Leseprobe Andrej Nikolaidis - Der ungarische Satz

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Alles schien jetzt so unendlich weit entfernt, jeder Augenblick unserer Freundschaft, jetzt, da der Zug durch die ungarische Tiefebene glitt, mich von Budapest wegzog, hin nach Wien, weg von der Stadt, in der mein bester – oder sollte ich sagen: einziger – Freund sein Leben beendet hatte, hin zu der Stadt, in der er leben und, naturgemäß, enden wollte, sich hinausschleichen, wie er in seinen unzähligen Tiraden über die Größe Wiens sagte, wenn er die Gründe aufzählte, warum Wien die einzige Stadt sei, in der er in Würde leben könnte, er, für den eine würdevolle Existenz die einzig gerechtfertigte war, er, der auch in größter Armut, größter Verzweilung und vollkommenster Ohnmacht aufrecht geblieben ist, er, der, wie gesagt wird, mit dem Leben – und dem Tod, dem Tod – seinen Worten treu geblieben ist, die er verschwendete, wie er sein Geld, seine Gesundheit, seine Hofnung verschwendete, eine verschwenderische Art, in seinem Fall keine Eigenschaft, sondern eine stilistische, ethische, philosophische Entscheidung, die ihn letztlich dazu gebracht hat, sich ausgerechnet in Budapest hinauszuschleichen, völlig paradox, denn Ungarn steht allen weit ofen, die das Land verlassen möchten, Ungarn kann man verlassen, wann und wie man will, schwer ist es, in das Land hineinzuschleichen, wie die 9


syrischen Flüchtlinge bezeugen können, die in Kolonnen über das türkische Festland ziehen, auf dem griechischen Meer treiben, über mazedonisches und serbisches Land taumeln, um dann an der ungarischen Grenze auf Scharfschützen, Hunde und einen Zaun zu stoßen, auf faschistische Para-Militärs, eine Bevölkerung, die sich zur Verteidigung des Landes, der Nation und des Glaubens selbst organisiert, und dennoch hat er sich in Budapest hinausgeschlichen statt in Wien, dem mich der Zug jeden Augenblick näher brachte, der Zug, den er aufgab, als er sich aus Ungarn, aus der Zeit und allen Möglichkeiten hinausschlich, die für ihn längst keine Möglichkeiten zur Erlösung mehr waren, nur noch Möglichkeiten zur Katastrophe, wie in dem Brief stand, den er mir hinterlassen hatte, den der Anwalt mir aushändigte, von ihm beauftragt, mir sein verlorenes Manuskript von Walter Benjamin zu übergeben, für wenig Geld, wie ich annahm, denn Geld hatte er nicht besessen, und auch der Anwalt wirkte in seinem abgetragenen Anzug – einer türkischen Kopie italienischer Eleganz, und den chinesischen Pappsohlenschuhen, wie man sie bei uns für die Toten kauft, die allerdings auch nicht mehr aufstehen, um Spaziergänge zu unternehmen, während derer sie in einen Regen geraten könnten, der die Sohle aufweichen 10


würde – wie der ärmste Anwalt in ganz Zentral- oder welchem Europa auch immer, er gab mir den Brief in die Hand, spreizte seine vom Tabak vergilbten Finger und ließ den Umschlag wie ein Almosen auf meine Handläche herab, warf die Plastik-Aktentasche mit Benjamins Text, eigentlich Joes Text, eigentlich Joes Benjamin-Text auf den Tisch vor mir, lehnte sich dann an den abgewetzten, mit honigfarbenem Plüsch bezogenen Sessel und fragte, ihr beiden seid euch wohl nahegestanden?, worauf ich antwortete, ja, wir seien uns nahegestanden und stünden uns auch weiterhin nahe, anmerkte, die von ihm verwendete Vergangenheitsform sei absolut falsch und inakzeptabel, was ich nicht tolerieren würde, und zornig fragte, ob ihm das klar sei, woraufhin er lachte, nickte und absolut, absolut murmelte, mir einen Plaumenschnaps anbot, was ich angewidert ablehnte, sich den Schnaps selbst eingoss und mich fragte, ob ich die Tatsache, dass mein Freund tot sei, aus Optimismus oder aus Skepsis ablehne, womit mich diese gebeugte, schmutzige, nach Sliwowitz stinkende Kreatur wissen ließ, dass sie zu Sarkasmus imstande war, denn eigentlich fragte er mich damit, ob ich trotz der Beweise für Joes Tod noch Hofnung hegte oder ob ich die Beweise für unzulänglich hielte, seinen Tod also aus rationaler Haltung heraus nicht 11


akzeptierte, worauf ich entgegnete, formalrechtlich sei mein Freund nicht tot, Sie als Jurist müssten das wissen, falls Sie überhaupt Jurist sind, nicht jedenfalls, bis seine Leiche gefunden werde, woraufhin er lachte und sagte, dies – das Auinden von Joes Leiche – könne schwierig werden, denn die Donau sei lang, breit und tief, und schön und blau noch dazu, aber das ist in diesem Fall unerheblich, genau so hat er es gesagt, weshalb es geschehen könne, dass mein Freund mich formalrechtlich überlebe, wie er besonders, fast übermenschlich boshaft betonte, es könne sogar geschehen, dass er ewig lebe, wonach ich schloss, dass es Zeit war, auseinanderzugehen, weil ich die Nähe dieses Wesens nicht länger ertragen konnte, das den Zynismus des Gesetzes selbst zu verkörpern schien, des Gesetzes, das immer auch ein Zynismus der Macht ist, weshalb das Gesetz die Emanation des Bösen ist, an das ich glaube, an das auch Joe glaubte und dieses Wort, das Böse, daher immer kursiv formatierte, weil er spürte, dass das Böse, oder das Böse immer da war, ganz nah, neben ihm, über ihm, vielleicht auch in ihm, ganz sicher in ihm, in jedem von uns, dachte ich und starrte auf die Pappelreihe, an welcher der Zug vorüberjagte, schnell genug, dass ich sie nur undeutlich sah, und langsam genug, dass ich sie allzu deutlich erkannte, denn alles, 12


was wir aus einem fahrenden Zug sähen, sei für die Reise an sich völlig unbedeutend, eigentlich gehe es auch ohne all die dichtgrünen und regengetränkten Hügel, Wälder und Wiesen, an denen wir vorüberzögen, die Landschaft, die wir betrachteten, sei nur eine abgewandelte Aufzugmusik, ihrer Substanz beraubt, nur noch Dekor, schlimmer noch, der Dekor einer mechanischen Handlung, der Dekor der trivialsten aller Bewegungen, jeglichen Geheimnisses und jeglicher Bedeutung beraubt, wie Joe sagte, als wir mit dem Zug von London Richtung Leeds fuhren, und weiter nach Yorkshire hinein, Richtung Ilkley, wo das Literaturfestival stattfand, zu dem sie ihn eingeladen hatten, zu dem er mich eingeladen hatte, Richtung Ilkley, wo ich einmal mehr dem Spiel beiwohnte, in das er die Zuschauer hineinzog, wo er einmal mehr das Publikum verschlang wie eine Riesenschlange ihre Beute, die alten Menschen verschlang, die in der zwei Jahrhunderte alten anglikanischen Kirche zusammengekommen waren, um eine exotische Stimme aus dem Osten Europas zu hören, sie verschlang, ihnen jegliche Illusion aussaugte, alles, was dem Menschen im Leben Halt gab, um dann, was von ihnen übrig geblieben war, wieder auszuspeien, zurück in die auf den Altar ausgerichteten Holzbänke, dem sich zuzuwenden diese 13



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