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LA CHAUX-DE-FONDS

BETTINA WOHLFENDER La Chaux-de-Fonds

La Chaux-de-Fonds begegnete ich zum ersten Mal im Toggenburg, als ich mit meiner Grossmutter Monopoly spielte. Es war der exotischste Ort, den es zu kaufen gab. Ich sprach ihn auf Deutsch aus, mit diesem Ch, diesem au, diesem x, und meine Grossmutter lachte, gab mir die Karte, gab mir von den grünen Plastikhäusern, den roten Hotels. Erst viel später bin ich dann zum ersten Mal mit dem Regionalzug von Biel durchs Sankt-Immer-Tal, durch all die Dörfer mit C – Corgémont, Cortébert, Courtelary, Cormoret – über die Nebelgrenze gefahren und kam mir vor wie auf einem Balkon, der aus dem Rest der Schweiz ragt. Die Stadt liegt nicht auf den Verkehrsachsen. Man muss es sich vornehmen oder sich verfahren, um hier zu landen. Man muss in kleine Züge wechseln, die immer mal ausfallen oder sich auf unbestimmte Zeit verspäten. Den Leuten hier scheint es nichts auszumachen, abseits der Achsen zu leben. Im Gegenteil. Vor neun Jahren bin ich tatsächlich in meine Monopoly-Stadt gezogen, und seitdem ich hier bin, werde ich in unregelmässigen Abständen daran erinnert, dass in La Chauxde-Fonds mal noch ganz viele andere aus der Deutschschweiz waren, dass es sogar eine eigene Kirche für sie gab, dass alles so schnell gegangen ist: von der Alp zum Dorf zur Uhrenmetropole. 1880 stammte ein Drittel der Bevölkerung der Stadt aus der Deutschschweiz. Die meisten sind wieder weg. Der Temple Allemand ist heute ein Theater. Es sind einzig ein paar Wörter, die geblieben sind, ein paar Namen. Die Nussbaums, die Kaufmanns oder die Aeschlimanns sprechen heute genauso wenig Schweizerdeutsch wie die Dubois, die Sandoz, die Droz. Auch die Vorfahren väterlicherseits meiner Kinder kommen aus der Deutschschweiz. Der Grossvater des Grossvaters war Orgelbub im Temple, kümmerte sich um die Bälge, den Wind. Er sprach noch Schweizerdeutsch, aber an den Generationsgrenzen wurde die einstige Muttersprache 140 Stück für Stück abgelegt. Nur ein paar Germanismen haben sich über die Jahrzehnte ge-

rettet. Der Grossvater meiner Kinder sagt le fatre, la moutre, wenn er von seinen Eltern spricht. Ich sage dem Grossvater meiner Kinder grossfatre, extra, obwohl ich weiss, dass genaugenommen nur le fatre in der Sprache geblieben ist. Jeden Morgen fliegen die Krähen vom Gymnasium zur Kompostanlage und jeden Abend wieder zurück. Wenn mich nachts ein Piepsen weckt und orange Blinklichter über Vorhang und Wände wandern, weiss ich: der Schnee. Die Schürfleisten der Schneepflüge schaben über die Strassen. Es sind die übermütigen Morgen. Wir denken an die hohen Haufen und hoffen, dass es immer weiter schneit. Wir bauen Riesinnen, Schlösser mit Rutschbahnen, einen Park voll Schneemänner. Aber die Winter, in denen am Stück Schnee liegt, gehören zur Kindheit vom grossfatre. Heute gibt es immer wieder Pausen, und meine Kinder sagen Pflotsch, meine Kinder sagen pètche. Ich glaube, von allen Wörtern, die hiergeblieben sind, beginnen die meisten mit s: schlaguer, schwenser, schneuquer, le schnec, le steck, le speck, la strasse, les spätzli, le schlouck, les schlecks, la stimmoung, le spatz, le schnetz, le schnaps, le stamm, le stempf. Einmal sind auch Elefanten hiergeblieben. Die Artisten des Zirkus Hagenbeck mussten 1914 zurück nach Deutschland in den Krieg, während man sich in La Chaux-de-Fonds um die Elefanten kümmerte, sie Kohle und Wasser durch die Stadt tragen liess. Der kleinste starb vor Kälte und ist noch heute in der Sammlung des Musée d’histoire naturelle. Wir stehen am verschneiten Hang. Le grossfatre sagt: On fait une rütschée? Dann geht er leicht in die Knie und rutscht auf den Fersen den Hang hinab. Wenn am Fuss des Juras der Frühling kommt, werde ich ungeduldig. Meine Kinder rufen: les tatouillards! Die grossen Schneeflocken, die in Zeitlupe vom Himmel fallen und am Boden sofort schmelzen. Sie sind so schön, dass ich dem 141hartnäckigen Winter nicht böse sein kann. Kurz nachdem die letzten Eiszapfen von den Dachrinnen gefallen sind, kommen die Mauersegler. Ihre Rufe, ihr rasanter Flug. Sie schlagen mit ihren Sicheln, jagen über das Schachbrettmuster, auf dem die Strassennamen noch vom Eigenwillen und der Grosszügigkeit erzählen, mit der die Stadt nach dem Feuer von 1794 geplant worden war: Rue de l’Avenir, Avenue Léopold Robert, Boulevard de la Liberté. An schönen Herbsttagen wandern wir über die Weiden und machen ein Feuer zwischen den hohen Fichten. Une torrée. Wir wickeln Kohl- und Zeitungsblätter um die Neuenburger Saucissons, schnüren kompakte Pakete und befeuchten sie mit Wasser, vergraben sie unter dem Ascheberg. Le grossfatre ruft: Le fatre, il a schlagué le katz avec un steck en bas de la strasse. Wir lachen. Es ist das Spiel aus seiner Jugend. Wer am meisten gerettete Wörter in einen Satz packen kann, gewinnt. Meine Kinder reden ähnlich. Aber es sind nicht die Sätze mit Wörtern, die geblieben, sondern mit jenen, die hinzugekommen sind. Je peux avoir un zuckerbolle? Lueg, il y a un bagger! Tu peux me chräzebuggele? Ich habe von meiner Grossmutter das Monopoly und den Holzschlitten geerbt. Meine Kinder steigen auf, und ich ziehe sie auf dem Schachbrett durch das Labyrinth aus hohen Schneewällen und Fassaden, immer weiter, mit diesem Gefühl von Balkon, von Linien in die Unendlichkeit.