Stuart Pigott - Planet Riesling

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I N H AL T INHALT

Einführung von Stuart Pigott

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KAPITEL 1 Die Riesling-Story

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Die Riesling-Eckdaten

Die Riesling Backstory

KAPITEL 2 Riesling im Glas

Vom Sehen und Schmecken

Aroma, Teil 1: Duft, Erinnerung und Petrol

Aroma, Teil 2: Es sind die Trauben, du Trottel!

Frische, Teil 1: Der Stuart-Pigott-Säuretest

Frische, Teil 2: Die Wahrheit über Schwefel, Korken und Schraubverschlüsse

Süß und trocken, richtig und falsch

Mineralität und der Geschmack eines bestimmten Ortes

Mundgefühl und was dahinter steckt

KAPITEL 3 Riesling-Abenteuer Nr. 1: Die Finger Lakes, Weinseen im Nordosten der USA

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New Yorks Finger Lakes wollen es wissen

Ohio, New Jersey und Pennsylvania

Ontarios köstliche Riesling-Widersprüche

Michigan, das Land der Außenseiter-Spielzeuge

Riesling Cities: Wie sich New York City zum Welt-Hauptquartier entwickelt hat

KAPITEL 4 Riesling-Abenteuer Nr. 2: Die Westküste

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Wo der Riesling unsichtbar ist

»Riesling in Napa? Blödsinn!«

Das gelobte Land des amerikanischen Riesling erhebt sich aus dem Pinot-Nebel

Willkommen in der großen Riesling-Wüste!

Der andere Riesling-Westen

British Columbia: Kanadas Sand-, Sonne- und Riesling-Paradies

Riesling Cities: San Francisco. Brutkasten der amerikanischen Rieslingkultur


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KAPITEL 5 Riesling-Abenteuer Nr. 3: Australasien Volle Riesling-Kraft voraus

Kühl, warm und heiß zugleich

Willkommen im Riesling-Outback

Die Zukunft des Oz-Riesling

Das Riesling-Land der langen weißen Wolke

Am Rande des Riesling-Abgrunds

Die Teddybär-Berge

Riesling Cities: Sydney

KAPITEL 6 Riesling-Abenteuer Nr. 4: Die Donau und ihre Nebenflüsse

Die Wachau, Land der Monster-Rieslinge?

Der Aufstieg der »alternativen Wachau«

Riesling Cities: Wien

KAPITEL 7 Riesling-Abenteuer Nr. 5: Die Täler des Rheins und seiner Nebenflüsse

Die Täler tief und die Berge so hoch

Die Heimat des Rieslings ist ein Vergnügungspark

Willkommen in der Traumfabrik des trockenen deutschen Weins!

Wie größer schöner wurde

Elsass: das Riesling-Paradox des französischen Rheins

Die anderen Rieslinge vom Rhein und seinen Nebenflüssen

Herr Soundso und seine Sammlung von Mineralien

Riesling-Wahrheiten und Riesling-Märchen

Die neue Mosel: »Everybody must get stoned!« oder Steinrausch für alle

Die alte Mosel: süße Kapitulation

Riesling Cities: Berlin

KAPITEL 8 Einsame Rufer in der Riesling-Wüste

85

109

131

207

Italien

Ost-Europa: die verrücktesten Zahlen auf Planet Riesling

Die andere südliche Riesling-Hemisphäre: Chile, Argentinien und Südafrika

KAPITEL 9 Stuart Pigotts weltweite Riesling-Top 100

Top 20 trockener Riesling

Top 20 feinherber Riesling

Top 20 zartsüßer Riesling

Top 20 süßer Riesling

Top 20 Riesling-Blade-Runner

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E I NF U H RUNG EINFÜHRUNG

Diese Story beginnt mit der einfachen Beob-

Doch Moment mal – ich höre da ein paar Einwände: »Riesling ist meistens deutsch und immer süß, das

achtung, dass abgesehen von allen Vorur­teilen

kann nie Mainstream werden.«

Riesling häufig einfach besser schmeckt als alle

»Was ist mit Chardonnay? Ist der nicht viel bedeutender als Riesling?«

anderen Weißweine. Bis vor kurzem wäre das

»Was ist mit den großen weißen Burgundern und

eine gewagte Behauptung gewesen, aber seit

den hervorragenden Chardonnays aus Italien, Kalifornien und so?«

dem 1. Februar 2012, als ich begonnen habe,

»Hey, Sauvignon Blanc und Pinot Grigio (Grauburgun­

an diesem Buch und dem begleitenden Blog zu

der) sind total in – irren sich all die Fans dieser Weine?« »Was soll das überhaupt für eine Behauptung sein,

arbeiten (www.stuartpigott.de), habe ich eine

Riesling sei besser als alle anderen Weine?«

ganz neue Riesling-Begeisterung an Orten erlebt,

Viele ältere Weintrinker betrachten Riesling weiterhin mit Skepsis wegen der germanischen Ursprünge

die physisch und kulturell weit voneinander

dieser Rebsorte. Ihnen ist nicht bewusst (oder sie überse-

entfernt sind, wie New York, San Francisco,

hen es geflissentlich), dass Riesling an vielen Orten über den gesamten Erdball verstreut wächst, und sie behar-

Sydney und Berlin. Für mich war das eine echte

ren darauf, dass dieser Wein aus der falschen Ecke der

Überraschung, weil die Dinge noch vor weni-

Weinkultur kommt. Viele von ihnen leiden nach wie vor unter der irrigen Vorstellung, Riesling sei grundsätz-

gen Jahren ganz anders lagen, ganz zu schwei-

lich süß, nur weil er das während der zweiten Hälfte

gen von den 1980ern, meinen Anfängen in der

des letzten Jahrhunderts im Allgemeinen war. Heutzutage ist Riesling entweder richtig trocken oder zumin-

Weinwelt und den ersten Riesling-­Erlebnissen.

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dest trocken genug, um einen Platz am Esstisch zu verdienen. In der Tat sind Riesling-Weine ausgesprochen

s gibt nicht nur einen Zeitgeist, sondern auch einen

gute Essensbegleiter.

Wein, der ihm entspricht, und Riesling ist der Weiß-

In den letzten Jahren erfreuen sich diese Weine unter

wein unserer Zeit. Einer der wichtigsten Gründe dafür

neuen jungen und offenen älteren Weintrinkern immer

lautet, dass ihn die Pfennigfuchser und die Marketing-

größerer Beliebtheit. Sie sind dafür verantwortlich, dass

Abteilungen der großen Firmen im Gegensatz zu so

Riesling in fünf aufeinanderfolgenden Jahren die Reb-

vielen anderen Weinen und so vielen anderen Dingen

sorte war, die im US-amerikanischen Markt am meis-

in unserer globalisierten (und somit vereinheitlichten)

ten Wachstum verbuchen konnte (laut Nielsen), und in

Welt weitgehend in Ruhe gelassen haben.

vielen anderen Märkten weltweit im Aufsteigen begrif-

In einer Weinwelt, die von Rauch und Schall beherrscht

fen ist. Heute sorgt Riesling regelmäßig für Begeisterung

wird, in der Geschmacksstandardisierung die Norm ist,

und Trinkspaß bei Millionen von Menschen, die genau

bleibt Riesling auffallend und wunderbar eigenständig.

diese Weine als zeitgemäß empfinden.

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K AP I T EL  1 KAPITEL 1

DIE RIESLING-STORY Die Riesling-Eckdaten

Kindheit: Über Jahrhunderte wurden ihre Fähigkeiten verkannt, weil sie in der Menge unterging (d. h. wenn man

Geburtsdatum: Unbekannt, aber die erste urkundliche

sie anpflanzte, dann geschah das zusammen mit einer

Erwähnung ist auf den 13. März 1435 datiert.

Vielzahl anderer Sorten, darunter ein paar richtige Penner).

Geburtsort: Unbekannt, aber erste urkundliche Erwäh-

Besondere Begabungen: Nur die besten Parfüms haben

nung stammt aus Rüsselsheim/Deutschland (heute Heimat

neben einem großen Riesling überhaupt eine Chance. Und

von Opel).

erst der Geschmack: so lebendig im Mund, so faszinierend und energetisierend, ganz egal, ob der Wein trocken oder

Eltern: Die obskure Sorte Heunisch (frz: Gouais Blanc)

süß ist.

und ein unbekannter Nachfahre des edlen weißen Traminer (frz: Savagnin) sowie unbekannten zweiten Großeltern.

Erste Veröffentlichung: In der Ausgabe von 1577 seines

Heunisch bringt dünne, saure Weißweine hervor, Traminer

Kreütterbuch (erschienen in Strasbourg, Frankreich)

hingegen füllige, aromatische. Traminer hat also weit unter

erwähnt Hieronymus Bock, dass Riesling an Rhein und

seinem Stand geheiratet.

Mosel wächst.

Familie: Eng verwandt mit einem ganzen Haufen anderer

Erste Anerkennung: Schloss Johannisberg im Rheingau

Rebsorten, vom weißen Chardonnay bis zum roten Gamay

pflanzt 1720/21 sämtliche Weinberge neu mit Riesling an

(die ebenfalls Heunisch/Gouais Blanc als Elternteil haben)

(insgesamt 293 950 Rebstöcke) und legt damit den Grund-

und vom roten Cabernet Sauvignon bis zum weißen

stein einer Mode für den reinsortigen Anbau der Sorte im

Grünen Veltliner (mit denen er Traminer/Savagnin gemein-

Rheintal und seinen Nebenflüssen.

sam hat). Erster großer Durchbruch: Die Rieslinge aus dem Farbe: Weiß, aber die Trauben sind eigentlich grün, wenn

Jahrgang 1811 aus dem Rheingau wurden in ganz Europa

sie unreif sind, und werden goldfarben mit der Reife.

und später weltweit zu Kultweinen, mit entsprechenden Preisen bis Mitte des 20. Jahrhunderts.

Geschlecht: Im Deutschen sind ja sowohl die Rebe als auch die Traube weiblichen Geschlechts, und da der Ursprung

Wohnort: Dieser Weltweinbürger wird auf drei Kontinen-

des Rieslings in Deutschland liegt, würde ich ihn trotz des

ten weit verbreitet angebaut und auf allen fünf bewohnten

grammatikalischen »der« als weiblich bezeichnen.

Kontinenten von Millionen Menschen regelmäßig konsumiert.

Persönlichkeit: Häufig freudvoll und extrovertiert mit verborgener Tiefe, doch gelegentlich auch mit der Blade-

Familienstand: Nach einer langen Zeit als Single hat das

Runner-Härte eines Geheimagenten oder dem unverhohle-

Aschenputtel unter den Rebsorten endlich den Weg zum

nen Glamour eines Vamps.

Ball gefunden – und jeder weiß, was dann geschieht!

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K AP I T EL  3 KAPITEL 3 – RIESLING-ABENTEUER NR. 1:

DIE FINGER LAKES, WEINSEEN IM NORDOSTEN DER USA

NEW YORKS FINGER LAKES WOLLEN ES WISSEN

Gleich geht es los, und wir stürzen ins erste von

den vorbei schlendere, erinnert mich das auch

einer Reihe von Abenteuern, um herauszufin-

daran, dass die entscheidenden Dinge bei einem

den, was auf Planet Riesling jetzt und heute tat-

Riesling nicht im Keller passieren, sondern im

sächlich passiert. Wir werden einige der beein-

Weinberg wachsen. Die Reben sehr präzise

druckendsten Weinlandschaften der Welt

zu hegen und zu pflegen, das ist die Grund-

besuchen und außergewöhnliche Menschen

lage eines jeden Rieslings, und es ist genau das,

treffen. Wir starten in New York City (NYC),

was die Stärke der Region ist, in die wir gleich

meine zweite Heimat neben Berlin. Aber bevor

fahren, einen kurzen Flug oder vier Autostun-

wir uns auf den Weg machen, muss ich hier im

den nördlich von hier.

Big Apple noch einkaufen gehen und mich ums

Die Rieslinge von den Finger Lakes – oder

Abendessen kümmern. Ich laufe die anderthalb

FLX, wie die einheimischen Winzer sie nen-

Blocks zum Union Square, wo Bauern aus dem

nen – sind wirklich bemerkenswerte Weine,

Staat New York und New Jersey seit 1976 ihre

und das Gebiet gehört zu den schönsten Wein-

Erzeugnisse auf dem Greenmarket feilhalten.

landschaften der USA. Bis vor kurzem haben

Anfangs war es nur eine Handvoll von Erzeu-

die New Yorker trotzdem kein großes Inter-

gern, aber der Markt wuchs schnell, und heut-

esse oder gar Begeisterung gezeigt. Sicher, es

zutage kommen 13 Millionen Besucher jähr-

gab FLX-Weine in den Weinläden der Stadt,

lich. Auf CNN Travel ist er kürzlich zu einem der

und sie wurden durchaus getrunken, aber es

zehn besten Märkte der Welt gewählt worden

herrschte keine richtige emotionale Verbun-

(es gibt hier auch Wein, aber darauf kommen

denheit zwischen diesen New Yorker Weinen

wir später zurück). Wenn ich an den Stän-

und den NYC-Weintrinkern.

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in Grund für dieses beinahe negative Desinter-

Baumwolle, war extrem. Es war Tabak, der den ersten

esse lag in der ungleichmäßigen Qualität der FLX-

Kolonisten zu schnellem Reichtum verhalf. Kein Wunder,

Weine – beim Riesling ebenso wie bei anderen Rebsor-

dass die Ostküsten-Amerikaner über den Atlantik nach

ten. Sie wirkten grobschlächtiger, weniger reif und waren

Osten blickten, wenn es um Wein ging, und dieser Reflex

weniger ausgewogen als heute. Wenn man Pech hatte

ist noch immer weit verbreitet.

und einen der weniger gelungenen erwischte, dann war

Die Universitätsstadt Ithaca ist mein Tor zur Welt des

es vielleicht verständlich (wenn auch nicht sehr aufge-

FLX-Rieslings, seitdem ich im Herbst 2004 zum ersten

schlossen), dass die Lust auf andere Weine aus dersel-

Mal von New York City hier hergekommen bin. Aus der

ben Ecke sich in Grenzen hielt. Doch andere hatten mehr

Luft sehen die Seen tatsächlich aus wie Finger, die nach

Glück, und aus diesen Treffern entwickelte sich allmäh-

Norden greifen – die indianischen Ureinwohner Iroquois

lich eine eingeschworene FLX-Riesling-Fangemeinde.

haben das bereits vom Boden aus erkannt. Von oben nicht

Ein anderer, tiefer sitzende Grund für die weitver-

zu erkennen ist, wie tief diese von Gletschern geformten

breitete Skepsis bis unverhohlene Ablehnung gegenüber

Becken sind: Seneca und Cayuga, die beiden größten, sind

den FLX-Weinen sind die vielen Misserfolge, die Reb-

respektive 188 und 132,5 Meter tief.

kultur und Weinerzeugung an den Seen im Osten Nord-

Am westlichen Ufer vom Keuka-See treffe ich

amerikas erlebt haben. Über zwei Jahrhunderte lang

Frederick Frank von Dr. Konstantin Frank. Er ist ein

wollten die nach der Gründung von Jamestown/Virgi-

bedachtsamer, einfühlsamer Typ, und viele übersehen

nia 1607 aus Europa importierten Reben einfach nicht

die Entschlossenheit, die in ihm steckt Er hat die Pro-

gedeihen; immer wieder kränkelten sie und gingen ein.

duktion des Familienweinguts verzehnfacht, seitdem er

Zuerst war es die Reblaus in den Böden, die die Wurzeln

es 1993 von seinem Vater übernommen hat. Wirklich

anfraß. Dann kam der Luftangriff in Form von Mehltau

beeindruckend wird diese Zahl, wenn man sie in Ver-

(echter und falscher) und andere Pilze, denen die euro-

bindung mit der konstant hohen Qualität der Dr.-Frank-

päischen Reben nichts entgegenzusetzen hatten. Als sich

Rieslinge sieht. Wenn ich mich mit Fred unterhalte, nutzt

diese Rebplagen dann Ende des 19. Jahrhunderts in Euro-

er meistens die Gelegenheit, um sein Deutsch aufzupo-

pas Weinbergen ausbreiteten, hatte das bekanntermaßen

lieren – was natürlich witzig ist, weil seine Familie zwar

verheerende Folgen.

ursprünglich aus Deutschland stammt, er selbst aber

Die bis zum heutigen Tag in den Wäldern der Ost-

Ukraine-Amerikaner ist und ich zwar lange in Deutsch-

küste weit verbreiteten einheimischen Rebsorten hinge-

land gelebt habe, aber nach wie vor Brite bin. Doch bin

gen sind gegenüber diesen Läusen und Pilzen resistent.

ich ja nicht wegen der Sprache gekommen, schauen wir

Die aus ihnen erzeugten Weine fanden jedoch aufgrund

uns vielmehr seine Rieslinge an, um mehr über die Mög-

des meist sehr ausgeprägten Bubblegum-Aromas (Fach-

lichkeiten meiner Lieblingsrebsorte in Upstate New York

begriff: Fuchs-Ton) bei den Kolonisten und ihren Nach-

herauszufinden.

kommen keine Anhänger. Daran änderten auch die ver-

Der trockene Dr.-Frank-Riesling (auf dem Etikett

schiedenen Preise und Aktionen nichts, mit denen die

steht »dry«) wächst auf den Schieferhängen am Keuka-

britischen und amerikanischen Behörden dieses Problem

See, und er steht europäischen Rieslingen an schlanker

zu lösen versuchten. Thomas Jefferson scheute bekann-

Rasse in nichts nach. Er war ein mehr als vielverspre-

terweise weder Geld noch Mühe, um auf seinem Gut

chender Kandidat für meine weltweite Hitliste trockener

Monticello genießbare amerikanische Weine zu erzeu-

Rieslinge. Der halbtrockene Dr.-Frank-Riesling (»medium-

gen, und selbst er scheiterte auf der ganzen Linie. Der

dry«) vom Ufer des Seneca-Sees schmeckt so saftig wie

Gegensatz zwischen diesen Misserfolgen und dem spek-

ein reifer Pfirsich und stellt ganz bewusst einen starken

takulären Erfolg von Cash Crops, allen voran Tabak und

Kontrast zu der trockenen Version dar. Mit der großarti-

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gen Balance zwischen Frucht, Würze und Frische ist der

dikat für Dessertweine) – für den Wein, der im Weingut

Dr.-Frank Reserve-Riesling von alten Reben am Keuka-

heute als Bunch Select Late Harvest bezeichnet wird. Es

See einer der absoluten Stars hier im Gebiet, mit einem

war der erste Wein dieser Art überhaupt in den USA. Der

festen Platz auf meiner weltweiten Hitliste an halbtro-

Mangel an Anerkennung war anfangs ohrenbetäubend,

ckenen Rieslingen. In manchen Jahren gibt es außer-

und es ist Fred und seine Tochter Meaghan, die heute die

dem einen Dessert-Riesling, den Bunch Select Late Har-

Früchte von über einem halben Jahrhundert an Engage-

vest (letzter Jahrgang 2008), mit intensiven Honig- und

ment für den Riesling und andere Vinifera-Sorten an den

Trockenfruchtaromen und blitziger Frische. Die Fami-

Finger Lakes erntet.

lie Frank hat eine lange Tradition für Weine dieser Art.

Auf meiner ersten Reise an die Finger Lakes gab es

Anfangs sah es jedoch kaum aus, als ob es je dazu

einige Highlights, aber es waren vereinzelte und wenige

kommen würde. 1951 war Dr. Konstantin Frank nur einer

Weine. Dass ich heute zuversichtlich sagen kann, dass

von vielen anderen Einwanderern aus der Ukraine, und

die FLX-Rieslinge während der letzten zehn Jahre ent-

er arbeitete als Hilfskellner und Tellerwäscher in einem

scheidend an Ausgewogenheit und Charakter gewon-

Restaurant in Manhattan. Er hatte aber einen Doktortitel

nen haben, verdanke ich den zahlreichen Verkostungen,

in Weinbau der Universität in Odessa mitgebracht, und

die Bob Madill für mich organisiert hat, der kanadische

nachdem er Englisch gelernt hatte, fand er einen Job bei

Gründer der Sheldrake Point Winery am Cayuga-See.

der Weinbauforschungsstation der Universität Cornell in

Bobs unermüdlich kritischer Geist hat seine Kollegen

Geneva/New York. Dort bekam er allerdings nur unbe-

und das Sheldrake Point-Team dazu gebracht, sich immer

deutende Aufgaben zugeteilt, weil die Fachleute seine

noch ein bisschen mehr anzustrengen mit ihren Rieslin-

Vision vom Riesling und anderen europäischen Rebsor-

gen. Sie fanden ihn vielleicht manchmal lästig, nahmen

ten an den Finger Lakes nicht ernst nahmen. Sie sagten

sich seine Ratschläge aber grundsätzlich zu Herzen.

ihm, das sei unmöglich, weil der raue Winter hier im

Riesling eignet sich zwar gut für das generell eher

Nordosten die Reben killen würde. Wahrscheinlich war

feuchte und ziemlich kühle Klima hier, aber die Unregel-

es die lange Geschichte von weinbaulichen Misserfol-

mäßigkeiten der Witterung stellen für die Winzer eine

gen hier im Osten, die sie daran hinderte, sich ernsthaft

echte Herausforderung dar, viel mehr als an der West-

mit den Obstbäumen und Nicht-Vinifera-Reben ausein-

küste. Im Sommer kann es hier kurzzeitig ebenso heiß

anderzusetzen, die rund um die Finger Lakes sowie an

sein wie im Napa Valley in Kalifornien; doch dann kann

Lake Ontario, Erie und Michigan wuchsen. Diese riesigen

sich alles ganz plötzlich ins Feuchte drehen, im som-

Binnen-Wassermassen wirken sich wie ein natürliches

merlichen Kalifornien quasi ein Ding der Unmöglich-

Frostschutz-System auf die umliegenden Gebiete aus und

keit. Die Böden saugen die Feuchtigkeit dann auf wie ein

reduzieren das Risiko von Winterfrostschäden ganz ent-

Schwamm und geben sie an die Reben ab, die dadurch

scheidend. Es ist dieser »See-Effekt«, der die neuen Ries-

dschungelartig wuchern, wenn es warm bleibt. Doch

linge hier ermöglicht, die nicht nur mich so begeistern,

jedes Jahr verläuft anders, und es liegt nahe, hochwertigen Riesling hier als Spinnerei abzutun. Die besten FLX-

und sie trotz aller Unterschiede zu einer Familie macht. Dr. Frank seinerseits nahm das »unmöglich« nicht

Produzenten sehen das aber keinesfalls so.

ernst und pflanzte 1958 die ersten Europäer-Reben am

Mark Wagner von Lamoreaux Landing am west-

Keuka-See, inklusive Riesling. Seine erste Ernte, 1962, war

lichen Ufer vom Seneca-See genießt die Herausfor-

ein denkwürdiger Moment, weil es ihm nicht nur gelang,

derungen dieses Gebiets. Er arbeitet wie besessen an

die als unmöglich prophezeiten Trauben zu lesen, son-

den kleinsten Details im Weinberg, und als er mir zwei

dern daraus auch edelfaule Beeren für eine Trockenbee-

seiner Riesling-Lagen zeigte, hatte ich den Eindruck, er

renauslese zu selektionieren (das höchste deutsche Prä-

würde hier übernachten, wenn ihm das zu besseren

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GRUNDLAGENFORSCHUNG:

Vom Unterschied zwischen »reifen« und »reifen« Rieslingtrauben Wenn ein Kellermeister richtig guten

Abschnitt »Riesling im Glas« haben

schiedlich schnell. In heißen Klima­

Wein machen will, sind reife Trauben

wir gelernt, wie sich das alles jeweils

zonen neigt der Zuckergehalt dazu,

unerlässlich. Aber was bedeutet reif

auf den Geschmack des Weins aus-

alle anderen abzuhängen. Das kann

eigentlich wirklich genau? Riesling-

wirkt. Vereinfacht gesagt bedeutet Reife,

zu alkoholischen Weinen mit wenig

trauben enthalten Hunderte von ver-

dass die Menge an Zucker, Mineralien

Aroma führen. In kühlen Gegenden wie

schiedenen Inhaltsstoffen, die ich hier

und Aromen in den Trauben steigt, die

in Michigan ist es genau anders herum,

genauso gruppiere, wie es die Keller-

Gerbstoffe sich verändern (von »hart«

die Aromen in den Traubenhäuten ent-

meister tun: Zuckerarten (Glukose und

nach »weich«) und die Säure quantitativ

wickeln sich schneller als die Zucker

Fruktose), Säuren (vor allem Wein- und

abnimmt. Abhängig vom Wetter läuft

im Saft. Dadurch können diese Weine

Äpfelsäure), Mineralstoffe (vor allem

jeder dieser Prozesse unterschiedlich

selbst bei niedrigem Alkoholgehalt aus-

Kalium), Gerbstoffe (Fachbegriff: Tan-

schnell ab – das heißt, jede dieser Grup-

gesprochen aromatisch ausfallen.

nine oder Phenole) und Aromen. Im

pen von Inhaltsstoffen »reift« unter-

und der Nachgeschmack ist atemberaubend frisch. Dies

40 und 60 Jahren seien die größten Abnehmer dieser

ist im Prinzip ein dem trockenen Riesling sehr ähnlicher

­trockenen Rosé-Kirschbombe.

Wein, der mit einem superintensiven Riesling-Trauben-

Riesling gibt es in keinem der L.-Mawby-Schäumer,

konzentrat gesüßt wurde, das Shawn eigens für diesen

aber der M. Lawrence WET ist eine Cuvée aus Riesling

Zweck erzeugt hat. Das mag technisch klingen, aber das

mit etwas Pinot Gris. Er hat ansprechende Apfel- und

Ergebnis ist ungefähr so anziehend wie die ersten Takte

weiße Pfirsicharomen, die deutlich subtiler wirken als

von Nirvanas »Smells like Teen Spirit.« Und es kostet unter

die nahezu überwältigenden Aromen manch anderer

$ 15/€ 11 ab Hof!

Erzeugnisse dieser Art, und die Säure ist frisch genug, um

Der andere coole Wein-Kerl auf der LEEP ist der geni-

den Touch von Süße auszubalancieren. Ein reinsortiger

ale, ewig junge Lawrence Mawby, der das älteste noch

Riesling wird gerade entwickelt, ein weiteres Spielzeug

aktive Weingut des Staats betreibt. Mitte der 1990er traf

in dieser Sammlung von Außenseitern; er wird diesen

Larry die radikale Entscheidung, ganz auf Schaumwein

Betrieb zu einem Teil von Amerikas erstaunlichstem

umzusatteln, und den vermarktet er bis heute unter zwei

Riesling-Gebiet machen.

vollkommen unterschiedlichen, beinahe widersprüchlichen Marken. L. Mawby steht für hochwertige, nach der Champagnermethode produzierte Schaumweine. Für M. Lawrence hingegen werden die Grundweine, die zum Teil aus Kalifornien stammen, nach der Charmat-Methode versektet. Einer davon heißt Detroit, NYC oder CHI (für Chicago), je nach Absatzmarkt, und ein anderer »SEX« – Larry sagte, es handle sich um den »einzigen bundesweit gebilligten Sex im Land.« Er erzählte, Frauen zwischen

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N E W YO R K RIESLING CITIES: Wie sich NEW YORK CITY zum Welt-Hauptquartier entwickelt hat

ders wenn das Salatdressing nicht zu sauer ist und der Fisch eher auf der öligen Seite, wie Lachs. Genauso freut sich fetteres Fleisch wie Ente und Schwein über einen kraftvollen trockenen Riesling. »Aber süßen Riesling kann man doch sicher zu nichts anderem als zum Dessert trinken, oder?« Nun, kann man durchaus, und süßer Riesling zum Dessert ist eigentlich ein schwieriges Paar, denn um richtig zu funktionieren, muss der Wein (unabhängig davon, ob es ein Riesling ist oder nicht) süßer als das Essen sein. Aber die groß-

New York brüstet sich für alles Mögliche als der Nabel

artige Affinität süßen Rieslings mit scharf Gewürztem

der Welt. Manchmal ist das nur überdrehtes Marketing-

von thailändischem rotem Curry über üppige chinesi-

Geschwätz, aber beim weltweiten Riesling-Phänomen

sche Schweinefleischgerichte bis hin zu Tex-Mex muss

ist New York Wine City (NYWC) inzwischen tatsäch-

man wirklich erlebt haben. Und dann ist da das Wunder

lich eine merkwürdige Art von Hauptquartier geworden

des Blauschimmelkäse – für sich allein, auf einem Salat

(merkwürdig deshalb, weil nichts wahrhaft Weltumspan-

oder in einem Hamburger – mit halbtrockenem Riesling

nendes wirklich ein Zentrum oder einen Rand hat). Man

und andere Selbstläufer wie Backhuhn oder Barbecue.

braucht nur in die angesagten Restaurants oder Wein-

Wenn der Wein halbtrocken ist, dann sollte geräucher-

bars von NYWC zu gehen, dann wird sofort deutlich,

ter Fisch oder Schinken auf den Tisch kommen. Aber das

was ich meine. Hier trinken sie Riesling, und zwar nicht

sind nur ein paar Beispiele von Kombinationen, und das

zimperlich und auch nicht als Nebenerscheinung. Nein,

Tolle an dem, was in NYWC abgeht, ist der Umstand, dass

direkt, sofort, am Anfang des Abends, weil sie ihn köst-

es eben gerade keine festen Regeln gibt, sondern alles

lich und erfrischend finden. Manchmal kehren sie dann

neu entdeckt wird!

gegen Ende des Abends zu ihm zurück, weil seine anste-

Dieser radikale Bruch mit dem Riesling-Bild als süße,

ckende Frische sie wieder gefährlich wach macht. Man

alkoholarme Cocktail-Alternative für Frauen, aber voll-

sieht aber auch Leute, die Riesling zum Essen trinken,

kommen deplatziert auf dem Essenstisch und definitiv

Das mag wie eine merkwürdige neue Mode aussehen,

suspekt als Getränk für harte Kerle ist ziemlich neu. Er

war aber vor 50 oder 100 Jahren vollkommen normal.

machte sich im Sommer 2008 in NYWC erstmals bemerk-

In den 1970ern wurden die Rieslinge viel süßer, und es

bar. Ich war aber irgendwie nicht richtig wach und ver-

kamen neue Weintrends. Wieder höre ich eine fragende

passte das erste Summer-of-Riesling-Festival in der Wein-

Stimme. »Zu welchem Essen kann ich Riesling trinke?«

bar Terroir im East Village von Manhattan, 413 East 12th

Nun, Salate und Fisch aller Art sind ziemlich offensicht-

Street. Als ich da endlich in einer schwülheißen Nacht im

liche Kombinationen für die trockeneren Weine, beson-

Juli 2010 auftauchte, stand ich mitten im Epizentrum des

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dritten Summer of Riesling. Klar, der Name war eine sehr

verhelfen. Grieco und Solomon hatten das gesamte von

direkte, gewagte Aussage aus der Marketingsicht, aber

Punkten und anderen Bewertungen abhängige System,

war er zu blöd? Einen Moment lang war ich skeptisch.

das die Weinszene eine Generation lang beherrscht hatte,

Dann schaute ich genauer hin, was hier abging. Ter-

über Bord geworfen und durch den demokratischen, offe-

roir war gepackt voll, wenn eine Gruppe ging, rückte

nen Riesling-Geist ersetzt. Plötzlich wirkte das alles so

sofort die nächste nach. »Wer sind diese Leute?« fragte

gestrig, plötzlich waren die Konsumenten selbstbemäch-

ich mich, und fand schnell heraus, dass es eine tenden-

tigt, ihrem eigenen Geschmack zu vertrauen, zu expe-

ziell junge, aber sehr unterschiedliche Mischung war, mit

rimentieren, mit dem Strom zu schwimmen. Der Erfolg

vielen Wein-Newcomern und wenig Wissen zum Thema.

des Summer of Riesling war ein klares Zeichen des neuen

Die Riesling-Begeisterung war eindeutig eine Basis-

Selbstvertrauens der New Yorker Weintrinker. Ein neues

Bewegung, die die alten Schranken zwischen Wein-Insi-

Zeitalter des Weins hatte begonnen, und Riesling war der

dern und normalen Trinkern niederriss. Ein Blick auf die

Dynamo dieses grundlegenden Wandels. Für mich, der

Weinkarte im Terroir und das

ich Rieslings Kampf um ein Min-

andere Werbematerial sagte mir,

destmaß an Respekt über ein Vier-

dass Summer of Riesling auch ein

teljahrhundert mitverfolgt hatte,

Pop-Phänomen war. Mir wurde

war das beinahe zu schön, um

plötzlich klar, was ich während

wahr zu sein! Wie alle großen Veränderun-

der vorhergehenden zwei Jahre verpasst hatte: Die schüchterne

gen begann auch diese an einem

Prinzessin hatte sich in die Sex-

bestimmten Moment und einem

bombe unter den Weißweinen

bestimmten Ort und wuchs daraus,

verwandelt!

wie eine gewaltige Eiche sich aus

Es war ein ganz schöner

zwei winzigen Blättern entwickelt,

Schock, denn nachdem ich ihm so lange gefolgt war,

die sich aus einer Eichel am Waldboden schieben, nach-

meinte ich Riesling in- und auswendig zu kennen. Aber es

dem es geregnet hat und warm ist. Die Anti-Riesling-Vor-

folgten bald noch mehr köstliche Schocks. Einige Monate

urteile wurden in den Terroir-Weinbars (inzwischen eine

später, im deutschen Riesling-Mutterland, lernte ich das

kleine NYWC-Kette) abgeschafft, und die wachsende Ries-

dynamische Duo kennen, das hinter dieser Verwand-

ling-Begeisterung bewies sehr schlüssig, dass die Weine

lung steckt, den selbst ernannten Terroir-»Overlord«

noch viel mehr zu bieten hatten, als selbst ich gedacht

Paul Grieco und den Grafikdesigner Steven »Stickermeis-

hatte. Dieser Erfolg führte zu einer Reihe ganz neuer

ter« Solomon, ein Doppelpack, das ebenso amerikanisch

Möglichkeiten, die von Sommeliers in der ganzen Stadt

anmutet wie Laurel und Hardy oder Starsky und Hutch.

und dann überall in den USA aufgegriffen wurden. Das

Später wurde mir klar, dass sie eher funktionierten wie

Summer-of-Riesling-Festival war ein Van-der-Graaf-Gene-

Keith Richards und Mick Jagger, mit Solomon als Ideen-

rator, der Funken in alle Richtungen sprüht, auch über die

mensch im Schatten von Grieco, dem charismatischem

Ozeane, und die Energie dieser Funken wächst ständig.

Frontman im Rampenlicht. Solomon ist Hardcore-Krea-

Am 22. September 2014 ging der letzte Summer of Riesling zu Ende. Mit der Riesling Invasion in ­Potland, Oregon

tiv-Chaot, Grieco superfokussiert. Ich brauchte eine Weile, um herauszufinden, was

und der City of Riesling in Traverse City, Michigan im glei-

ihnen da tatsächlich gelungen war, denn es ging bei

chen Sommer haben sich weitere Riesling-Feierlichkeiten

weitem nicht nur darum, Riesling zum Cool-Status zu

entwickelt. Die Party geht weiter!

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61


104


105


S Y DN E Y RIESLING CITIES: SYDNEY

Ich hätte Love, Tilly Devine gerne um die Ecke, aber ich weiß, dass sie weder nach Berlin noch nach Manhattan kommen werden. Zumindest, wenn Matt sich nicht plötzlich die Maxime von »first we take Manhattan, then we

Love, Tilly Devine. Alles Liebe, Tilly Devine. Als ich

take Berlin« zu eigen macht. Aber irgendein weltweites

diesen Namen zum ersten Mal hörte, dachte ich, was

Franchising ist das letzte, was ich von ihm erwarte, und

zum Teufel? Ich saß in einem Taxi in Sydney neben einem

deshalb sog ich diesen Ort förmlich auf an diesem Abend.

feinsinnigen jungen Mann, der ganz offensichtlich eine

Eine komplette Dimension davon war Riesling, weil

ganze Menge über die Weine der Welt wusste und sich

diese kultivierte Absteige zweifellos zu den großen Ries-

mir als Matt Swieboda vorgestellt hatte, australischer

ling-Bars der Welt gehört. Matt schätzt Riesling nicht

Sommelier. Quasi gar nichts an ihm erschien mir ein-

nur, er glaubt an ihn und atmet ihn. Und er ist entschlos-

deutig australisch, aber das ging mir mit den Mad-Max-­

sen, einem diese bemerkenswerte Dimension des Weins

Filmen anfangs genauso, und war deshalb vielleicht

zu erschließen, wenn das nicht schon geschehen ist, da

nur ein Zeichen meiner Unfähigkeit, die heutige Viel-

er aufrichtig glaubt, dass dies das Leben bereichert. Das

falt ­Australiens zu begreifen. Wie auch immer, ich ent-

findet man spätestens dann heraus, wenn man die Wein-

schied umgehend, dass ich an meinem letzten Abend in

karte aufschlägt und sich der ersten der Riesling-Seiten

Sydney dieser Weinbar einen Besuch abstatten musste.

widmet. Ich stieß dort auf einige der außergewöhnlichs-

Da haben wir zwei meiner Lieblingswörter: Wein,

ten Dinge, die ich je in einer Weinkarte gelesen habe,

Bar. Und als Matt sie dort in diesem Taxi aussprach,

und ich zitiere hier deshalb ohne jede Umschweife aus-

beschworen sie ein dichtes Wirrwarr an Erinnerun-

führlich und verbatim – nicht zuletzt, weil mir selbst nie

gen und Fantasien. Allesamt waren Lichtjahre entfernt

etwas Besseres zu diesem Thema eingefallen ist, und ich

von der Recherche für dieses Buch, mit der ich nur eine

habe es 30 Jahre versucht:

Woche zuvor begonnen hatte, am 1. Februar 2012. Natür-

»Riesling ist nicht nur eine der größten Freuden der

lich hat Wein für mich Tausende von Bedeutungen, aber

bekannten Welt, es ist auch eine der missachtetsten und

die Kombination mit Bar reduziert das auf einen verfüh-

missverstandensten. Im Interesse der Menschheit und

rerischen Cocktail warmherziger Geselligkeit, entspann-

der Gäste dieser Bar präsentieren wir daher einige ein-

ter Sünden und dem köstlich kühlen Kick der Begeiste-

fache, objektive und unbestreitbare Tatsachen zu diesem

rung unerwarteter Entdeckungen.

erfrischendsten und köstlichsten Getränk.

Und genau das erlebte ich an diesem Abend im Love, Tilly Devine. Wenn er nur nicht so kurz gewesen wäre!

Riesling ist der beste Drink in dieser Bar.

Aber genau das zeigt natürlich, dass es wahre Liebe ist.

Riesling ist der beste Drink in jeder Bar.«

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»Wir möchten nicht, dass sich jemand unbehaglich fühlt«, sagte Matt, nachdem er mir eine Flasche Cooper’s

dass die Sonne irgendwann zurückkehren wird, wie sintflutartig die Regenmassen auch sein mögen.

Pale Ale gebracht hatte – ich war gerade zwei Tage beim

Warum kehrte Matt der komfortablen Drei-Miche-

Frankland Estate International Riesling Tasting in Ries-

lin-Sterne-Restaurant-Welt den Rücken, um das zu eröff-

ling abgetaucht, brauchte also dringend eine Abwechs-

nen, was er selbst eine »gerissene Weinbar« nennt? Er

lung – aber dann sah ich ihn mit einer Flasche »Jean

zögerte keinen Moment: »Man sollte nicht 200 Dollar für

Baptiste« Riesling von Gunderloch in Rheinhessen, wie

ein Essen ausgeben müssen, um guten Wein zu trinken.«

er zwei Frauen ganz behutsam dabei half, etwas zu pro-

Und anders als viele seiner Kollegen, die davon nur reden,

bieren, das ihnen offensichtlich fremd war. Und ich

hat er tatsächlich eine radikale Alternative zur gehobe-

weiß, dass es ihnen gefiel, weil sie mir das später sagten!

nen Gastronomie geschaffen, wo sich jeder wohlfühlen

Er vollzog diesen Akt der weinigen Verführung übri-

sollte, der nicht auf weiße Tischtücher und die Bedienung

gens durch die offene Fensterfront der Bar, während er

durch pinguin-artig gekleidete Menschen steht.

­draußen auf dem Bürgersteig stand, und es war richtiges ­Straßentheater.

Und das Essen war auch total lecker. »Leberpastete« klingt einfach und rustikal, war aber üppig und herzhaft.

»Ich komme aus der gehobenen Gastronomie, wo

Der dazu servierte Toast schwamm in hervorragender

Demut vor den Gästen wichtig ist«, erzählte er mir etwas

geschmolzener Butter. Zu diesem Zeitpunkt war ich tief

später, nachdem sich die Bestellungen etwas beruhigt

im Gespräch mit den zwei Frauen am Nebentisch, hatte

hatten. »Es ist sehr einfach, beim Wein arrogant zu sein.«

aber auch schon begonnen, mich mit anderen Gästen um

Das ist zweifellos einer der Gründe für seinen Erfolg,

mich herum zu unterhalten, und es schien vollkommen

seit er Love, Tilly Devine im Oktober 2010 eröffnet hat.

normal, mit vollkommen fremden Menschen in einer

Anders als so viele andere Sommeliers weltweit, deren

fremden Stadt zu sprechen. Im Love, Tilly Devine muss

einzige Absicht im Leben darin zu bestehen scheint,

man einen Sitzplatz haben, um Riesling oder irgendetwas

einem ihre neuesten und abgedrehtesten Entdeckun-

anderes serviert zu bekommen. Wie ich gesagt habe, dies

gen aufzuzwingen, möchte er einem einfach nur Freude

ist eine kultivierte Absteige, und das scheint vollkommen

machen und ist bereit, seine gesamten Vorschläge sofort

angemessen, wenn man an Australiens Geschichte und

zu vergessen, wenn man etwas komplett anderes trinken

die hier erzeugten einzigartigen Weine denkt. Letzte-

möchte. Da ist ein ganzer Haufen australischer Rieslinge,

res erscheint wahrscheinlich vielen lächerlich, die zwei-

die ebenso fair behandelt werden wie die importierten,

fellos an Yellow Tail denken, wenn sie die Worte »Wein«

gemäß seiner weltoffenen Einstellung.

und »Australien« zusammen hören. Das ist jedoch nur

Und es stört ihn überhaupt nicht, dass einer der

eine Seite der australischen Weinbranche und weit ent-

Gründe dafür, dass Riesling hier so gut funktioniert, in

fernt vom kompromisslos trockenen und eigenständigen

der einfachen Tatsache begründet ist, dass seine erfri-

Geschmack der besten Rieslinge.

schende Art – diese strahlenden Aromen und diese leb-

Ich schwamm eher zurück in mein Hotel, als dass ich

hafte Säure – wie maßgeschneidert ist für Australiens

lief, wo ich mich plötzlich an eine weitere Zeile aus der

warmes und meist trockenes Klima. Das ist natürlich ein

Weinkarte im Love, Tilly Devine erinnerte.

Selbstläufer, aber ich persönlich empfehle Riesling auch dann, wenn es in Sydney regnet, denn dann braucht man reife Rieslingaromen, um einen davon zu überzeugen,

Es gibt mehrere unbestätigte Berichte, dass Riesling die unheilbaren Kranken genesen ließ.

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K AP I T EL  6 KAPITEL 6:

RIESLING-ABENTEUER NR. 4: DIE DONAU UND IHRE NEBENFLÜSSE

DIE WACHAU, LAND DER MONSTER-RIESLINGE? Zuerst mal ein bisschen Grund-Orientie-

geistiger Lokalpolitik bestimmt wurden. Man

rung. In Gegensatz zu den deutschen Rieslin-

muss diese Dinge vergessen und sich auf die

gen haben die österreichischen den beträcht-

Weintypen konzentrieren, um die trockenen

lichen Vorteil bei der Vermarktung, dass sie

österreichischen Rieslinge zu verstehen. Sie

so gut wie grundsätzlich trocken sind, und nur

sind oft ebenso imposant wie die terrassierten

gelegentlich halbtrocken oder süßer. Sie sind

Weinbergshänge in der Wachau, dem schma-

daher ganz offensichtlich Weine zum herz­

len Abschnitt des Donautals zwischen Krems-

haften Essen und gehören ganz eindeutig nicht

Stein und Melk, oder den Tälern der Krems, der

in die ­Aperitif-Ecke, in die viele Konsumenten

Kamp und der Trais, nach denen die Regionen

den Riesling nach wie vor verbannen. Leider

Kremstal, Kamptal und Traisental benannt sind.

ist das das Einzige an ihm, das sich als Selbst­

Wie Franz Hirtzberger vom gleichnamigen

läufer ­bezeichnen ließe.

Weingut in Spitz, Wachau, Vorsitzender der

Die Geographie der Donau und ihrer Neben-

Winzervereinigung Vinea Wachau und einer

flüsse ist hingegen wirklich verwirrend, und es

der Stars dieser Story, einmal sagte, sparen

ist ein Glücksfall, dass so viele dieser Weinland-

die Winzer der WACHAU durch diese Ter-

schaften so wunderschön sind. Das Problem ist,

rassen jedes Jahr Millionen an Werbekosten.

dass die Grenzen etwa zwischen der berühmten

Riesling fühlt auf den kargen sandigsteinigen

Wachau und dem unmittelbar östlich angren-

Urgesteinsböden (zur Geologie siehe Grundla-

zenden Kremstal wenig mit dem Geschmack

genforschung: Die Wahrheit über ›­Urgestein‹,

der Weine zu tun haben und häufig von klein-

eigentlich wohler als der Grüne Veltliner.

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»Der wächst wie Unkraut«, bemerkte ein ­Wachauer Spitzenwinzer irgendwann zum Thema Grünen ­Veltliner – den sie in den USA liebevoll »­Grooner« nennen –, und die Sorte bevorzugt daher Böden, die weit mehr Wasser und Nährstoffe speichern als diese Terrassen, auf denen er sich widerstrebend mit für ihn

von 1985 (siehe »Grundlagenforschung: Weinskandale alt und neu«, hatte auch nicht gerade geholfen, obgleich die Wachau nicht darin verwickelt war; aus Japan oder den USA gesehen war es ein österreichischer Skandal. Unter den vielen, vielen talentierten und umsichtigen Winzern, die ich damals kennenlernte, stachen vier Wachauer hervor. Sie bekamen später in der heimischen Weinszene den Spitznamen Wachauer Quartett, aus gutem Grund, denn während der 1990er waren ihre trockenen Rieslinge eindeutig die besten Österreichs

rauen Bedingungen abfindet.

R

internationales Imageproblem hatten. Der Glykolskandal

und gehörten zur Weltspitze. Sie waren außerdem gute Freunde. Ich war in dieser Zeit häufig in der Wachau

iesling steht immer noch weithin im Ruf eines

und verbrachte viele Abende mit den vieren; Franz Hirtz­-

süßen und leichtgewichtigen Weins. An den tro-

berger, Emmerich Knoll, Franz Xaver Pichler von den

ckenen Rieslingen aus der Wachau ist jedoch überhaupt

gleichnamigen Betrieben und Toni Bodenstein vom

gar nichts Leichtes! 12 bis 13,5 % Alkohol sind die Norm,

Weingut Prager. Es war aufregend, ihren Aufstieg von

und bis zu 14,5 % sind in wärmeren Jahren möglich (durch

diesem Logenplatz aus zu verfolgen und die internen

das Austrocknen der Trauben und/oder Edelfäule). Diese

Zusammenhänge direkt von ihnen zu erfahren. Heute

Rieslinge sind immer reifer und cremiger als jene vom

werden sie im In- und Ausland anerkannt und verehrt.

Rhein und seinen Nebenflüssen weiter nördlich. Tatsa-

Noch viel interessanter sind aber die Richtungsänderun-

che ist, dass die österreichischen Spitzenrieslinge – Sma-

gen, die in der Wachau während der letzten 15 Jahre zu

ragd in der Wachau, in anderen Gebiete die jeweilige

beobachten waren.

DAC Reserve – die kräftigsten und reichhaltigsten tro-

Dies ist einer der ersten Orte auf Planet Riesling, an

ckenen Weine auf Planet Riesling sind, mit üppigen Pfir-

dem die Klimaveränderung für die Rebsorte negative

sich-, Aprikosen- und exotischen Fruchtaromen sowie

Auswirkungen hat; höhere Temperaturen und ein frü-

Blütenhonig, dicht und komplex am Gaumen und zurück-

herer Frühlingsanfang führen dazu, dass die Trauben

haltender Säure. Derart kraftvolle Rieslinge gehören seit

früher reifen, also unter wärmeren Bedingungen als

langem zur Wachau. Bis vor kurzem konnten sie jedoch

einst üblich. Die Donau ist breit hier, und das bedeutet

nur in den besten Jahrgängen erzeugt werden. Durch

hohe Luftfeuchtigkeit, was in Verbindung mit warmem

Klimawechsel und Weinbergsbewässerung sind sie bei-

Herbstwetter wiederum Edelfäule auf den Trauben begünstigt. Wenn es eine bedeutende heimische oder

nahe zur Norm geworden. Vor einem Vierteljahrhundert, als ich 1988 kurz nach

internationale Nachfrage für süße österreichische Ries-

der Lese erstmals in die Wachau kam, und auf den steini-

linge gäbe, könnte das ein echter Vorteil sein, da sich

gen Berggipfeln an der Donau eine dünne Schneeschicht

große Mengen hochwertiger süßer Rieslinge erzeugen

lag wie Puderzucker auf einem Stück Apfelstrudel, dachte

ließen. Doch durch die Herausstellung der trockenen

dort niemand an Klimaveränderung. Damals waren die

Weine waren diese Veränderungen alles andere als ideal,

Winzer des Gebiets noch ganz damit beschäftigt, bes-

und sie zwangen die Winzer, sich an die neue Situation

sere Weine zu machen – 1984 und ’87 waren schwache

anzupassen. Das taten sie auf unterschiedliche Weise.

Jahrgänge – und ihnen mehr Anerkennung zu verschaf-

Ab Ende der 1990er waren die Auswirkungen der

fen, weil sowohl Riesling als auch Grüner Veltliner ein

Klimaveränderung immer deutlicher zu erkennen, und

110


­niemand begegnete der neuen Situation aufgeschlossener

Glyzerin, wodurch die Weine fetter schmecken. Dazu

als Franz Hirtzberger und sein Sohn Franzi, der bereits in

kommen die an getrocknete Früchte und Honig erinnern-

die überdimensionalen Fußstapfen seines Vaters tritt. Ihr

den Aromen, die Süße ohne deren tatsächliches Vorhan-

berühmtester trockener Riesling Smaragd stammt von

densein suggerieren.

den Terrassen der Lage Singerriedel, die steil hinter ihrem

Um diesen Wein zu verstehen, sollte man sich damit

Anwesen aufsteigt. Das goldene Etikett, auf dem in den

beschäftigen, wie Wachau-Monster-Riesling tatsäch-

meisten Jahrgängen 13,5 oder 14 % Alkohol angegeben

lich entsteht. Zuerst einmal definieren die Hirtzbergers

sind, vermittelt nur einen vagen Vorgeschmack auf den

Reife nicht einfach damit, dass die Beeren goldfarben

Wein im Glas und überhaupt nichts davon, wie schwie-

sind und süß schmecken (die allgemeine Definition); sie

rig es für Franz und seine Frau Irmgard viele Jahre lang

möchten, dass sie sich dunkelgoldbraun und/oder edel-

war, diese Lage zu erneuern, die lange Zeit praktisch

faul beinahe schon von selbst von den Stielen lösen! Erst

brachgelegen hatte.

dann werden sie gelesen, die edelfaulen getrennt von

Bevor ich das hier anfing zu schreiben, schenkte

den gesunden, was in manchen Jahren einfach ist und

ich mir ein Glas 2011 Singerriedel Riesling Smaragd von

in anderen eine Menge Sortiererei erfordert. Die edelfau-

Franz Hirtzberger ein. »Bouquet« ist ein viel zu dezentes

len Trauben werden so schnell wie möglich, aber auch so

Wort für die überwältigend intensiven Aromen, die aus

schonend wie möglich abgepresst, um die verbleibenden

dem Glas strömten und eher Wortbilder wie »Lawine«,

frischen Fruchtaromen zu erhalten und keine Bitterstoffe

»Tsunami« oder »Ausbruch« nahelegten. Blütenhonig,

zu extrahieren. Das heißt, dass die ganzen Trauben sofort

getrocknete Mango, kandierte Orangen und Marzipan

auf die Kelter kommen, ohne vorher angequetscht zu

roch ich, und ich gehöre normalerweise nicht zu den

werden (Fachbegriff: Ganztraubenpressung). Die gesun-

Weinleuten, die solche Aromalisten herunterrattern.

den Trauben werden »traditionell« verarbeitet, also ange-

Dann nahm ich einen Schluck und taumelte förmlich auf

quetscht, über Nacht zum Mazerieren stehen gelassen

meinem Stuhl, weil mich die Intensität und Üppigkeit der

(Fachbegriff: Maischestand) und dann gekeltert. Wenn

Aromen wie ein Faustschlag traf, und der essenzartige

der Most aus den edelfaulen Trauben sauber schmeckt,

Nachhall war atemberaubend im wortwörtlichen Sinne.

werden die zwei Mostpartien zusammengelegt (manch-

Doch schon vom ersten Moment an fragte ich mich, ob

mal kann Most aus edelfaulen Trauben stark nach Schim-

es nicht alles zu viel war, ob der Wein sich nicht ernst-

melpilzen schmecken, also unsauber). Das ist die vielko-

haft mit beträchtlichem Übergepäck abplagte. Konnte

pierte »Hirtzberger-Methode«.

man davon ein ganzes Glas trinken? Die Antwort auf

Die Gärung findet bei den Hirtzbergers in Edelstahl-

diese Frage sagt alles: Wenn man trockene Weine mag,

tanks statt, danach wird der junge Wein ziemlich bald

die wie Dessertweine ohne die Süße schmecken, dann

von der Hefe getrennt. Die ersten Edelstahltanks wurden

wahrscheinlich schon. Sicher, 2011 war ein besonders

in ihren Kellern am Tag meines ersten Besuchs 1988 auf-

reifer Jahrgang, und nach ein paar Jahren auf der Fla-

gestellt. Franz ist schon immer ein Verfechter neuer Ideen

sche verlieren diese Weine ihren offensichtlichen Baby-

und Methoden gewesen, obgleich diese nur übernommen

speck, aber wurde hier nicht zugunsten von Reife und

werden, wenn sie mit dem Grundprinzip vereinbar sind,

Konzentration die Balance geopfert? Wie auch immer, es

dass der vorsichtige Umgang mit reifen Trauben und

ist ein massiver Wein und weit üppiger als Franz’ Singer-

minimale Eingriffe den besten Wein ergeben. Zweifellos

riedel von Ende der 1980er und den meisten Jahrgängen

wirkte sich die Einführung von Edelstahltanks im Gebiet

der 1990er. Warum? Edelfäule hat sowohl den Zucker- als

positiv auf die leichteren Weine der Kategorien ­Steinfeder

auch den natürlichen Glyzeringehalt der Trauben erhöht,

(maximal 11,5 % Alkohol) und Federspiel aus (maximal

was zu mehr Alkohol im Wein führt und auch zu mehr

12,5 %). Die Hirtzbergers e­ rzeugen Riesling ­ausschließlich

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130


K AP I T EL  7 KAPITEL 7

RIESLING-ABENTEUER NR. 5:

DIE TÄLER DES RHEINS UND SEINER NEBENFLÜSSE

DIE TÄLER TIEF UND DIE BERGE SO HOCH Riesling, und vor allem deutscher Riesling,

gelegentlich und nicht zu Unrecht als Deutsch-

hat lange darunter gelitten, als altmodisch zu

lands Grand Canyon bezeichnet, obgleich es

gelten. Es kann schwierig sein, der Vergan-

hier grüner aussieht und alles ein bisschen

genheit zu entrinnen, weil der Blick in unse-

kleiner ist als am richtigen Grand Canyon des

ren geistigen Rückspiegel so viel beruhigen-

Colorado River in den USA. Nach Beendigung

der scheint als durch die Windschutzscheibe

der napoleonischen Kriege war es viel einfa-

nach vorn. Deshalb klebt das Image des deut-

cher, durch Europa zu reisen, zumindest für die

schen Weins in der englischsprachigen Welt

Reichen, und Dichter und Maler »entdeckten«

hartnäckig an süßen Weinen vom Rhein und

diese Landschaft. Dies ist der Rhein der Roman-

den gleichermaßen engen und gewundenen

tiker, was bei den Dichtern bedeutet, dass Lie-

Tälern seiner Nebenflüsse, vor allem der Mosel,

bende schlechte Karten haben: Wir sind in der

deren steile Hänge vom Schiefer geprägt und

Heimat der Lorelei-Sage, in der es schließlich

mit Felsen und Burgen übersät sind. Selbstver-

nur darum geht, dass Verführungskünste zum

ständlich hat dieses Bild seine Reize.

Untergang führen können. Dann begann vor

Es gibt andere Gründe, warum es sich so tief

etwa 150 Jahren, zu Beginn des goldenen Zeital-

ins allgemeine westliche Bewusstsein eingegra-

ters des deutschen Rieslings, die Weinbranche

ben hat, dass es den Blick auf die heutige Rea-

die Rhein-Romantik in Worten und Bilder für

lität versperrt. Der enge und felsige Abschnitt

sich zu nutzen. Zeitgleich entdeckte eine brei-

des Rheintals zwischen Bingen und Bonn wird

tere Schicht in Europa mithilfe von Eisenbahn

131


und Dampfschifffahrt die Freuden des Reisens. Der romantische Rhein wurde zum TouristenHit und die Weinbranche lancierte erstmals ein bis heute erfolgreiches Marketing-Konzept: »Die malerischen Weinberge anschauen, den Wein in den Tälern trinken, in denen er wächst, dann ihn zuhause wieder kaufen.« Weintäler von der Donau bis zu Napa kopierten diese durch und durch moderne Formel gegen Ende des 19. Jahrhunderts; so entstand die moderne

der Verdienst der Jungwinzer, ein Wort, das weit mehr als seine wörtliche Bedeutung in sich birgt und Talent, Kreativität und Coolness beinhaltet. Ein Beispiel: Kurz bevor die deutsche Ausgabe der amerikanischen Zeitschrift Vanity Fair aufgrund der Finanzkrise eingestellt wurde, hatte die Redaktion eine Modestrecke mit mehreren Jungwinzern geplant! Sie werden gelegentlich auch als »Generation Riesling« bezeichnet, weil sie allesamt so begeistert sind von den endlosen Möglichkeiten des Rieslings. Was dieser Begriff jedoch nicht vermittelt, ist die Art, wie sie zur gegenseitigen Unterstützung und konstruktiven Kritik häufig Gruppen bilden und Netzwerke aufbauen (von denen eins tatsächlich »Generation Riesling« heißt). Der allgemeine Tenor lautet: »Wir sind stärker, als ich es je sein könnte!«

Weinwelt.

A

Es ist das absolute Gegenteil des tiefen Misstrauens, das die Winzergeneration ihrer Eltern gegenüber ihren

ls ich ab Anfang der 1980er den romantischen

Kollegen zutage legte, die selten Ideen oder Information

Rhein als Weintourist bereiste, war der größte

austauschten und nie zusammen ihre Weine verkoste-

Teil davon bereits verwässert und zu gruseligem Kitsch

ten, wie es die Jungwinzer regelmäßig tun. Das hat ihnen

geworden. Selbst wenn der Wein angeblich viel »besser«

ermöglicht, die Qualität extrem schnell hochzuschrau-

als Billigmarken wie Liebfraumilch und Goldener Oktober

ben. Der Mangel an Offenheit hat die Elterngeneration

war, begeisterte er mich doch nur selten. Ich besuchte all

gehemmt und die meisten von ihnen gezwungen, große

die berühmten Wein-Schlösser, und gelegentlich waren

Mengen charakterloser Weine zu erzeugen und (mit sehr

die Weine gut, wenn auch nicht aufregend, während

wenig Gewinn pro Liter) als Fassware an große Unterneh-

ich mich in anderen Fällen fragte, warum ich über-

men zu verkaufen, die sie zu Liebfraumilch verschnitten.

haupt gekommen war. Doch dann, ziemlich plötzlich,

Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Weine

kurz nach der Jahrhundertwende, gab es ein Erdbeben.

dieser Winzer, die nie miteinander redeten, alle zusam-

Das Rheintal ist keine erdbebengefährdete Zone, aber es

men in Riesentanks landeten; die dunkle Seite der Lieb-

fanden derart grundlegende Veränderungen statt, und

fraumilch, über die nie gesprochen wurde und immer

ich brauchte einige Jahre, um alles richtig zu begreifen.

noch nicht gesprochen wird.

Heute ist die Dynamik der Weinbranche in den Tälern

Die allgemeine Wahrnehmung dieser Entwicklun-

des Rheins und seiner Nebenflüsse das totale Gegenteil zu

gen im Ausland hinkt aufgrund der Rückspiegel-Mentali-

der enttäuschenden und manchmal deprimierenden Situ-

tät bestimmter Weinimporteure oft weit hinter der neuen

ation von 30 Jahren zuvor, und mir scheint, wir erleben

Wirklichkeit her. Lückenhafte Kenntnisse der Deutsch-

ein zweites goldenes Zeitalter des deutschen Rieslings.

landkarte sorgen zusätzlich für Verwirrung. Der roman-

Ganze Gebiete, die noch vor 15 Jahren orientierungslos

tische, enge Abschnitt des Rheins wird häufig für den

stagnierten, verzeichnen plötzlich enorme Fortschritte

Rheingau gehalten, mit Abstand das bekannteste der

in Qualität, Image und Verkaufszahlen auf dem heimi-

Anbaugebiete am Rhein. Eigentlich handelt es sich dabei

schen Markt (siehe »Rheinhessen: Willkommen in der

aber um den MITTELRHEIN, der mit 459 Hektar zu den

Traumfabrik des trockenen deutschen Weins!«, Dies ist

kleinsten und unbekanntesten der deutschen Anbauge-

132


biete gehört. Und in diesem UNESCO Weltkulturerbe

er zwang seine Weine auch nicht zur Knochentrocken-

müssen wir anfangen, die Heimat des Rieslings zu erfor-

heit, wie manche von ihnen. Randolf ist heute viel zu alt, um als Jungwin-

schen, am Ursprung des Rheinwein-Mythos. Wie erweckt man einen Mythos zu neuem Leben, der

zer bezeichnet zu werden, aber was er damals tat – ein

so ausgeschlachtet worden ist, dass er vollkommen fertig

Start-Up gründen, bevor es diesen Begriff überhaupt

ist, eigentlich ein Zombie? Das erfordert Mut. Dr. Randolf

gab, mutige Weine machen, statt sich den etablierten

Kauer, Professor an der Fachhochschule für Weinbau in

Normen anzupassen, eine trockene Stilistik anstreben,

Geisenheim, Rheingau, ist der unwahrscheinliche Held

klein anfangen und zum Kult werden – schlug eine

dieses Rhein-Märchens. Es begann, als er Anfang der

Schneise, die vielen anderen jüngeren Jungwinzern die

1980er mit einer Gruppe von Freunden kleine Mengen

Richtung wies. Als ich ihn Anfang der 1990er kennen-

Wein als Hobby machte. Das Mini-Weingut in Bacha-

lernte, schmeckten Randolfs beste Weine so dramatisch

rach war von Anfang an ein Ökobetrieb, von denen es

wie der deutsche Grand Canyon. Seitdem sind sie noch

in ganz Deutschland damals lediglich zwei Dutzend gab,

kompromissloser geworden im Charakter, mit Kräuter,

verglichen mit 7,5 % aller Weinberge heutzutage. Damals

Zitronen- und Beerenaromen und ausgeprägt minerali-

betrachteten konventionelle Winzer die Ökos häufig als

scher Säure. Inzwischen gab es auch die Möglichkeit, das

gefährliche Alternative, und es stimmt, dass manche von

Weingut in ein beeindruckendes historisches Gebäude

ihnen tatsächlich gefährlich alternativ aussahen und

am Ortsrand zu verlegen und die Rebfläche auf 3,6 Hektar

redeten. Randolf gehörte nicht zu diesen Fanatikern, und

auszudehnen.

133


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Riesling ist ein globaler Kult geworden: Weinautor ­Stuart Pigott folgt in diesem Buch den Spuren der ­großen weißen Rebsorte quer durch alle großen ­Riesling-Anbaugebiete der Welt – von Nordamerika und Kalifornien nach Australien, Neuseeland und Südamerika bis nach Ungarn, nach Norditalien und vor ­allem auch nach Deutschland. Er besucht die welt­ besten Riesling-Winzer und erzählt von Begegnungen mit Sommeliers und anderen Liebhabern der wunderbar vielfältigen Sorte. Nebenbei stellt er verblüffende ­Zahlen und Fakten rund um diese großartige Sorte vor, berichtet von eindrucksvollen Weinen, beein­ druckenden Geschmackserlebnissen und besonderen Momenten. Ein Buch für alle, die nicht nur gerne Riesling trinken, sondern der Sorte in allen Facetten auf den Grund gehen möchten.

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