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GENF

MARINA SKALOVA

Genf

«Städte sind Körper, deren Wunden langsam heilen und die umso besser neue Kraft schöpfen, als ein Fluss durch ihre Mitte fliesst», schreibt Cécile Wajsbrot in Nevermore, dem Buch, das gerade auf meinem Nachttisch liegt. Genf ist grosszügig mit Wasserläufen bestückt und reich an Ressourcen, aus denen die Stadt ihre Kraft schöpft. See und Flüsse zeichnen ihre Anatomie, füllen ihre Lungen. Ihre Wunden kommen nie zum Vorschein. Es heisst, man soll sich vor allzu lieblichem Wasser hüten. Der Genfersee ist eine weite, unheimliche Fläche. Beim Betrachten seiner gleichmütigen Wellen sehe ich mich versinken wie ein Stein. Anders ist es mit den Flüssen. Rhone und Arve sind ungestüme Gewässer, sie springen einander an. Sie leiden und lassen leiden. Zwei Flüsse wie zwei Geschwister, wie Remus und Romulus, wobei das grössere – die Rhone – die Oberhand behält. Darum will ich Genf lieber von der Arve aus betrachten, ein Bach eher, ein übermütiger Nebenfluss, der sich vom Gipfel des Montblanc hinunter in die Rhone stürzt. Genau da wohne ich. Von meinem Fenster aus höre ich das Rauschen eines kleinen Wasserfalls. Um den Fluten Einhalt zu gebieten, sind Felsen zu Deichen aufgeschüttet worden. Das Wasser wirbelt um sie herum, bildet eine kleine Kaskade. Schroffe Böschungen führen zu kleinen Kieselstränden hinab, auf der Wasseroberfläche treiben zertrümmerte Baumstämme. Im Gebüsch deuten sich kleine Wege an, Hunde streunen durch das Dickicht. Zwischen den Ästen verbergen sich Obdachlosenzelte. Seit der Schliessung der Notunterkunft in der ehemaligen Kaserne von Les Vernets streifen Menschen ohne Bleibe durch die erdigen Halden am Ufer der Arve. Viele von ihnen haben sich hier einquartiert, verstecken ihre Schlafsäcke in den verschlungenen Ästen, geistern herum in diesem verwilderten Gelände am Rand eines sich ständig wandelnden Industriegebiets. Manche von ihnen grüssen uns, wenn ich mit meinem Sohn an der Hand morgens zur Kita 136 gehe. Es sind immer dieselben, die auf den Bänken über dem Ufer sitzen. Vereinzelte,

sehr reinliche Männer. Höfliches Lächeln. Seit Tagesanbruch warten sie hier, vom Morgentau benetzt, dass die Stunden vergehen. Der eine hat sein Hab und Gut in einem Einkaufswagen verstaut, der andere muss es woanders untergebracht haben. Mein Sohn weiss im Voraus, wer auf welcher Bank sitzt. Wir biegen ab in Richtung Augustinerviertel. Rechts von uns, in die Ecke eines Primarschulhofs geschmiegt, ein Marionettentheater, links die rosaroten Fassaden eines Massagesalons, wo Sexarbeiterinnen dem ältesten Beruf der Welt nachgehen. So früh am Morgen liegen die beiden Gebäude noch im Schlaf. Für meinen Sohn gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Schaufenstern. Nichts irritiert seinen unschuldigen Blick, schon gar nicht die scheinbare Arglosigkeit der Strassen, in denen alle Gewerbe austauschbar zu sein scheinen. Viel mehr interessiert ihn das bunte Schild der Tamoil-Tankstelle und ihr Autowaschservice. Mit einem Kuss verabschiede ich mich von ihm. Meine Schritte führen mich erneut den Fluss entlang. Krähen krächzen. Ich sehe den Vögeln zu, wie sie wütend zwischen den Kieselsteinen picken. In den Morgenstunden begegnet man auf den Uferwegen Joggern, jungen Eltern, Hundebesitzern. Ich gehe eine der graffitibesprühten Metalltreppen hinunter, setze mich auf die sandige Erde. Teenager schmusen im Gebüsch. Verkeilte Baumstämme versperren den Weg. Ich steige über sie, nähere mich dem Wasser. Sein schlammiges Grün hindert mich daran, auf den Grund zu sehen. Mein Blick bleibt an den Fluten hängen. Sie haben dieselbe Farbe wie die Amtsgebäude in Bern, ein blasses Kaki, wie eine verblichene Militäruniform. Die Kaserne von Les Vernets ist kürzlich einer Kooperative übergeben worden, die sie in Künstlerateliers hat umbauen lassen. Die Nutzungsdauer ist befristet. Bis Ende des Jahres soll das Gebäude abgerissen sein. Ein neues Viertel wird hier aus dem Boden gestampft, die Bäume werden gefällt, Wohnungen gebaut. Bis dahin hat dieses vergängliche Areal etwas von einem Brachland: Ich gehe jeden Tag an Zäunen mit bunten Graffiti entlang, vorbei an mehreren kleinen Theatern, Wohnwagen und allerlei Krimskrams. Manchmal entdecke ich auf dem Grund des Wassers von Algen und anderer Flussvegetation umschlungene Fahrradleichen, metallene Gerippe von Einkaufswagen aus dem Supermarkt. Meistens aber bleibt das Wasser der Arve undurchsichtig, es gibt nichts preis, spiegelt nichts. In dieser Stadt begegne ich nur erratischen Gestalten, flüchtigen Erscheinungen. Genf ist ein Konglomerat aus Adern, von sibyllinischem Wasser durchwogt. Wäre Genf eine Person, so hätte sie bestimmt ängstlich-vermeidende Züge. Die Stadt entgleitet mir, sobald ich sie zu fassen versuche. Man kann sich schlecht vorstellen, dass man auf ihren Gehsteigen Wurzeln schlägt, sich in ihren Winkeln liebt. Jeder Morgen wischt die Erinnerung an die vergangene Nacht fort, nur selten zeugen ein paar Glasscherben auf dem Asphalt von ihr. Dabei versteht es Genf durchaus, festlich, gar übermütig zu sein – aber überbordend nie. Auf den Moment, wenn die Nacht in den Tag umschlägt, der Schatten in schillerndes Licht übergeht, wartet man vergebens. Genf ist ein Körper ohne Organe. Die Jonction, der Ort, wo die beiden Flüsse zusammenfliessen, erinnert weder an eine Narbe noch eine Nahtstelle, die zwei Fleischränder vereint. Sie gleicht eher einem Transplantat, das nicht recht einwachsen will. Das Wasser der Rhone glänzt in einem prächtigen Grünblau, das der Arve behält seine Olivtöne. In Genf geht alles aneinander vorbei, durchdringt sich nicht. Jeder klammert sich an seiner Einzigartigkeit fest. Selbst die Gewässer bleiben einander fremd.

Aus dem Französischen von Lis Künzli.