dort hatte sie 1944 vor den * Da B. Halbjüdin war, war eine Heirat wegen der nazistischen Rassengesetze nicht möglich. Wir schlossen die Ehe am 2. Juni 1945. Sie währte bis zur Scheidung im Sommer 1954.

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Bomben in Berlin Unterschlupf gefunden und unseren Jungen zur Welt gebracht. Zwei Tage hielt ich mich dort auf, dann dachte ich: Hat ja keinen Zweck; die finden dich ja doch. Die Greifkommandos der Feldgendarmerie waren ja ständig im Einsatz. Türmen hatte also keinen Zweck. So fuhren wir nach Berlin zurück. Im Betrieb konnte ich mein Fehlen mit Unpäßlichkeit erklären. Ich folgte nun der Vorladung. Ich erklärte dem Mann, daß ich ja bereits im Betrieb zu den Luftalarm-Wachen eingeteilt sei und zu anderen auch nächtlichenArbeiten und daher keinen Volkssturm-Dienst machen könne. Ich wurde aber dennoch eingezogen - allerdings mit dem Hinweis auf notwendige Freistellungen. Da ich bei der Wehrmacht einen kleinen Dienstgrad hatte - ich war Gefreiter -, machte man mich zum Zugführer in der Hohenschönhausener Volkssturm-Einheit. Erst wurden Unterführer-Instruktionen durchgeführt - in der Schule in der Roedernstraße - und dann setzte man mich als Ausbilder ein. Mit einer kleinen Gruppe meist alter Männer oder der ganz jungen - Hitlers letztes Aufgebot - übte ich Kampfeinsätze mit der Panzerfaust, Marschformationen, Schützenkette, Schützenlinie usw. Diese Gefechtsübungen kannte ich ja noch aus meiner Rekrutenzeit. Sie fanden hauptsächlich in der damaligen Kurt-Eckert-Straße (heute Berkenbrücker Steig) statt. Und ich dachte: Mit diesen Mätzchen soll nun Berlin verteidigt werden! Im letzten Kriegsjahr wurden die Bombenangriffe auf Berlin immer dramatischer und mein Wachdienst bei Siemens-Plania immer intensiver. Außerdem mußte ich oft nachts Tests an Flugzeug-Aggregaten vornehmen. Das waren Festigkeits- und Kältetests. Alle zwei Stunden notierte ich die Werte. Ich durfte dann am Vormittag ausschlafen - wenn nicht gerade Alarm war und ich als Beobachtungsposten auf dem Dach einer der Fabrikhallen zubringen mußte. Und die Russen kamen immer näher! In diesen aufregenden Tagen war an Volkssturmdienst kaum noch zu denken. Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee wollte man mich bei Siemens noch zur Verteidi-

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gung des Werkes heranziehen und mich nicht mehr nach Hause lassen Da machte ich den Leuten klar, daß ich als Unterführer beim Volkssturm Dienst zu machen habe und ja nicht gleichzeitig an zwei Stellen meine Pflicht tun könne. Beim Volkssturm schob ich die dringenden Kampfeinsätze im Werk vor. So ist es mir gelungen, mich an den entscheidenden letzten Tagen vor dem Einmarsch der Roten Armee von beiden Stellen fernzuhalten. Ich habe mich in unserem Haus-Luftschutzkeller verkrochen und auf das Ende der Kampfhandlungen gewartet. Wäre ich von den Kettenhunden (so nannte man die Feldgendarme) geschnappt worden, hätten sie mich als Deserteur aufgehängt - wie das damals häufig der Fall war. Ich hatte Glück, daß keine der Wehrmachts- oder SS-Streife unsere Keller nach Kampftauglichen oder Deserteuren durchkämmten, und so blieb ich unbehelligt. Einmal allerdings wäre es mir schlimm ergangen - aber durch sowjetische Granaten. Die Russen beschossen Hohenschönhausen fast pausenlos. Wir mußten ja aber mal raus aus unseren Kellern, um Lebensmittel zu besorgen. Wir gingen zum Kaufmann Gontscherowski an der Ecke Lüderitzstraße/Küstriner Straße und kauften noch die letzten Waren ein. Während sich Bärtel im Laden einpacken ließ, was noch zu haben war - nach Marken wurde nun nicht mehr gefragt -, stand ich draußen vor der Toreinfahrt. Mit einigen Männern zusammen. Wir waren dann gerade wieder zu Hause, da kamen unsere Nachbarn aufgeregt angestürzt. Dort, wo ich gestanden hatte, war eine Granate eingeschlagen. Die Männer, mit denen ich eben noch gesprochen hatte, waren getötet worden. Das war ein schreckliches Ergebnis! Am 22. April kamen die ersten Soldaten der Roten Armee in unseren Keller - und damit Schrecken anderer Art, die hauptsächlich unsere Frauen und Mädchen betrafen. Aber wie auch immer wir heute über ihre Taten urteilen, in jedem Fall befreiten sie uns von dem schlimmeren Übel: vom Krieg und Faschismus.

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Als wir noch in unseren Kellern hausten - die Rotarmisten hatten die Wohnungen mit Beschlag belegt -, traf uns eine weitere Schrekkensmeldung: Einer der Volkssturmführer, ein fanatischer Nazi und sein Sohn hatten vom Dach des Wohnblocks Kurt-Eckert-Straße, Berliner Straße auf russische Soldaten geschossen. Meine Volkssturm-Einheit war somit noch aktiv. Als Vergeltung setzten die Russen den ganzen Block in Schutt und Asche. Er ist dann in den fünfziger Jahren wieder aufgebaut worden. FRAGE: Am 5. Mai 1945 haben Sie in Ihr Tagebuch geschrieben, daß sie Blockobmann wurden. Wer hat Sie dafür eingesetzt? ANTWORT: Es gab ein paar Leute in unseren Wohnblocks, die mir schon vorher aufgefallen waren, weil sie in Gesprächen aus ihrer antinazistischen Gesinnung kein Hehl machten. Einer von ihnen, ein gewisser Helmut Kratz, hatte immer lauf von seinem Balkon herabgerufen, wenn amerikanische oder britische Kampfverbände im Anflug auf Berlin waren - für all jene, die kein Radio besaßen oder nicht hören konnten, wenn es keinen Strom gab. Er hatte wohl einen Batterie-Empfänger. Ja, anfangs mußten wir oft bei Kerzenlicht sitzen - als die Russen raus waren, auch wieder in unseren Wohnungen - und Wasser gab es auch nicht. Das mußten wir in Eimern und Kesseln mit Handwagen vom Wasserwerk in der Landsberger Chaussee holen. Es war erstaunlich, wie schnell die Menschen in den ersten Nachkriegstagen zueinander fanden. Man konnte nun offen miteinander reden und ich erfuhr so von manchen Schicksalen, von Gefährdungen und Leiden, die sich ganz in der Nähe abgespielt hatten. In der Wohnung neben unserem Balkon zum Beispiel wohnte die Familie Manthei, die die jüdische Mutter im Kleiderschrank versteckt hatte; ein paar Aufgänge weiter, Große-Leege-Straße 61, glaube ich, wohnte die Mutter des hingerichteten Widerstandskämpfers Anton Saefkow. Die erste Gelegenheit zum Gedankenaustausch bot sich bei einem Arbeitseinsatz. Wir Mieter aus unserem Wohnblock gegen56


Polizeiausweis von Kurt Wafner in deutscher und russischer Ausfertigung

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über der Verdener Gasse beseitigten den Schutt eines zerbombten Eckhauses. Und während des Schippens erfuhr ich von eben diesem Helmut Kratz, daß das neugegründete Bezirksamt Antinazis als Straßen- und Blockobleute einsetzen wolle. Das geschah, wie ich später erfuhr, auf Weisung der sowjetischen Kommandantur, die in einem Haus in der Hauptstraße untergebracht war. Diese Einrichtung der Obleute war so etwas wie der verlängerte Arm der nun von den Sowjets eingerichteten deutschen Verwaltung. Mitzuhelfen wieder ein normales Leben zu führen, war ja in meinem Sinne und so meldete ich mich und wurde Obmann für etwa zehn Aufgänge unseres Wohnblocks am Ende der Große-Leege-Straße. Meine Haupttätigkeiten bestanden im Registrieren und Verteilen der Lebensmittelkarten und diverser Zuteilungen. Ich erinnere mich, daß ich mich einmal als Fleischer betätigen mußte und große Rinderund Schweinehälften in gleiche Teile zerlegte, wohl darauf bedacht, daß jede Familie den gleichen Anteil bekam. Aber es gab auch unangenehme Tätigkeiten; so zum Beispiel, wenn ich bei den Bewohnern Radiogeräte eintreiben mußte, die in der Kommandantur abzugeben waren oder für entlassene KZ-Häftlinge Wohnraum beschaffen sollte. Das hatte dann so zu geschehen, daß man bekannte Naziführer kurzerhand aus ihren Wohnungen warf. Ich muß gestehen: Wenn es jemanden traf, der mitgeholfen hatte, Menschen ins Unglück zu stürzen, hatte ich keine Skrupel. Aber mitunter war es schwer zu entscheiden, wer Täter und wer Mitläufer war. Von der SowjetKommandantur bekamen wir Obleute auch mal die Anweisung, die Fahrräder der Bewohner einzuziehen. Diese und ähnliche Aktionen machten uns bei den Mietern nicht gerade beliebt. Auch die Zuweisung der Lebensmittelkarten war unsere Aufgabe. Wir mußten kontrollieren, wer berechtigt war, die Karten A oder B zu erhalten oder wer sich mit der Hungerkarte zufrieden geben mußte. Die Kartenstelle war im Raum der heutigen Sparkasse, Suermondt-, Ecke Konrad-Wolf-Straße (ehemals Berliner Straße) eingerichtet.

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FRAGE: Sie sind dann auch bald zur Polizei gegangen? ANTWORT: Ja. Es gab einen Aufruf an ehemalige Antifaschisten, sich bei der neuen Polizei zu bewerben. Ich meldete mich - am 19. Mai; die Stelle war, ich glaube im ehemaligen Karl-Liebknecht-Haus am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz. Die neue Polizei war wohl damals schon gut durchorganisiert - eine der ersten und als vordringlich erachteten Aufgaben der sowjetischen Militärverwaltung. Das Einstellungsgespräch verlief reibungslos. Ich wurde für den Poizeidienst angenommen - als Leiter der Meldestelle auf dem Hohenschönhausener Revier 287. Die Meldekartei war von den Nazis im Garten der Dienststelle in der Schöneicher Straße vergraben worden, damit sie der Roten Armee nicht in die Hände fallen sollte. Unsere Aufgabe war es nun, sie wieder in Ordnung zu bringen. Eine große Aktion war dann die Ausstellung der Behelfsmäßigen Personalausweise mit Lichtbild und Daumenabdruck. Es gab schon das Einwohner-Meldeamt im Sowjetsektor und so funktionierte das Meldewesen bereits schon in den ersten Tagen ganz gut. Für viele Hohenschönhausener Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft waren wir die erste Anlaufstelle. Es gab auch tragische Momente: Wenn ein Heimkehrer seine Angehörigen suchte, die in einem Haus gewohnt hatten, das es nicht mehr gab. Ich bekam dann noch eine zweite Aufgabe. Aufgrund meiner Schulbildung wurde ich als Lehrer für den Breitenunterricht eingesetzt. Auch im Revier in Weißensee. Manche Polizeianwärter hatten nur geringe Schulkenntnisse, und ich gab ihnen nun Unterricht in Deutsch und Geschichte. Der Polizist war ja zur Eintragung ins Tätigkeitsbuch verpflichtet, und die sollte ja möglichst in einwandfreier Orthographie geschehen. Die Stunden gab ich immer vor Dienstbeginn. Später unterrichtete ich auch im Fach Polizeirecht. Doch das mußte ich mir selbst erst aneignen - so zum Beispiel auf einem Studienlehrgang auf der Polizeischule in Schöneweide. Das war dort

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ein richtiges Internat. Wir büffelten - und hungerten; es gab meist nur Kekssuppe... FRAGE: Sie sagten Polizeirecht. Welches Recht wurde zur Grundlage genommen? Es mußte ja erst ein neues geschaffen werden. Oder galt noch das Bürgerliche Recht? ANTWORT: Wir orientierten uns nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) und den Polizeiverordnungen der Weimarer Republik. Die Zusatzparagraphen aus dem Hitlerreich galten natürlich nicht mehr. Ich paukte nun die Paragraphen, die Mord und Totschlag, Körperverletzung, Notwehr und natürlich insbesondere die Aufgaben der Polizei betrafen. Ich erfuhr, was eine hilflose Person ist und wie man mit Tatverdächtigen umzugehen hatte - vor allem dann, wenn es sich um eine weibliche Person handelt Wenn Not am Mann war, wurde ich auch mal im Außendienst eingesetzt. So zum Beispiel bei Razzien in Lokalen - ich erinnere mich, wie wir im Café »Mazurka« dreizehn- und vierzehnjährige Mädchen herausholten und dem Gesundheitsamt zur Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten zuführten. Die wurden im Hohenschönhausener Schloß durchgeführt. Auch an Verkehrsaktionen und Suchen nach geflohenen Bandenmitgliedern und Schlichtungsversuchen sich prügelnder Eheleute nahm ich teil. FRAGE: Sind Sie während Ihrer Tätigkeit bei der Polizei mit dem Internierungslager konfrontiert worden? ANTWORT: Wir erfuhren nur wenig darüber. Als eines Tages die Freienwalder und die Genslerstraße gesperrt wurden, wußten wir, daß die Sowjets dort ein Straflager einrichten wollten. Alles wurde abgesperrt; auch wir Polizisten durften dort nicht hinein. Man hielt auch uns gegenüber alles geheim. Es hieß nur, daß im Lager führende Nazis und Kriegsverbrecher untergebracht waren. Daß es auch Unschuldige getroffen hat, also Menschen, die irgendwie gegen Willkürakte der Russen protestierten und daß damals bereits die 60


Unrechttaten begannen und später von der Stasi weitergeführt wurden, erfuhren wir erst später. Überhaupt war die Kommunikation zwischen uns Polizisten und den Rotarmisten sehr schwach. Im Grunde waren wir Erfüllungsgehifen der Militäradministration. Und wehe, wir führten erhaltene Befehle nicht gewissenhaft durch! So kam mal ein Offizier in die Meldestelle hereingepoltert und befahl, auf sämtlichen Karteikarten der Betroffenen die Zugehörigkeit zur NSDAP zu vermerken. Hinweise, daß das in so kurzer Zeit nicht möglich sei, galten nicht. Schlimm war es, wenn sich vergewaltigte Frauen oder deren Angehörige hilfesuchend an die Polizei wandten. Unsere diesbezüglichen Meldungen an die Kommandantur verliefen meist im Sande. Mir sind Fälle bekannt - aus anderen Bezirken -, wo Polizeiangehörige, die einer Frau zu Hilfe kommen wollten, von betrunkenen Russen erschossen wurden. Wir erhielten dann auch die Instruktionen, daß wir uns in Fälle einer Vergewaltigung nicht einzumischen hätten, sonder sie der Militärpolizei melden müßten. Eine direkte Zusammenarbeit zwischen uns und den Russen auf unterer Ebene hat es wohl, soweit ich mich erinnere, in den Weißenseer Revieren nicht gegeben. Eine Ausnahme war wohl der Wachdienst rund um die Uhr vor der Villa eines hohen Generals in der Oberseestraße. Auf der Straße war ein kleines Schilderhaus errichtet worden; darin stand der Posten und hatte aufzupassen, daß nichts passierte. Auch ich mußte dort ein paarmal einspringen. FRAGE: Gibt es ein besonderes Erlebnis aus der Zeit Ihrer Tätigkeit bei der Polizei? ANTWORT: Nun ja, Erlebnisse ... Im Grunde geschah immer etwas in dieser aufregenden Zeit. Am bedrückendsten empfand ich, daß wir bedrängten Frauen und Mädchen nicht helfen konnten und immer deutlich zu spüren bekamen, wer die Herren waren.

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Ein Erlebnis ist mir in Erinnerung: Wir hatten einen jungen Kollegen auf dem Revier, der kam öfter in die Meldestelle und scharwenzelte um die eine meiner Mitarbeiterinnen herum. Aber es ging ihm nicht um einen Flirt, wie wir später erfuhren. Er klaute Formulare, Vordrucke mit Stempeln usw. und benutzte sie, um sich damit von Ladenbesitzern und Firmen Gelder zu erpressen oder sich Waren anzueignen. Er gehörte zu einer der Banden, die in jenen Jahren in Berlin ihr Unwesen trieben und auch vor Mord nicht zurückschreckten. Es gelang dann unseren Kollegen, ihn zu überführen. Sie sperrten ihn in die kleine Arrestzelle auf unserem Revier. Ich glaube, er trug da sogar noch die Uniform. Als er dann verlangte, aufs Klo zu gehen, ließ man ihn heraus, und es gelang ihm, durch das offene Fenster zu entkommen. An der großen Suchaktion - mit unserem einzigen Auto, eine, alten Adler, - über Feld- und Wiesenwege der Rieselfelder und in den umliegenden Ortschaften, habe ich teilgenommen. Sie verlief ohne Erfolg. Nun, es gab auch in den Reihen der Polizei schwarze Schafe. So gelang es mitunter ehemaligen KZ-Häftlingen, die man dort als Kriminelle geführt hatte, sich als Polizisten auszugeben und in einflußreiche Positionen zu kommen. Aber Hunger und Entbehrungen in jener Zeit führten auch manch einen anderen zu unrechten Handlungen. Ich erinnere mich, wie es bei mir und auch bei meinen Kollegen aus der Meldestelle und der Wachstube immer zu kribbeln begann, wenn der Duft amerikanischer Zigaretten aus dem Obergeschoß zu uns drang. Oben saßen die Leute von der Kripo. Es blieb dann auch nicht lange verborgen, woher sie sich diese damals kaum erreichbaren Genüsse verschaffen konnten. Sie ließen sich von Gewerbetreibenden dafür bezahlen, daß sie wegschauten, wenn jene an den Verordnungen vorbeimanipulierten. Der Leiter der Kripo wurde darauf abgesetzt. Bestechungen, Schiebungen und auch das Verheimlichen ehemals nazistischer Verbrechen - davon war wohl keine damalige Dienststelle oder Behörde frei.

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FRAGE: In der Zeit nach dem Krieg waren Sie doch immer noch Anarchist und haben diese Ideen weiterhin verfolgt. Stand dies nicht im Widerspruch zu Ihrem Eintritt in die Polizei - und in die KPD und damit insgesamt zu Ihrem Engagement für eine neue Diktatur? ANTWORT: Mit diesem Widerspruch mußte ich leben. Das haben mir manche Leute oft zum Vorwurf gemacht - und ich meine Heute: mit Recht. Ich würde heute, mit meinen heutigen Erkenntnissen nicht mehr so handeln. Das sei vorausgeschickt. Aber wie war die Situation damals? Für meine Entscheidung damals gab es ein paar Motivationen. Meine als Jugendlicher entwickelte Neigung zu den Ideen des Anarchismus blieb auch während der Nazizeit bestehen. Es gab dann allerdings einen Sondierungs - und Analyseprozeß, als ich in Minsk während der Bewachung u.a. einer großen Bibliothek Zugang zu Werken von Marx, Engels. Lenin hatte. Ich versuchte nun aus deren Thesen und den mir bekannten Theorien Bakunins, Kropotkins, Landauers u.a. die für mich gültige Weltanschauung herauszukristallisieren. Ja, mir schwebte kurze Zeit mal eine Art Verbindung von beiden Systemen vor und da war ich bereit, sogar die Diktatur des Proletariats als revolutionäres Mittel in Kauf zu nehmen. Ich folgte damit dem Weg Erich Mühsams - eines meiner Vorbilder -, der sich jedoch als ein Irrweg erwies. Ich hatte also keine Berührungsängste mit marxistischen Ideen und auch nicht mit deren Trägern. Ich hatte mit Kommunisten Seite an Seite gestanden, um gegen faschistischen Ungeist anzugehen; trotz mitunter heftiger politischer Auseinandersetzungen - immer unter der Erkenntnis: Hauptfeind ist das Hitler-Regime! Kommunisten waren auch meine Verbündeten in der Wachmannschaft im Lager sowjetischer Kriegsgefangener, wo wir versuchten, das Leid dieser Menschen zu lindern und die Verbrechen an ihnen ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Ich jener Zeit hatten weltanschauliche Differenzen zurückzustehen. So bitter und für junge Leute heute unverständlich dies auch

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war - so zum Beispiel, als ich von den Verbrechen Stalins in den Jahren 1936-1938 und später von der verderblichen Kumpanei zwischen Stalin und Hitler bei der Unterdrückung Polens erfahren hatte. Es war schon erschütternd für mich, damals als Arbeitsdienstleiter und Bausoldat beim Einmarsch in Polen, mit ansehen zu müssen, wie sowjetische Flugzeuge Bomben auf polnische Zivilisten abwarfen! Dieser Schulterschluß mit Kommunisten - auch von Erich Mühsam als legitimes Kampfmittel gegen reaktionäre Verbrechen proklamiert - haftete mir noch an, als der Krieg zu Ende war. Und wo waren die Anarchisten? Meine ehemaligen Genossen waren in alle Winde zerstoben; nur mit zweien hatte ich noch Kontakt. Zwar lebte die anarchistische Weltanschauung, aber die anarchistische Bewegung war tot - in jenen Tagen, als zwar die Waffen schwiegen, aber die Trümmer noch rauchten. So kam es bei uns zu einer gewissen Orientierungslosigkeit: Der eine befaßte sich mit Auswanderungsplänen, der andere zog sich in sein Innenleben zurück. Und ich? Ich fühlte mich, nachdem die ersten nach Hohenschönhausen stürmenden Rotarmisten auch in unsere Keller gestürmt waren, nicht nur von meiner Uhr befreit. Der Nazi-Spuk war vorbei; endlich wieder frei durchatmen. Das war meine erste Reaktion. Die Freude darüber, die weltgeschichtliche Katastrophe überlebt zu haben, verdeckte erst mal alles andere, auch die Untaten der Befreier. Der nächste Gedanke war: Um mich herum ist alles kaputt. Wenn ich nicht verhungern will, muß ich etwas tun. Und da soziales Denken bereits in meine Kinderstube Einzug gehalten hatte, übertrug ich diese Gedanken auch auf meine Nebenmenschen. Ich mußte mithelfen, den Schutt zu beseitigen - auch den ideologischen in den Köpfen so mancher Leute, die durch die Nazi-Schulen gegangen sind. Ich dachte: Selbst unter der Stalin-Diktatur wird es möglich sein, etwas Neues aufzubauen. Und da sah ich in der nun wieder zugelassenen KPD den einzigen für mich in Frage kommenden Partner. Politisches Denken und Handeln war ja Teil meiner Jugend gewesen. Und meiner Erziehung im 64


Elternhaus und Schule und in der libertären Jugendgruppe.* Daß ich nun also wieder mitmachen wollte, war ja nur folgerichtig. Diesen Motiven entsprang auch der Entschluß, in die Polizei einzutreten. Gewiß, ein Widerspruch, sich als Pazifist und antiautoritärer Denkender einer halbmilitärischen Institution unterzuordnen. Aber mir schien diese Polizei damals ein Garant zu sein für eine Ordnung zum Wohle der Menschen. Und für die gerechte Bestrafung derer, die damals so viel Unheil über ihre Mitbürger gebracht hatten und sich nun in ihren Schlupfwinkeln verbargen. Noch ein persönlicher Faktor war maßgebend: Ich war, als der Krieg zu Ende war, auch beruflich ziemlich orientierungslos. Aus der KarlMarx-Schule* * war ich 1933 rausgeflogen, hatte also kein Abitur, der zweite Anlauf, ein Elektroingenieur-Studium, wurde durch meine Einberufung zum Arbeitsdienst vereitelt; statt dessen bestand dann meine Ausbildung im Bedienen von Geschützen, Gewehren und Funkgeräten, in Gefechtsübungen und Kilometermärschen. Seit 1943 bis Kriegsende hatte ich dann zwar weiter im Physiklabor von Siemens-Plania gearbeitet, aber an ein Studium war in diesen Zeiten nicht zu denken. Ich mußte also wie bisher mein Wissen mit autodidaktischen Studien zu bereichern versuchen. In dieser Situation sah ich also in der Polizei so eine Art Basis zum beruflichen Start. Lieber wäre mir schon damals eine Funktion im Verlags- oder Pressewesen gewesen, aber ich fand dort keinen Zugang. Ich versuchte es auch nicht, weil ich meine Fähigkeiten nicht einschätzen konnte. Mit waren meine Mängel, verursacht durch die abgebrochene Schul* Damit meint Herr Wafner die von der anarchosyndikalistischen »Freien Arbeiter-Union Deutschlands« (FAUD) betreute »Freie Arbeiter-Jugend« (FAJ). ** Karl-Marx-Schule, eine von dem sozialdemokratischen Schulreformer Fritz Karsen in Berlin-Neukölln gegründete Schule, in der nach relativ freiheitlichen Methoden gelehrt wurde. In angegliederten Aufbauklassen konnte das Abitur erworben werden. Mit Anbruch der Nazi-Herrschaft wurde die Schule gleichgeschaltet.

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bildung, bewußt. Allerdings sah ich im Polizeidienst schon bald nur eine Übergangssituation, und mir war klar, daß ich mich - nun schon fast dreißig Jahre, noch einmal auf die Schulbank setzen mußte. Ich studierte dann drei Jahre an der Büchereischule Berlin, wurde Bibliothekar und später Leiter der Volksbücherei Weißensee. FRAGE: Sie sind nach der Vereinigung von KPD und SPD auch Mitglied der SED geworden. Wie lange konnten Sie als Anarchist dort bleiben? ANTWORT: Ja, ich wurde mehr oder weniger übernommen; allerdings war ein neuer Antrag nötig. Das geschah, als ich gerade die Polizeischule beendete - ich glaube im Sommer 1946. Zu dieser Zeit hatte meine Aversion gegen die verschiedenen Spielarten der StalinDiktatur zumindest keine neue Nahrung bekommen, und ich schwamm also weiter in dem recht trüben Gewässer der sowjetischen Kolonialisierungs-Politik, vom Gatter der Parteidisziplin am Abbiegen in Seitenwege gehindert. Im Januar 1946 war ich von der Polizei zu einem Lehrgang an der KPD-Parteischule in Karolinenhof delegiert worden. Zu den Dozenten gehörte auch Wolfgang Leonhard, der mit der Ulbricht-Gruppe aus der Sowjetunion gekommen war. Auf Seminaren sprach er noch sehr überzeugend von einem Sozialismus auf deutschem Boden. Interessant ist, daß dieser Mensch, der dann später als Abtrünniger von ehemaligen Genossen verfemt wurde, ähnliche Denk- und Tätigkeitsprozesse durchmachte wie ich. Ein sehr anschauliches Bild über die politische Situation der ersten Nachkriegsjahre vermittelt Leonhard in seinem Bestseller »Die Revolution entläßt ihre Kinder«. Ich entfernte mich dann immer weiter von meinem Grundsatz der Kompromißbereitschaft. Das geschah vor allem während der Studienzeit 1947 bis 1949, als die Ausführungen Stalins und seiner Nachbeter zum Gesetz erhoben wurden, als Kritik an den Thesen von Marx und Engels einem Verbrechen gleich kam und als die Einschätzung von Literatur innerhalb dieses inquisitorischen Rahmens 66


zu geschehen hatte. Wohltuend war dann immer, wenn ich in der Beurteilung sozialkritischer oder antifaschistischer Bücher die gleichen Worte fand wie die vom Stalinismus infizierten Lehrer und Lehrerinnen. Besondere erdrückend war dann der Ton der Dozenten nach der Gründung der DDR, mit der die Spaltung auch der Büchereischule einherging. Nun wurde mit allen Andersdenkenden, Abweichlern und Klassenfeinden besonders hart ins Gericht gegangen. Ich bekam das zu spüren, als man meine Diplomarbeit kritisierte, weil ich es wagte, gegen militaristische Attitüden sowjetischer Pädagogen Stellung zu beziehen und statt dessen den anarchistischen Schulreformer Francesco Ferrer* zur Lektüre empfahl. Der Bruch mit dem Befehlsempfängern der ZK-Funktionäre weitete sich immer mehr aus, je mehr Gängelei und Bevormundung Zunahmen. Darunter litt ich besonders als Leiter der Volksbibliothek Weißensee. Ich war dem Amt für Büchereiwesen innerhalb des Rates des Stadtbezirkes unterstellt. Von dort aus gab es verschiedene Bevormundungen literarischer Art. So hatte ich einmal heftige Auseinandersetzungen mit der Amtsleiterin, weil ich Bücher des von mir sehr geschätzten amerikanischen Autors Upton Sinclair* * für den Bestand einkaufte. Dieser Mann wäre ja zum Klassenfeind übergelaufen, und ich sei ja wohl auch insgeheim ein Abtrünniger, ein Revisionist, wenn ich solche Literatur unter die ehrliche Arbeiterschaft bringen wolle. Noch verteidigte ich mich mit dem Hinweis, nicht Dogmatismus, sondern Weltoffenheit sei eine Wesensart kommunistischer Gesinnung, und man müsse den Lesern zugestehen, sich eine eigene Meinung zu bilden .... * Francisco Ferrer (1859-1909) spanischer anarchistischer Pädagoge; trat für eine freiheitliche antiautoritäre und antireligiöse Erziehung ein. Wurde hingerichtet. Sein Hauptwerk: »Die moderne Schule«, Verlag Der Syndikalist, 1923 ** Upton Sinclair (1878-1968) amerikanischer Schriftsteller, dessen Werke infolge der Formalismus-Debatte von der SED ab 1948 als antikommunistisch und pornografisch verunglimpft wurden.

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Es gab in dieser Zeit in der SED mehrere Abweichler, Menschen, die sich dem Druck der Parteidisziplin, des Dogmatismus nicht länger beugen wollten und dieses Feld verließen. Einige gingen in den Westen und schworen der libertären Idee gänzlich ab, andere blieben in der DDR, zogen sich entweder gänzlich von der politischen Arbeit zurück oder versuchten, Fesseln zu sprengen, den starren Parteiapparat zu demokratisieren, zu liberalisieren. Ich gehörte zu den wenigen, die die Partei verließen und dennoch im Osten blieben. Das Faß meiner Duldsamkeit war im Grunde schon voll, aber ein Tropfen brachte es zum Überlaufen: Ich gehörte noch der SED an, hatte aber wieder Kontakt aufgenommen zu einer kleinen Gruppe alter Anarchisten, die in einem Schöneberger Lokal tagte. Einige dieser Genossen kannte ich von früher und so waren diese Begegnungen für mich erfrischend und belebend. In diesem Kreis bekam ich die »Die Freie Gesellschaft« in die Hände, eine in der Bundesrepublik erscheinende anarchistische Zeitschrift und Publikationen des gleichnamigen Verlages. Eine gab mir besonderen Anstoß, aus der Partei auszutreten: Die Broschüre des mir von früher bekannten Rudolf Rocker »Der Leidensweg von Zensel Mühsam«. Erstmalig erfuhr ich darin, wie grausam unmenschlich die Stalin-Machthaber dieser Frau, der Witwe des auch in der DDR verehrten Revolutionärs, mitgespielt hatten. Diesem Menschen, der in der Sowjetunion vor den Nazis Schutz gesucht hatte und der dann selbst in sibirischen Straflagern eingepfercht wurde und um ein Haar der Auslieferung an die Gestapo entgangen ist. Einer Partei, die das schweigend duldete, wollte ich nicht länger angehören. Am 17. Januar 1950 erklärte ich meinen Austritt. Da ein Austritt überheblicherweise nicht anerkannt wurde, wurde ich »wegen Verstoßes gegen die Parteidisziplin« aus der SED ausgeschlossen. FRAGE: Welche Folgen hatte dieser Ausschluß für Sie? ANTWORT: Natürlich war es erstmal mit meiner beruflichen Entwicklung vorbei. Ich bin dann ja aus meiner Arbeitsstelle - Bezirks68


amt Weißensse - wie man so sagt: »gegangen worden«. Bemühungen um eine andere Arbeit - ich versuchte es in verschiedenen Verlagen und Redaktionen - waren erfolglos. Drei Monate lang bestrafte man mich damit, daß man mir einen Arbeitsplatz verweigerte und das in einer Zeit, als man überall Kräfte suchte. Oft geschah es, daß man bei meiner persönlichen Bewerbung ganz freudig reagierte und mir sogar schon einen Arbeitsplatz zuwies. Wollte ich dann am nächsten Tag beginnen, hieß es: »Leider mußten wir uns anders entscheiden. Die Stelle ist schon besetzt.« Im April 1950 hielt man mich seitens der Parteileitung offenbar für genug bestraft. Der Verlag Kultur und Fortschritt stellte mich als Chef vom Dienst der Zeitschrift »Sowjetwissenschaft« ein. Da es mir aber dort und später auch in anderen Verlagen und Redaktionen schwer fiel, mich der dogmatischen Kulturpolitik des SED-Regimes anzupassen, geriet ich oft in eine ähnliche Lage, die »eine positive berufliche Weiterentwicklung« verhinderte. FRAGE: Haben Sie nie daran gedacht, in den Westen zu gehen? ANTWORT: Gedacht habe ich daran öfter. So zum Beispiel 1958, als man mich im Verlag Volk und Wissen als Chef der »Romanzeitung« wegen »politischer Fehlentscheidungen« abgesetzt hatte. Da rieten mir gutwillige Kollegen, mich beim Westberliner SpringerVerlag zu melden, der gerade im Aufbau begriffen war. Ich tat es nicht. Ich blieb im Osten. In einem Land, in dem man ehemaligen Nazi-Bonzen und Kriegsverbrechern zu Amt und Würden verhalf, in dem man in Schulen die Untaten der Deutschen verharmloste und ganz offiziell revanchistische Töne anschlug, wollte ich nicht arbeiten. Es war schwer, zu den Unangepaßten zu gehören, zu den Querdenkern - zum Schwimmen gegen den Strom gehören Kraft und Ausdauer -, aber ich bereue es nicht.

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Befehl zur Schaffung der Polizei

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