4 minute read

CHUR

ROMANA GANZONI

Chur

Am Anfang war Chur eine Bahnhofstrasse. Die lag hinter den Bergen, abseits des gewohnt rauen Klimas, ein Boulevard für paradierende Weiblichkeit, zumindest auf den ersten Metern. Wenn meine Mutter mir von ihren Frisörbesuchen in der warmen und zugigen Bahnhofstrasse erzählte, sah ich ihre Jugend und ihre Möglichkeiten, ich sah eine Allee, fünfmal breiter und zehnmal länger als die Via da la Staziun in Scuol. Da hockst du stundenlang, sagte meine Mutter, wirst drangsaliert, sie zerkratzen und verbrennen deine Kopfhaut, aber zum Schluss strahlst du mit deiner Farah-Diba-Frisur in den Spiegel, wunderbaaar, sagst du, bezahlst, bedankst dich, und draussen verluftet dich sofort der Föhn. Frisur im Eimer. Sie lachte. Als Kindergartenkind war mir das Wetterphänomen unbekannt, ich dachte an meinen Spielzeugföhn, in meiner Phantasie wuchs er fassadengross heran und blies die schönen Damen und Fräuleins der Sechziger zu den Geleisen, und dann zurück in die Berge, nach Hause. Bis zum Ende des Kindergartens roch Chur 98 nach Haarlack und Tee aus dem Café Maron. Auf der Bahnhofstrasse spazierte meine lachende Mutter, und auf mich wartete ein Karussell. Aber im Frühling der ersten Klasse war alles weg, wie vom Riesenföhn weggeblasen. Danach stand in Chur nur noch ein Gebäude: das Kantonsspital. Ich war sieben, mein Freund, Nachbar und Beschützer war zehn, als er dort starb. Sie hatten ihn lebend aus dem Dorf geholt und tot aus der Stadt zurückgebracht. Wegen des starken Nasenblutens? Krebs, hörte ich. Im Fluss hatte ich einen Krebs gefunden. Wie sollte der Krebs in seiner Hosentasche überlebt haben? In der Ambulanz. Auf dem Pass. Ohne Wasser. Es war klar: Die Churer hatten meinen Freund auf dem Gewissen. Und meinen Vater haben sie auch nicht gerettet, als der zwanzig Jahre später ins Kantonsspital gefahren wurde. Immerhin kam er nicht ganz tot zurück. Er sass noch zwei Monate stumm in der Stube. Ein weiteres Jahrzehnt verging, da begleitete ich mei98 nen zweijährigen Sohn in der Ambulanz über den Pass. Das Kind überlebte, Gottseidank.

Meine Grossmutter Lina, die Nana, wohnte eine Viertelstunde von Chur entfernt, in Zizers. Da sagt man Chur und Chäs und nicht Khur und Khäs, und meine Mutter ist dort aufgewachsen. Wenn Nana Lina nach Chur fuhr, montierte sie stets einen Dutt, der nie einen Wank machte, weder bei Föhn noch bei Hagel. Damit konnte sie getrost die Bahnhofstrasse hinunterlaufen. Sie ging aber lieber hinauf. Zu Disam für den Schmuck, den sie sich nicht leisten konnte. Zu Pedolin für alles Textile. Ich bin ihr zwei Romane schuldig mit den Titeln Disam und Pedolin. Der Disam-Roman müsste von ihren Opal-Ohrringen handeln. Sie sagte, die Steine zeigten, in welcher Stimmung sie gerade sei. Im Pedolin-Roman stünde das Leinentuch im Mittelpunkt, das die Leiche des Mannes bedeckte, auf den der cholerische Bruder der Nana geschossen hatte. Die Strafe sass er im Churer Sennhof ab. Zu Weihnachten schickte er immer selbstgebastelte Papierkörbe. Darin lag seine ganze Reue. Viele Wege führten nach Chur. Darunter auch die Autobahn, auf der meine Mutter ihre Jungfernfahrt absolvierte, zwei Tage nach bestandener Fahrprüfung. Die Nana sass auf dem Beifahrersitz und wollte nur helfen, als sie ihr windelgrosses Tuch entfaltete, um die fette Fliege zu verscheuchen, die sie auf der Frontscheibe erblickt hatte. Meine Mutter schrie, ich, auf dem Rücksitz, auch, aber die Grossmutter wedelte nur vehementer hinter dem Brummer her. In Chur angekommen, standen Tochter und Enkelin unter Schock. Lina sagte nur «Sodali» und stieg seelenruhig aus. Wieder gefangen habe ich mich erst auf der weltschönsten Rolltreppe im Vilan. Die Fahrten rauf und runter empfand ich als paradiesisch, obwohl mir wegen der vielen Reize des Kaufhauses immer wieder schwindlig wurde. Die weiteren Sensationen zu jener Zeit: syrische Goldhamster und Springmäuse in der Tierhandlung am Kornplatz sowie die Stempel in der Papeterie Koch, die meine Mutter für ihr Sportgeschäft brauchte. «Bezahlt» hiess es auf einem ungemein beruhigend. Bestelle ich deshalb noch immer jedes Jahr meinen Papierkalender bei Koch? In die Buchhandlung hingegen ging ich nie. Den Namen kannte ich, meine Mutter sprach ihn mit Ehrfurcht aus: Schuler. Auch für mich war dieser Ort ein grosses, edles und fremdes Geheimnis, nichts für eine ungezogene Göre aus den Bergen. Während der Mittelschule entdeckte ich, dass Schuler auch per Post liefert. Ich bestellte Iphigenie auf Tauris und zwei Benimmbücher, nach der Lektüre waren mir meine Eltern plötzlich sehr peinlich. Als ich zum ersten Mal bei Schuler aus meinem eigenen Buch las, fragte ich mich: Darfst du das? Meine Mutter und ich gingen, ganz in Nanas Sinn, weiterhin zu Pedolin, und nach dem Untergang von Disam fanden wir Konrad Schmid, der meinen Mann und mich kannte, bevor wir uns kannten. Konrad schmiedete unsere Eheringe und die Ringe zum Schulanfang unserer drei Kinder, er wurde ein enger Freund der Familie, und nun war er es, der Churer, der immer wieder die Bahn nahm und zu uns ins Engadin reiste. Ich reise regelmässig nach Chur, wo ich mich längst zum kulturellen und städtischen Leben zugelassen habe. Ich gehe in alle Buchhandlungen der Stadt, ins Staatsarchiv, zum Institut des Dicziunari Rumantsch Grischun, zum Radio und zur Zeitung, ins Churer Theater, ins Bündner Kunstmuseum und auch in die Kantonsbibliothek. Da wurde mir unlängst der Bündner Literaturpreis überreicht. Der wichtigste Preis in meinem Leben: Ich bekam ihn in Chur. Die grösste Freude der Erwachsenen bleibt aber das Freilandhähnchen im Restaurant Calanda. Das gibt es nur abends, auf Vorbestellung.