Leseprobe Micha Ebeling - Restekuscheln

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EIGENER NERD IST GOLDES WERT Prolog:

Zweiter Weltkrieg. Irgendwo zwischen Arras und Cambray. Ein schneidender Nordwest zersägt die Gesichter der Soldaten, die verzweifelt versuchen, ihren Truppentransporter wieder in Gang zu bringen. Es hilft nichts. Einer von ihnen muss über die verschneiten französischen Felder ins nächste Dorf, um Wasser zu besorgen. Kühlwasser. Das Los fällt auf einen jungen Burschen, für den dieses Ereignis zum unvergesslichen Erlebnis wird. Dieser Mann wird später nur Autos ohne Kühler fahren. Luftgekühlte Autos. Dieser Mann kauft sich später als erstes Auto einen Trabant. Das ist nicht schlimm und fällt nicht weiter auf, denn alle in der DDR fahren einen Trabant. Dieser Mann kauft sich danach einen uralten VW-Käfer, weil es in der DDR nur uralte VW-Käfer gab. Dieser Mann musste jeden Tag, nach jeder Fahrt irgendetwas an seinem Schrottauto reparieren, das in seinen Augen das beste Auto der Welt war, weil es keinen Kühler hatte. Dieser Mann war mein Vater! Ich fand später immer, dass es so ähnlich sei, Autos aus besagten Gründen ohne Kühler zu kaufen, wie wenn man Ausschau hielte nach einer Frau ohne Beine, bloß weil einem mal eine weggelaufen ist. Prolog Ende.

50 Jahre später:

So was Ähnliches wie Dritter Weltkrieg. Irgendwo zwischen Hackescher Markt und Nordbahnhof. Schneidender Zigarettendunst zersägt die Gesichter der zwei Jungs, die verzweifelt versuchen, einen antiken Rechner an das weltweite Spinnentier anzuschließen. Es hilft nichts. Einer von ihnen muss durch den Space-Quadranten von Mitte, um vom Planeten Saturn das rettende Modem zu holen. Aber der Reihe nach. Vor Jahren schenkten mir meine lieben Kollegen einen Computer, auf dem ich meine Geschichten schreiben 18

sollte. Angeblich würde er mir eine Hilfe sein und mir die Möglichkeit eröffnen, ordentlich ausgedruckte Sachen an Dritte weiterzugeben. Ich habe dann zumindest immer Staub auf ihm gewischt. Nun trug es sich aber zu, dass ich einst eine E-Mail an jemanden versenden wollte. Von einem Internetcafé aus. Dieser Versuch scheiterte, weil E-Mails versenden im Prinzip nur geht, wenn man eine eigene E-Mailadresse hat. Es war kurz vor Mitternacht. Ich war verzweifelt und die Bauarbeiter um mich herum betrunken, aber guter Dinge. „Lass ma, Kleener, det machen wa schon für dir.“ Schon hatte sich einer von ihnen vor den Bildschirm geworfen und fing wie wild an zu tippen. Es war für alle Beteiligten sehr lustig, wie aus mir plötzlich Elfriede Mattuschewski aus Cottbus wurde, 54 Jahre, geschieden, Inhaberin eines Hundefrisiersalons, die nicht nur einen Ibiza fährt, sondern dort auch zweimal im Jahr Urlaub macht, wo sie dann Tennis und Squash spielt undsoweiterundsofort … So richtig verstand ich nicht, was um mich herum passierte. Ab und an musste ich mal ein paar Knöpfe drücken und den Jungs einen ausgeben. Aber am Ende hatte ich eine E-Mailadresse. Fortan wurde ich ein guter Kunde in diesem Café, und meine Zeit im Internet reichte wohl aus, um die Kosten für die Flatrate dort zu bestreiten. Das blieb natürlich den lieben Kollegen nicht verborgen. „Das geht doch auch von zu Hause aus.“ und „Da sparst du Geld.“, bekam ich von da an zu hören. Begriffe wie „outlook express“ und „call-by-call“ wurden mit verheißungsvollem Zwinkern in meiner Gegenwart benutzt. Und letztlich drehte sich alles um einen einzigen Gegenstand. Das Modem! Wenn ich das erst mal hätte, dann würde ich schon sehen, was dann und so … Nach langem Zögern fragte ich Tube, einen ausgewiesenen Fachmann auf diesem Gebiet, ob er mir Internetz machen könne. Könne er, war die lakonische Antwort. Wir verabredeten uns in seiner Wohnung, weil er das nötige Equipment raussuchen wollte. Tubes Wohnung besteht im Wesentlichen aus einem oder mehreren funktionierenden Computern und mehreren funktionierenden Aschenbechern am Rande 19


EIGENER NERD IST GOLDES WERT Prolog:

Zweiter Weltkrieg. Irgendwo zwischen Arras und Cambray. Ein schneidender Nordwest zersägt die Gesichter der Soldaten, die verzweifelt versuchen, ihren Truppentransporter wieder in Gang zu bringen. Es hilft nichts. Einer von ihnen muss über die verschneiten französischen Felder ins nächste Dorf, um Wasser zu besorgen. Kühlwasser. Das Los fällt auf einen jungen Burschen, für den dieses Ereignis zum unvergesslichen Erlebnis wird. Dieser Mann wird später nur Autos ohne Kühler fahren. Luftgekühlte Autos. Dieser Mann kauft sich später als erstes Auto einen Trabant. Das ist nicht schlimm und fällt nicht weiter auf, denn alle in der DDR fahren einen Trabant. Dieser Mann kauft sich danach einen uralten VW-Käfer, weil es in der DDR nur uralte VW-Käfer gab. Dieser Mann musste jeden Tag, nach jeder Fahrt irgendetwas an seinem Schrottauto reparieren, das in seinen Augen das beste Auto der Welt war, weil es keinen Kühler hatte. Dieser Mann war mein Vater! Ich fand später immer, dass es so ähnlich sei, Autos aus besagten Gründen ohne Kühler zu kaufen, wie wenn man Ausschau hielte nach einer Frau ohne Beine, bloß weil einem mal eine weggelaufen ist. Prolog Ende.

50 Jahre später:

So was Ähnliches wie Dritter Weltkrieg. Irgendwo zwischen Hackescher Markt und Nordbahnhof. Schneidender Zigarettendunst zersägt die Gesichter der zwei Jungs, die verzweifelt versuchen, einen antiken Rechner an das weltweite Spinnentier anzuschließen. Es hilft nichts. Einer von ihnen muss durch den Space-Quadranten von Mitte, um vom Planeten Saturn das rettende Modem zu holen. Aber der Reihe nach. Vor Jahren schenkten mir meine lieben Kollegen einen Computer, auf dem ich meine Geschichten schreiben 18

sollte. Angeblich würde er mir eine Hilfe sein und mir die Möglichkeit eröffnen, ordentlich ausgedruckte Sachen an Dritte weiterzugeben. Ich habe dann zumindest immer Staub auf ihm gewischt. Nun trug es sich aber zu, dass ich einst eine E-Mail an jemanden versenden wollte. Von einem Internetcafé aus. Dieser Versuch scheiterte, weil E-Mails versenden im Prinzip nur geht, wenn man eine eigene E-Mailadresse hat. Es war kurz vor Mitternacht. Ich war verzweifelt und die Bauarbeiter um mich herum betrunken, aber guter Dinge. „Lass ma, Kleener, det machen wa schon für dir.“ Schon hatte sich einer von ihnen vor den Bildschirm geworfen und fing wie wild an zu tippen. Es war für alle Beteiligten sehr lustig, wie aus mir plötzlich Elfriede Mattuschewski aus Cottbus wurde, 54 Jahre, geschieden, Inhaberin eines Hundefrisiersalons, die nicht nur einen Ibiza fährt, sondern dort auch zweimal im Jahr Urlaub macht, wo sie dann Tennis und Squash spielt undsoweiterundsofort … So richtig verstand ich nicht, was um mich herum passierte. Ab und an musste ich mal ein paar Knöpfe drücken und den Jungs einen ausgeben. Aber am Ende hatte ich eine E-Mailadresse. Fortan wurde ich ein guter Kunde in diesem Café, und meine Zeit im Internet reichte wohl aus, um die Kosten für die Flatrate dort zu bestreiten. Das blieb natürlich den lieben Kollegen nicht verborgen. „Das geht doch auch von zu Hause aus.“ und „Da sparst du Geld.“, bekam ich von da an zu hören. Begriffe wie „outlook express“ und „call-by-call“ wurden mit verheißungsvollem Zwinkern in meiner Gegenwart benutzt. Und letztlich drehte sich alles um einen einzigen Gegenstand. Das Modem! Wenn ich das erst mal hätte, dann würde ich schon sehen, was dann und so … Nach langem Zögern fragte ich Tube, einen ausgewiesenen Fachmann auf diesem Gebiet, ob er mir Internetz machen könne. Könne er, war die lakonische Antwort. Wir verabredeten uns in seiner Wohnung, weil er das nötige Equipment raussuchen wollte. Tubes Wohnung besteht im Wesentlichen aus einem oder mehreren funktionierenden Computern und mehreren funktionierenden Aschenbechern am Rande 19


DAS BUCH

In den Gefilden, in denen ich mich üblicherweise milchkaffeetechnisch bewege, gibt es Gott sei dank noch ein, zwei Oasen, wo man für nur einen Europa-Dollar einen anständigen Espresso mit heißer Milch bekommt. In einer davon sitze ich, rauche eine Zigarette und trinke Milchkaffee im Glas in exakt der richtigen Mischung. Ich könnte eigentlich glücklich sein. Aber: Irgendetwas stimmt nicht. Ich weiß doch genau, dass ich nicht einfach glücklich sein kann. Mit dem überaus feinen Spürsinn des sensiblen Künstlers nehme ich erhebliche Disharmonien im Raum wahr. Ich ahne, woher sie kommen. Spüre, dass die Quelle kommenden Ungemachs bereits sprudelt. Mir schräg gegenüber sitzt ein Mann. Benbeckeroides Aussehen. Was an sich noch kein Grund ist, ihn nicht zu mögen, dafür kann keiner was, und er ist eindeutig nicht Ben Becker. Er ist vollkommen schwarz gekleidet. Nichts ungewöhnliches für Berlin Mitte. Auf dem Kopf – und da fängt’s an – trägt er ein Art KZ-Käppi. Vielleicht ist es auch ein Schornsteinfegermützchen. Aber ich habe meine Assoziationen in der richtigen Reihenfolge wiedergegeben. Seine Augen in den Farben irgendwo zwischen Taubenscheiße und Taubengefieder. Kaltgraugrün. Aus ihnen blitzt die Entschlossenheit eines Oliver Kahn. Ich glaube, Frauen mögen ihn. Vielleicht, weil er mich auch noch ein bisschen an Boris Becker erinnert. Alle drei Männer, die beim Anblick des Mannes mir gegenüber vor meinem geistigen Auge aufgetaucht sind, haben eines gemeinsam: Erfolg – und zwar nicht nur bei Frauen. Der Mann mir gegenüber hat außer dem von mir vermuteten Erfolg noch etwas. Ein Buch hat er. Und er liest darin. Da ist nichts dran auszusetzen. Auch ich gestatte mir von Zeit zu Zeit den Luxus, ein Buch in der Öffentlichkeit zu lesen. Damit sendet man die richtigen Signale aus an die Frauen, die nicht auf primitive Schlüsselreize wie braungebrannter, muskulöser Oberkörper oder markantes Gesicht reinfallen. Man kann seine Qualitä26

ten auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen. Der Mann liest ein sehr dickes Buch. Na und! Soll er doch ein dickes Buch lesen. Größe und Dicke sind auch nicht alles, worauf die feinsinnigeren unter den Frauen so achten. Auf den Inhalt kommt es an, auf die inneren Werte so eines Buches. Mal sehen, was der so liest. Kann doch wohl nicht wahr sein! Der Kerl hält das Buch aber auch so, dass ich den Titel nicht erkennen kann. Und!! Und das macht mich langsam fuchtig – er liest mit so einer Ruhe und Gelassenheit. Mit so einer Selbstverständlichkeit. Mit so einem von innen heraus leuchtenden Interesse. Mit so einer Hingabe, gespeist aus Unerschütterlichkeit und Gewissheit, wie sie nur aus Nahtoderfahrung oder gefühlter Gottesnähe erwachsen kann. Er liest mit dieser an die alten Sufi-Mystiker erinnernden Verzückung. Während ich all das Kaffee schlürfend und rauchend aus dem Augenwinkel wahrnehme, spüre ich, wie sich in meinem Magen ein schmerzhafter Klumpen aus Neugier, Neid und Missgunst bildet. Dieser Mann, da bin ich mir inzwischen sicher, liest DAS Buch. Nämlich genau das richtige. Mit Sicherheit liest er ein Buch fernab von allem Mainstream, von allen Literaturtrends und fernab aller Bestsellerlisten von Stern, Spiegel, Focus, Hocus, Pocus und Jocus. Vermutlich besitze ich dieses Buch nicht mal, schlimmer noch, ich kenne es wahrscheinlich gar nicht. Oder ich wüsste, wenn ich wüsste, um welches Buch es sich handelt, dass ich es schon immer lesen wollte und nie dazu gekommen bin. Immer wieder schiele ich zu dem Buch rüber. Der Mann kuckt her, ich weg. Mist, zu oft habe ich jetzt schon gekuckt, als dass ich nicht gezwungen wäre, ihn jetzt auch mal arglos anzulächeln, damit er nichts merkt. Aber wer selber stiehlt, passt auf. Obwohl es wie zufällig aussehen soll, achtet er doch akribisch genau darauf, dass ich den Buchumschlag nicht zu sehen bekomme, die Ratte. Ich lächle ihn falschen Lächelns an, ihn, der mir nicht nur als Mann schon die ganze Zeit seine archaische Überlegenheit zu demonstrieren weiß, sondern auch als Besitzer und Leser gerade dieses Buches mir zeigt, dass ich mal wieder meilenweit der intellektuellen Avantgarde hinterherfahrradfahre. Er will mich janullrichen oder gar 27


DAS BUCH

In den Gefilden, in denen ich mich üblicherweise milchkaffeetechnisch bewege, gibt es Gott sei dank noch ein, zwei Oasen, wo man für nur einen Europa-Dollar einen anständigen Espresso mit heißer Milch bekommt. In einer davon sitze ich, rauche eine Zigarette und trinke Milchkaffee im Glas in exakt der richtigen Mischung. Ich könnte eigentlich glücklich sein. Aber: Irgendetwas stimmt nicht. Ich weiß doch genau, dass ich nicht einfach glücklich sein kann. Mit dem überaus feinen Spürsinn des sensiblen Künstlers nehme ich erhebliche Disharmonien im Raum wahr. Ich ahne, woher sie kommen. Spüre, dass die Quelle kommenden Ungemachs bereits sprudelt. Mir schräg gegenüber sitzt ein Mann. Benbeckeroides Aussehen. Was an sich noch kein Grund ist, ihn nicht zu mögen, dafür kann keiner was, und er ist eindeutig nicht Ben Becker. Er ist vollkommen schwarz gekleidet. Nichts ungewöhnliches für Berlin Mitte. Auf dem Kopf – und da fängt’s an – trägt er ein Art KZ-Käppi. Vielleicht ist es auch ein Schornsteinfegermützchen. Aber ich habe meine Assoziationen in der richtigen Reihenfolge wiedergegeben. Seine Augen in den Farben irgendwo zwischen Taubenscheiße und Taubengefieder. Kaltgraugrün. Aus ihnen blitzt die Entschlossenheit eines Oliver Kahn. Ich glaube, Frauen mögen ihn. Vielleicht, weil er mich auch noch ein bisschen an Boris Becker erinnert. Alle drei Männer, die beim Anblick des Mannes mir gegenüber vor meinem geistigen Auge aufgetaucht sind, haben eines gemeinsam: Erfolg – und zwar nicht nur bei Frauen. Der Mann mir gegenüber hat außer dem von mir vermuteten Erfolg noch etwas. Ein Buch hat er. Und er liest darin. Da ist nichts dran auszusetzen. Auch ich gestatte mir von Zeit zu Zeit den Luxus, ein Buch in der Öffentlichkeit zu lesen. Damit sendet man die richtigen Signale aus an die Frauen, die nicht auf primitive Schlüsselreize wie braungebrannter, muskulöser Oberkörper oder markantes Gesicht reinfallen. Man kann seine Qualitä26

ten auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen. Der Mann liest ein sehr dickes Buch. Na und! Soll er doch ein dickes Buch lesen. Größe und Dicke sind auch nicht alles, worauf die feinsinnigeren unter den Frauen so achten. Auf den Inhalt kommt es an, auf die inneren Werte so eines Buches. Mal sehen, was der so liest. Kann doch wohl nicht wahr sein! Der Kerl hält das Buch aber auch so, dass ich den Titel nicht erkennen kann. Und!! Und das macht mich langsam fuchtig – er liest mit so einer Ruhe und Gelassenheit. Mit so einer Selbstverständlichkeit. Mit so einem von innen heraus leuchtenden Interesse. Mit so einer Hingabe, gespeist aus Unerschütterlichkeit und Gewissheit, wie sie nur aus Nahtoderfahrung oder gefühlter Gottesnähe erwachsen kann. Er liest mit dieser an die alten Sufi-Mystiker erinnernden Verzückung. Während ich all das Kaffee schlürfend und rauchend aus dem Augenwinkel wahrnehme, spüre ich, wie sich in meinem Magen ein schmerzhafter Klumpen aus Neugier, Neid und Missgunst bildet. Dieser Mann, da bin ich mir inzwischen sicher, liest DAS Buch. Nämlich genau das richtige. Mit Sicherheit liest er ein Buch fernab von allem Mainstream, von allen Literaturtrends und fernab aller Bestsellerlisten von Stern, Spiegel, Focus, Hocus, Pocus und Jocus. Vermutlich besitze ich dieses Buch nicht mal, schlimmer noch, ich kenne es wahrscheinlich gar nicht. Oder ich wüsste, wenn ich wüsste, um welches Buch es sich handelt, dass ich es schon immer lesen wollte und nie dazu gekommen bin. Immer wieder schiele ich zu dem Buch rüber. Der Mann kuckt her, ich weg. Mist, zu oft habe ich jetzt schon gekuckt, als dass ich nicht gezwungen wäre, ihn jetzt auch mal arglos anzulächeln, damit er nichts merkt. Aber wer selber stiehlt, passt auf. Obwohl es wie zufällig aussehen soll, achtet er doch akribisch genau darauf, dass ich den Buchumschlag nicht zu sehen bekomme, die Ratte. Ich lächle ihn falschen Lächelns an, ihn, der mir nicht nur als Mann schon die ganze Zeit seine archaische Überlegenheit zu demonstrieren weiß, sondern auch als Besitzer und Leser gerade dieses Buches mir zeigt, dass ich mal wieder meilenweit der intellektuellen Avantgarde hinterherfahrradfahre. Er will mich janullrichen oder gar 27


REDE ZUM WOHLE DER DEUTSCHEN SPRACHE Liebe Freunde! Der Bandscheibenvorfall der deutschen Sprache ist ebenso unüberseh- respektive unüberhörbar wie schmerzhaft. Ein kleiner Haufen ewig Gestriger will und will sich nicht geschlagen geben und kämpft ebenso tapfer wie vergeblich an der Demarkationslinie zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Immer wieder treten in kleiner werdenden Zeitabständen Menschen, die noch einen Thomas Mann von einem Thomas Gottschalk zu unterscheiden wissen, an mich heran und flehen: Herr Michael, du und deine rechtschaffenen Rede-Recken, tut doch um Gottes willen etwas gegen diese aus dem heiteren Himmel stinkende Misere! Dieses inbrünstige, einem Gebet zu vergleichende Flehen jener, konnte, ja durfte ich nicht ungehört vergellen, und so habe ich mich dieser Bitte um ein paar aufrüttelnde Worte – um unserer Worte willen – nun nicht länger entziehen zu dürfen geglaubt. Deshalb diese zur Wahrung und Preisung der deutschen Muttersprache gehaltene Rede an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Damen und Herren! Sprechende, schreibende, lesende und hörende Nutznießer der deutschen Zunge! Vernehmt diesen seltsamen Sermon eines sich sorgenden Sonderlings! So wie die meisten jungen Menschen heute kaum noch etwas mit dem Namen Martin Luther anzufangen wissen, so wenig bedürfen sie noch des von ihm geschaffenen und mit einem geheiligten Auftrag uns Deutschen überantworteten Sprachschatzes. Seit Jahrhunderten feststehende Räderwendungen werden von skrupeloder ahnungslosen Kommunikationsdesperados zerpflückt, vergewaltigt, verstümmelt und meist nicht mal ansatzweise verstanden! Das, liebe Freunde, ist mehr als nur ein Wermutstropfen in unsere 168

öligen Wunden. Viele glauben, über schlafende Hunde solle man Gras wachsen lassen und Schwamm drunter! Nicht ohne mich, liebe Presbyterianer des Plusqualmperfekts. Diesenfalls bin ich ein wüster Rufer und mahne mit wehendem Mantel vehement: Wehret den Anfängern! Natürlich heißt es da für jeden, der noch Ähren im Leib hat: Wir machen Nägel mit Händen und Füßen. Für solche Kasualien habe ich eine gewaltige Zornesader, die mir auf einem guten Händchen schwillt. Wozu dieser große Aufwind, werden einige Registrierte fragen. Weil, und da stehe ich mit meiner Meinung wie ein Fels in Brandenburg, wir alle, liebe Alchimisten des Akkupunktivs, weil wir alle am selben Boot ziehen. Und da kann jeder etwas beitragen, auch wenn wir mit unserem mutigen Schritt nur bei kleinen Bäckern Brötchen kaufen. Vielleicht, so steht zu befürchten – das beweist schon der Wegen-Dativ, vielleicht sitzt tatsächlich der Volksmund am längeren Hebel und versucht uns den Zahn der Zeit zu Gehör zu bringen. Sie, meine Damen und Herren, wissen genauso gut wie ich, dass man damit uns alten Hasen, die noch wissen, wie man Pudelkerne im Pfeffer wachsen lässt, das Fell über die Ohren schwimmen lassen will. Denn eine Katze, die einmal aus dem Häuschen ist, lässt auch im Sack die Mäuse auf dem Tisch tanzen. Aber man soll die Hoffnung nicht zum Fenster hinauswerfen. Jetzt wird ein listiger Verharmloser des Verfalls möglicherweise anmerken wollen, tja, wo gehobelt wird, wird auch mal ein Pferd von hinten aufgezäumt. Schießen wir Sprachverwahrer nicht vielleicht mit Kanonen auf Teppiche? Nein und Amen!!, sage ich jenen und rufe ihnen zu, auch wenn es denen zum einen Auge rein und zum anderen raus geht: Schuster, bleib bei deiner Leistung. Der Mensch lebt nicht vom Schweiß allein. Abwarten und Kaffee trinken ist das Bier von Leuten, die das gekrümmte Haar in der Suppe nicht selbst auslöffeln wollen. Solcherlei Gesinnungsgesindel kann meine gestohlene Pfeife rauchen! Solange ich lebe, kommt über meine Lippen kein schweigendes Grab. Nur über Leichen rede ich so, wie mir der 169


REDE ZUM WOHLE DER DEUTSCHEN SPRACHE Liebe Freunde! Der Bandscheibenvorfall der deutschen Sprache ist ebenso unüberseh- respektive unüberhörbar wie schmerzhaft. Ein kleiner Haufen ewig Gestriger will und will sich nicht geschlagen geben und kämpft ebenso tapfer wie vergeblich an der Demarkationslinie zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Immer wieder treten in kleiner werdenden Zeitabständen Menschen, die noch einen Thomas Mann von einem Thomas Gottschalk zu unterscheiden wissen, an mich heran und flehen: Herr Michael, du und deine rechtschaffenen Rede-Recken, tut doch um Gottes willen etwas gegen diese aus dem heiteren Himmel stinkende Misere! Dieses inbrünstige, einem Gebet zu vergleichende Flehen jener, konnte, ja durfte ich nicht ungehört vergellen, und so habe ich mich dieser Bitte um ein paar aufrüttelnde Worte – um unserer Worte willen – nun nicht länger entziehen zu dürfen geglaubt. Deshalb diese zur Wahrung und Preisung der deutschen Muttersprache gehaltene Rede an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Damen und Herren! Sprechende, schreibende, lesende und hörende Nutznießer der deutschen Zunge! Vernehmt diesen seltsamen Sermon eines sich sorgenden Sonderlings! So wie die meisten jungen Menschen heute kaum noch etwas mit dem Namen Martin Luther anzufangen wissen, so wenig bedürfen sie noch des von ihm geschaffenen und mit einem geheiligten Auftrag uns Deutschen überantworteten Sprachschatzes. Seit Jahrhunderten feststehende Räderwendungen werden von skrupeloder ahnungslosen Kommunikationsdesperados zerpflückt, vergewaltigt, verstümmelt und meist nicht mal ansatzweise verstanden! Das, liebe Freunde, ist mehr als nur ein Wermutstropfen in unsere 168

öligen Wunden. Viele glauben, über schlafende Hunde solle man Gras wachsen lassen und Schwamm drunter! Nicht ohne mich, liebe Presbyterianer des Plusqualmperfekts. Diesenfalls bin ich ein wüster Rufer und mahne mit wehendem Mantel vehement: Wehret den Anfängern! Natürlich heißt es da für jeden, der noch Ähren im Leib hat: Wir machen Nägel mit Händen und Füßen. Für solche Kasualien habe ich eine gewaltige Zornesader, die mir auf einem guten Händchen schwillt. Wozu dieser große Aufwind, werden einige Registrierte fragen. Weil, und da stehe ich mit meiner Meinung wie ein Fels in Brandenburg, wir alle, liebe Alchimisten des Akkupunktivs, weil wir alle am selben Boot ziehen. Und da kann jeder etwas beitragen, auch wenn wir mit unserem mutigen Schritt nur bei kleinen Bäckern Brötchen kaufen. Vielleicht, so steht zu befürchten – das beweist schon der Wegen-Dativ, vielleicht sitzt tatsächlich der Volksmund am längeren Hebel und versucht uns den Zahn der Zeit zu Gehör zu bringen. Sie, meine Damen und Herren, wissen genauso gut wie ich, dass man damit uns alten Hasen, die noch wissen, wie man Pudelkerne im Pfeffer wachsen lässt, das Fell über die Ohren schwimmen lassen will. Denn eine Katze, die einmal aus dem Häuschen ist, lässt auch im Sack die Mäuse auf dem Tisch tanzen. Aber man soll die Hoffnung nicht zum Fenster hinauswerfen. Jetzt wird ein listiger Verharmloser des Verfalls möglicherweise anmerken wollen, tja, wo gehobelt wird, wird auch mal ein Pferd von hinten aufgezäumt. Schießen wir Sprachverwahrer nicht vielleicht mit Kanonen auf Teppiche? Nein und Amen!!, sage ich jenen und rufe ihnen zu, auch wenn es denen zum einen Auge rein und zum anderen raus geht: Schuster, bleib bei deiner Leistung. Der Mensch lebt nicht vom Schweiß allein. Abwarten und Kaffee trinken ist das Bier von Leuten, die das gekrümmte Haar in der Suppe nicht selbst auslöffeln wollen. Solcherlei Gesinnungsgesindel kann meine gestohlene Pfeife rauchen! Solange ich lebe, kommt über meine Lippen kein schweigendes Grab. Nur über Leichen rede ich so, wie mir der 169



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