Leseprobe 1 Michael Stauffer - Jeden Tag das Universum begrüssen

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Jeden Tag das Universum begrĂźssen

Verlag Voland & Quist

Michael Stauffer


001

Es gibt viele Gründe, warum man das machen sollte: sich selber beobachten. Man kann das machen, um herauszufinden, auf welcher Gesellschaftsseite man sich befindet. Zum Beispiel auf der Seite der Lachenden. Man kann sich selber beobachten, um sich selbst auf die Spur zu kommen, um zu merken, wie wenig man eigentlich denkt und wie wichtig es wäre, sich selber noch mal neu zu erfinden. Man kann sich selber beobachten, um zu merken, dass es nichts bringt, offene Rechnungen begleichen zu wollen, und dass es nichts bringt, schlecht von anderen zu reden, dass das Blödsinn ist. Oder man macht’s, um zu merken, dass man zwar rational denken kann, aber nur unkontrolliert handeln.

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002

Ich habe alles am Stück aufgeschrieben, was mir durch den Kopf gegangen ist, was ich erlebt habe, was gerade war, wie es gerade war, ich habe aufgeschrieben, wie ich gerade war, wie ich mich fühlte. Das Aufschreiben ist eine Übung im Teilhaben. Eine andere Übung im Teilhaben ist, anderen beim Reden zuzuhören. 5 Was dem Teilhaben schadet? Nicht teilzuhaben aus Angst, Ärger, Zorn, Wut, Missgunst – all das kann das Teilhaben blockieren. 6 Ich habe also alles so geschildert, wie ich das Rumpeln in meiner Wohnung wahrnehme, von dem ich auch nicht weiss, woher es wirklich kommt. 7

Die Geschichten der vielen, die man so hören kann, muss man zusammenbinden und das dann erzählen, man muss versuchen, die vielen stimmen, auch die verlorenen, zu finden, zu hören, zu zeigen. Sie sind alle da und sagen, was sie nicht machen, aber gern würden, sie sagen, was passiert ist, aber nicht, was das mit ihnen gemacht hat. Das suche ich.

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Einer Person etwas zu sagen, weil man Angst hat, sie zu verletzen, wenn man es ihr nicht sagen würde. Das blockiert die Teilhabe. Einer Person etwas nicht zu sagen, weil man Angst hat, sie zu verletzen. Das blockiert die Teilhabe. Angst, eine Chance zu verpassen. Das blockiert die Teilhabe. Unpassenden Idealen nachrennen. Das blockiert die Teilhabe. Andere für Entscheidungen zu benutzen, die man selber fällen sollte. Das blockiert die Teilhabe. Sich selber im Weg zu stehen. Das blockiert die Teilhabe. Sich immer in einem Netz vorzustellen, in welchem man sich nicht frei bewegen kann. Das blockiert die Teilhabe. Zu vergessen, dass eigentlich alles gut ist. Das blockiert die Teilhabe. 6

Man sah von aussen oft Licht brennen in meiner Wohnung und dachte, wieso brennt da Licht, schreibt der schon wieder, ist der überhaupt da drin in diesem Zimmer? Oder man dachte, der könnte auch mal ein bisschen Strom sparen. 7

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Lawinen sind interessante Phänomene. Der Niedergang, die Orte des Niedergangs, fallende Steine, das alles kann man sammeln und beschreiben. Zuerst sieht man einen Bach mit vielen schlanken Erlen. Dann eine Lawine, die viele Menschen umbringt. Und schliesslich kommt man selber in diese schwarze Lawine. Danach liegt man darunter und denkt, hier sind nur Nebel und Minusgrade, und wartet auf die Sonne, die alles Schöne zutage bringt und die Welt wieder in schönen Bildern zeigt. Man möchte dann von so einem Ort des Niedergangs möglichst bald wieder weg, kann aber aus gesellschaftlichen Gründen nicht. Man steht neben Menschen, die einmal Freunde waren, mit denen man jetzt nur noch in einem geschäftlichen Netz lebt, und möchte weg. Weil man sentimental ist? 8

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Ich bin zur Zeit etwas „zerzaust“. Mein Bart redet mit einem Brot. Der Bart sagt: Okay. Das Brot sagt: Ich bin deine Katze. Der Bart sagt: Nein, du bist mein Brot. Das Brot sagt: Und du bist nur ein Depp aus gutem Haus, der nichts zu tun hat und deshalb mit jedem, den es nicht interessiert, stundenlange Monologe führt.

Ich bin nicht sentimental, ich bin gerne berührbar und lawinenanfällig, und ich mag gleichzeitig auch das Schöne. Das Lächeln meiner Frau am Morgen. Sie bringt mir jeden Tag Sonne. Ich höre sie in der Strasse pfeifen, wenn sie geht. Ich küsse sie mit Licht, mit einem Text, mit einem Anruf, mit Schneeflocken. Sie ist mein Zwinkerhase und mein Schmunzelhase.

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005

Es ist traurig mit anzusehen, wenn ein Barbesitzer in seinem Aquarium alle vier Stunden das Licht löscht und behauptet, er tue das, damit die Fische schlafen können. In Tat und Wahrheit versucht er nur, verzweifelt Strom zu sparen, weil seine Umsätze katastrophal schlecht sind. Der Barbesitzer kann seine Sorgen mit niemandem teilen, seinen betrunkenen Gästen erzählt er immer Geschichten aus seiner Kindheit, wie er zusammen mit seinen Brüdern und Schwestern kostümiert und mit einheitlichem Pagenschnitt stundenlang im Garten herumspaziert sei und sich gegenseitig siezend „reich“ gespielt habe. Sie hätten dazu in einer für Fremde weitgehend unverständlichen Sprache miteinander geredet.

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006

Ich nehme ein Buch, lese leise nur die einsilbigen Wörter. Nach drei Minuten höre ich auf. Danach lese ich wieder leise nur die zweisilbigen Wörter. Nach vier Minuten höre ich wieder auf. Ich kann nicht einschlafen. Ich wecke meine Frau und frage, ob wir Sex haben könnten. Meine Frau sagt: „Es kann doch nicht nur darum gehen!“ „Doch, es geht jetzt gerade nur darum“, sage ich. Wir tauschen Blicke, ich frage noch dreimal. Das Ohr meiner Frau pulsiert rot, und sie beginnt, mich abzulenken, eine Philosophie der Genügsamkeit zu erfinden. „Du müsstest doch auch mal genug haben. Hast du noch nie überlegt, wie viel genug ist?“, will sie wissen. „Genug wofür?“, frage ich zurück. „Genug, um ein gutes Leben zu haben!“ Ich muss lachen. „Wir leben in einer Kultur, die nur noch expansiv ist. Alles basiert darauf, dass wir ständig mehr haben wollen. Du kannst nicht schlafen und willst mehr Sex.“ Meine Frau schaut mich an, ich antworte nicht, fange aber an, sie zu streicheln. „Weisst du eigentlich, was der Unterschied zwischen Begierde und Begehren ist?“, fragt sie mich. Ich schüttle den Kopf. „Ich möchte das auch gar nicht wissen, ich möchte nur Sex haben, danach einschlafen.“ „Du müsstest dich doch mal fragen, wieso du immer von allem mehr willst?“ 9

Es wird gemäss Stauffer nicht alles besser, wenn man es dem rein expansiven Wachstumsdenken unterordnet. Siehe auch die Einträge 125, 143, 184, 455 und 458. 9

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007

Wir wollen keine Helden 10, die asozial sind. Solche Helden muss man sofort demontieren. 11 Wir wollen keine Helden mit Doppelmoral. Wir wollen niemanden, der sein Schicksal möglichst gut vermarktet. 12

Wir wollen keinen Nationalbankchef, der sich zuerst für 800.000 Franken seine Pensionskasse aufhübschen lässt, dann macht seine Frau per Zufall ein lukratives Wechselkursgeschäft, von welchem der Nationalbankchef nichts gewusst hat, dann zahlt er den Gewinn von 75.000 Franken freiwillig an die Berghilfe, eine gemeinnützige Schweizer Organisation, dann wird er entlassen und fängt sogleich einen Job als Vice-Chairman beim weltgrössten Vermögensverwalter an, der natürlich keinen Rappen der steuerfinanzierten Einkäufe in seine Pensionskasse an den Staat zurückzahlt, oder haben wir das verpasst? 10

Wir wollen keinen Ex-EU-Kommissionschef, der gleich nach seinem Abtritt Lobbyist einer riesigen Investmentbank wird.

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Ein richtiger Held steht nicht an einer Kreuzung und wartet, dass die Ampel auf Grün springt und das Auto, unter welchem eine Krähe sitzt, losfährt, und beklagt sich danach über sein verschmutztes Hosenbein. Ein richtiger Held rettet diese Krähe. 12

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008

Ich habe eine Serie von Hausbesichtigungen gemacht. 13 Was sich dabei entwickelt hat, ist meine grosse Zielsicherheit, komische Hausbesitzer zu finden. Die erste Hausbesitzerin war, kurz bevor ich als Hauskaufinteressent aufgetreten bin, auf die Toilette gegangen. Sie sagte dann: „Wenn ich gewusst hätte, dass sie heute kommen, wäre ich im oberen Stockwerk zur Toilette gegangen.“ Aber die Hausbesitzerin hatte mir doch den Termin vorgeschlagen, nicht ich ihr?

Gemäss Stauffer ist der Kauf einer Immobilie bei einem Hypothekenzins von 0,6 % bis 0,9 % nicht sinnvoll. Ausser man zahlt den ganzen Preis bar und der Verkäufer braucht das Geld dringend. Ansonsten wird jeder normale Besitzer einen überhöhten Kaufpreis ansetzen, da er weiss, dass Geldausleihen nichts kostet. Kommt dann die nächste Zinsrunde, und die kommt bestimmt und sicher in weniger als zehn Jahren, sitzt man auf massiv überbewerteten Immobilien und hat eine Verdopplung der Zinskosten am Hals. Sogar an absoluten Durchschnittsstandorten bilden sich gemäss Stauffer jetzt schon Preisblasen. 13

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009

Wegen eines Verfahrensfehlers bei einer Gemeinderatswahl muss alles noch mal neu gemacht werden. Die Verwaltung hat gedacht, es sei eine gute Idee, für den einen Kandidaten rosarote Stimmzettel zu drucken und für den anderen lachsrote. Die Verwaltung wollte damit die Wahl vereinfachen. Leider hat sich die Verwaltung nicht überlegt, dass das Wahlgeheimnis so nicht mehr gewährleistet ist. Man hätte an der Urne sehen können, wer lachsrot und wer rosarot gewählt hat. Zudem hat die Verwaltung vergessen, leere Stimmzettel beizulegen, und dann ist noch ein Fehler beim Verpacken geschehen, und die Stimmbürger haben alle eine Werbung für Aqua-Fitness-Lektionen erhalten. Deswegen muss die Wahl nun verschoben und alles neu gedruckt werden, und alle, die schon abgestimmt haben, müssen noch mal abstimmen. Die Verwaltung entschuldigt sich für diese unglücklichen Fehler und bittet um Verständnis. Es hat alles zusammen nur 4.000 Franken gekostet. 14

010

Ich kontrolliere, ob mein Gast noch lebt. Das Zimmer stinkt nach Junggeselle. Er bewegt sich, wacht auf, schaut mich aus feuchten Augen an. Ich lege ihm die Hand auf den Kopf und sage, dass ich in meinem Leben auch schon oft Gewinn und Verlust gleichzeitig gemacht hätte. Er dreht sich auf den Rücken und schluchzt, er sei viel zu alt für seine Freundin. Wenn sie miteinander schlafen, lege sie sich immer ein Foto von ihm, auf dem er viel jünger sei, zwischen die Brüste, anders komme sie nicht.

Gemäss Stauffer handelt es sich hier um einen Bezug auf eine Gemeinderatswahl im Berner Jura, eventuell in Reconvilier im Jahre 2013. Dort wurde eine Gemeinderatswahl wegen „Formfehlern“ vom 24. November auf den 8. Dezember verschoben. 14

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Wenn ein Buch kein Rätsel bleibt, ist es kein Buch. Schreiben ist wie den nächtlichen Sternenhimmel anschauen. Da kann man auch nichts planen. Da kann man nur staunen. Schreiben ist die Zusammenfassung von Zukunft und Vergangenheit. Ein Buch wird zur Verfügung gestellt, damit andere damit weiterarbeiten. So profitieren alle. Der Leser selbst, weil er sich mal lachend, mal schnaubend, mal zustimmend, mal schimpfend durch den Text bewegt. Der Autor, der mit dem Verkaufserlös ein Haus aus Schokolade bauen, sich langsam hindurchfressen und dann die Versicherung anrufen und sagen kann: Es waren die Termiten!

ISBN 978-3-86391-186-7 Euro 22,00 (D)

www.voland-quist.de


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