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Brücken schlagen SPECIAL EDITION

Brücken schlagen

Die urbane Tanzszene Berlins im Aufbruch

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Die gebürtige Berlinerin Nasrin Torabi ist Gründerin des Battles “Outbox Me”, der regelmäßig in Berlin stattfindet und sich als zentrale Schnittstelle der hiesigen urbanen Tanzszene etablieren konnte. Bei “Outbox Me” sind Tänzer*innen aller Stile willkommen und treten nach der Vorrunde im K.o.-System gegeneinander an. Für Tanz im August 2020 war eine Kooperation mit “Outbox Me” innerhalb des auf drei Jahre angelegten Sonderprojekts “URBAN FEMINISM” geplant, das urbane Choreografinnen aus Berlin fördert und in ihrer künstlerischen Entwicklung begleitet. Hierfür wurden zehn Tänzer*innen und Choreograf*innen aus Berlin eingeladen. Im folgenden Interview ermöglicht Nasrin Torabi uns begleitende Einblicke in die urbane Tanzszene Berlins.

Alina Scheyrer-Lauer: Wie kann man sich als außenstehende Person am besten vorstellen, was die urbane Tanzszene Berlins ist?

Nasrin Torabi: Nur vorab: Ich spreche hier aus persönlicher Erfahrung, nicht aus einem akademischen Kontext oder Ähnlichem. Dazu wohne ich aktuell wegen meines Sozialwissenschaftsstudiums nicht mehr in Berlin und kann nur schildern, was ich davor und bei meinen Besuchen mitbekommen habe.

Die urbane Tanzszene Berlins ist erst einmal eine Subkultur, die sich stark an in den USA entstandenen sozialen Bewegungen orientiert. Sie organisiert sich in freien Trainings, Jams und Battles (lokal bis international), wo man zusammenkommt und in Austausch tritt. Urbaner Tanz lässt sich in verschiedene Stile unterteilen, wie zum Beispiel House, Funk, Hip-Hop, Popping, Krump etc. Oft ist mit den verschiedenen Stilen auch ein bestimmter Lebensstil verbunden, die Identifikation mit einer Musikrichtung, sozialen Einstellungen und eben dem Tänzerischen an sich. Der urbane Tanz ist ein Ventil für Emotionen, eine kreative Austauschfläche, aber auch eine Möglichkeit, fehlende Bestätigung zu erlangen und sich selbst zu verwirklichen.

ASL: Wir alle kennen urbane Tanzbewegungen aus kommerziellen Musikvideos und Filmen. Wie lässt sich die urbane Tanzkultur hiervon abgrenzen und was haben sie gemein? Geht es hier um einen bestimmten Stil?

NT: In der urbanen Tanzszene unterscheidet man zwischen kommerziellen Tänzer*innen und Freestyler*innen, die hauptsächlich improvisieren. Kommerziellen Tanz kennt man aus Videoclips, Filmen oder Konzerten. Oft sind das Choreografien, die sich bei vorhandenen Bewegungen bedienen und die breite Masse begeistern. Die urbane FreestyleSzene grenzt sich davon ab, möchte eben nicht Mainstream sein. Ich persönlich habe oft mitbekommen, dass viele Freestyle-Tänzer*innen Schwierigkeiten haben, ihren Tanz als Konsumgut zu verkaufen. Sie sehen ihn eher als eine Art Ausdrucksform, um sich ohne Worte zu verständigen, und oft bleibt man damit auch unter sich. Das, was man kommerziellen Tanz nennt, ist also nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was urbanen Tanz ausmacht.

ASL: Welche Werte vertritt die urbane Tanzszene?

NT: Das ist schwer zu generalisieren, aber oft genannt werden zum Beispiel folgende: Als Mensch ist erstmal jede*r gleich, man misst sich nach dem tänzerischen Level. Jede*r kann Zugang bekommen. Grundsätzlich richtet sich vieles nach dem tänzerischen Können. Es gibt zum Beispiel einzelne Crews, die sich ihr Ansehen durch hohes tänzerisches Können – zum Beispiel durch das Gewinnen von Battles – erarbeiten. Allgemein ist es eine komplexe Kultur, die man von Grund auf verstehen sollte. Dazu muss man sich die einzelnen Entstehungsgeschichten anschauen, denn jeder Stil hat auch seinen eigenen historischen Hintergrund, und die Bezeichnung ‘urbaner Tanz’ ist lediglich eine Zuschreibung aus heutiger Sicht. Häufig ist der Ursprung eine soziale Bewegung, die ihren Lebensstil durch das Tanzen ausgedrückt hat. Im Fokus stehen die Werte Gemeinschaft, Zusammenhalt, Rückhalt und Austausch sowie künstlerischer Ausdruck. Für viele Tänzer*innen ist deren Crew eine Art Ersatzfamilie.

ASL: Wie kam es zur Gründung von “Outbox Me”?

NT: Das erste “Outbox Me” fand im Februar 2015 statt, als Abschlussprojekt meiner Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau. Ich persönlich habe mich in vielen Bereichen bewegt. Hauptsächlich waren das urbaner und moderner Tanz, aber auch Tricking, Akrobatik und Kampfkunst. Wenn man es einfach runterbricht, ist Tanz Bewegung zur Musik – die Art wie man Musik körperlich ausdrückt. Das kann unglaublich viele Formen haben. “ Outbox Me” ist deshalb aus meinem Wunsch entstanden, den Tanz und die Battle-Kultur wieder offener und zugänglicher für Künstler*innen jeder Art zu machen und einen breiten Austausch zu schaffen.

ASL: Was braucht man, um ein Battle zu gewinnen?

NT: Ganz objektiv gesehen eigentlich tänzerisches Können, gute Musikkenntnisse und eine bestimmte Art von Ausstrahlung. Neue innovative ‘moves’, die auf die Musik abgestimmt sind und die Leute mitreißen sind auch von Vorteil. Jede Kategorie und jeder urbane Stil hat da ihre eigenen Regeln und Muster, in denen man sich bewegen sollte. Es wird aber in der Battle-Szene auch oft von ‘Politik‘ gesprochen. Das bedeutet, dass jemand Vorteile durch bestimmte ‘connections’ hat. Zum Beispiel, wenn

Ellen Wolf © Pao Paniq | Shuto Crew

man eines der Jurymitglieder gut kennt oder die Crew, in der man tanzt, ein hohes Ansehen hat. Es gehen also manchmal Leute unter, die tänzerisch sehr stark sind, jedoch vorher noch nie aufgefallen sind oder keiner Crew angehören.

AS: Welchen Stellenwert hat die Musik in der Battle-Kultur?

NT: Einen sehr hohen. Die Musik ist der Nährboden der Tänzer*innen. Sie ziehen ihre Inspiration daraus und verkörpern das Gehörte. Oft studieren Tänzer*innen ein Beat von vorne bis hinten und lernen ihn schon fast auswendig, sodass sie auf jedes Element in der Musik reagieren können. Auch die Texte der Lieder stellen oft eine Inspirationsquelle dar.

AS: Spielen Geschlechterrollen in der urbanen Tanzszene Berlins eine große Rolle?

NT: Im Allgemeinen würde ich das schon sagen. In der Hip-Hop-Szene in Deutschland dominieren vor allem die Männer und auch die ‘männliche’ Art zu Tanzen. Dazu gehören beispielsweise Gesten und Bewegungen, die oft bei Männern gesehen werden. Juror*innen, Veranstalter*innen und Gewinner*innen von Events sind größtenteils Männer. Es wird Zeit, mehr Raum zu schaffen.

AS: Gibt es viele Frauen* in der urbanen Tanzszene Berlins?

Die große Herausforderung ist es, alle Teile der Szene zu vereinen und gemeinsam etwas zu schaffen.

NT: Es gibt viele junge Frauen* und Mädchen, die leidenschaftlich gern tanzen. Oft sind sie aber leider abgeschreckt oder schüchtern – der Zugang fällt ihnen schwer. Meine Erfahrung ist auch, dass hinter verschlossenen Türen, also in Tanzschulen zum Beispiel, oft mehr Frauen in den Kursen stehen als Männer. In der Öffentlichkeit allerdings sind mehr Tänzer repräsentiert.

AS: Welchen Herausforderungen muss sich die urbane Tanzszene Berlins stellen?

NT: Die urbane Tanzszene Berlins hat in den letzten Jahren einen riesen Sprung gemacht. Viele Tänzer*innen haben ihre Stimme erhoben und gemeinsam versucht, an etwas zu arbeiten. Ich denke, es bedarf noch mehr Dialog, um wirklich herauszufinden, worum es den Tänzer*innen geht. Das Gemeinschaftsdenken muss mehr gestärkt werden und alle sollten mit einbezogen werden. Die Reinickendorfer gehören genauso zur Szene wie die Leute, die in Neukölln trainieren. Die große Herausforderung ist es, alle Teile der Szene zu vereinen und gemeinsam etwas zu schaffen. Wir sollten uns allgemein von dem Konkurrenzdenken entfernen, das sich allgemein in der europäischen urbanen Tanzkultur durchgesetzt hat. Wir müssen uns erinnern, dass die Wurzeln des urbanen Tanzes in sozialen Bewegungen marginalisierter Minderhei - ten liegen, dass sie aus einem Bedürfnis nach Zusammenhalt und Gemeinschaft entstanden sind. T

URBAN FEMINISM | Shuto Crew Meet the Artist URBAN FEMINISM | Film 27.8., 20:00 I 3min | Online > Im Anschluss Artist Talk