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Die Grube

TEXT LUBNA ABOU KHEIR

Sprachschule gelernt?» Sie: «Ja.» Ich: «In der Schule unterrichtet euch die Macht?»

Sie: «Wir haben keine Macht.»

Ich: «Ja, darum beschäftigen Sie sich mit ‹Sie› und ‹Du›.»

Sie: «Verstehst du Macht?»

Ich: «Ich habe gehört, dass die Eltern Macht haben über ihre Kinder.»

Sie: «Ja. Sie zwingen die Kinder, sich an Routinen zu gewöhnen.»

Ich: «Ja, das ist Macht ohne Wissen.»

Sie: «Ja, das ist Macht ohne Verstehen.»

Ich: «Routine ist Macht.»

Sie: «Routine ist Freiheit.»

Ich: «Das Wort ‹Du› hat keine Macht, ‹Sie› hat vielleicht mehr Macht.»

Sie: «Macht braucht irgendwie Dummheit.»

Ich: «Dummheit lehrt man sie auch in der Schule?»

Sie: «Oder vielleicht ist sie ein Talent, der Mensch bekommt sie einfach so bei der Geburt mit.»

Ich: «Damit die anderen die Kontrolle behalten können, müssen wir blöd sein.»

Sie: «Oder wir werden dazu gemacht.»

Ich: «Wenn ich spiele, finde ich, dass es einfacher ist, meine Soldaten spielen meine Geschichte, die ich für sie erfinde, das braucht keine Intelligenz.» Sie: «Aber dein Gehirn ist noch jung, du kannst es mit Intelligenz füllen.» Ich: «Wie? Wird das in der Schule unterrichtet?» Sie: «Nein.» Ich: «Plastiksoldaten zu kontrollieren braucht kein Denken.» Sie: «Deine Spielzeuge, meinst du?» Ich: «Ja. Ich habe auch ein kleines goldiges Mädchen und einen Buben.» Sie: «Warum?» Ich: «Geschenk vom Spatz. Er war weiblich, ein weiblicher Spatz.» Sie: «Sind sie ein Liebespaar?» Ich: «Wahrscheinlich! Vielleicht sind sie rein zufällig in derselben Musikkiste.» Sie: «Liebe ist auch Zufall.» Ich: «Wie ist die Liebe?» Sie: «Wenn du irgendwo hingehst und alleine zurückkommst, ohne dein Herz.» Ich: «Mein Herz wird dort hängenbleiben?» Sie: «Meines ist dort hängengeblieben.» Ich: «Herzen hängen oder bleiben immer irgendwo.»

Sie: «Warum?» Ich: «Hmmm … vielleicht wegen des Schaukelns. Die Liebe kommt mit der Schaukel, der Körper schwingt zurück, aber das Herz bleibt hängen, neben dem Mond.» Sie: «Neben jemandem.» Ich:

«Ich weiss nicht … Ich weiss nur, dass der Körper ohne Herz zurückkommt.» Sie: «Vielleicht hat unser Herz Mondkrater.»

Ich: «Mag sein.» Ich: «Öffne die Flasche für mich.» Sie öffnet sie. Sie: «Wie hoch kannst du schaukeln?» Ich: «Kommt darauf an, wer angibt.» Sie: «Oder wie weit du kommen möchtest.» Ich: «Ich habe kein Ziel, ich gucke bloss einen Punkt an und stelle mir vor, dass ich ihn erreichen kann.» Sie: «Einen Krater im Mond?» Ich: «Nein … ein Licht.»

Sie: «Meinst du einen Stern?» Ich: «Nein, einfach Licht. Erwachsene haben immer für alles einen Namen. Licht ist Licht, das kann ein Stern sein oder ein Loch oder ein Mensch.» Sie: «Licht scheint in der Dunkelheit.» Ich: «Licht scheint auch im Licht, unter dem Sonnenlicht gibt es leuchtende Dinge, und es gibt noch leuchtendere Dinge, wenn ich schaukle. Ich gucke die Punkte an, die am meisten leuchten.» Sie: «Kommt darauf an, wie weit weg sie sind.»

Ich: «Entfernungen interessieren mich nicht, ich verstehe sie nicht.»

Sie: «Aber sie sind manchmal wichtig.»

Ich: «Sie sind oft gut.»

Sie: «Sie bedeuten Sicherheit zwischen Menschen.»

Ich: «Sie spielen keine Rolle für die Sicherheit.» Sie: «Doch, irgendwie spielen sie eine Rolle.» Ich: «Wenn du deine Privatsphäre nicht mit den anderen teilen möchtest.» Sie: «Hast du das ausprobiert?» Ich: «Wenn ich meine Spielzeuge an einem Ort stehen lasse und mit Abstand draufgucke, finde ich das Bild sehr komisch.» Sie: «Genauso ist es mit der Privatsphäre, findest du?» Ich: «Entfernungen finde ich gut, um seine Probleme und Ideen in Distanz zu anderen lassen zu können.»

Sie: «Die Geheimnisse durch Distanz beschützen.»

Ich: «Das ist das Gegenteil von deinem Zustand jetzt.»

Sie: «Du hast nicht ‹Sie› gesagt.»

Ich: «Ich brauche Hilfe.»

Sie: «Trink einfach.»

Ich: «Die Wasserflasche war die Distanz.»

Sie: «Hast du sie weggeworfen?»

Ich: «Nein, sie ist die Distanz zwischen uns.»

Sie: «Aber du wirst sie irgendwann wegwerfen.»

Ich: «Es gibt immer etwas, das wir weg­ werfen müssen.»

Sie: «Wie diese Flasche.»

Ich: «Aber wenn sie leer ist, nicht solange es noch Wasser drin hat.»

Sie: «So sind die Menschen.»

Ich: «So bist du.»

Sie: «Es gibt immer etwas von der menschlichen Natur, das wir wegwerfen müssen. Aber wir verzichten nicht auf die Menschen.»

Ich: «Aber das ist nicht für alle möglich.»

Sie: «Leider stimmt das, es ist eher möglich für die Reichen.»

Ich: «Sie können sich einfacher entfernen, sich distanzieren, Dinge wegwerfen.»

Sie schweigt.

Ich: «Mögen Erwachsene Farben?»

Sie: «Mögen sie, ja. Aber für sie machen sie keinen Sinn, sie haben keine Bedeutung.»

Ich: «Sehen sie alle Farben wie Wasser?»

Sie: «Wasser hat keine Farbe.»

Ich: «Aber Wasser kann Farbe haben, wenn es will.»

Sie: «Es kann Farbe annehmen.» euer Verhalten ist nicht sauber, denn das Wasser ist nicht trinkbar.»

Sie: «Findest du Wasser nicht blau?»

Ich: «Nein, das Wasser hat diese Farbe der Natur gestohlen.» Stille.

Sie: «Die Quelle hier ist sauber und das Wasser trinkbar, die Quelle dort ist nicht sauber.»

Ich: «Jede Quelle hat trinkbares Wasser, jeder Brunnen, aber nicht überall. Woher kommst du?»

Sie: «Von der rechten Seite, und du?»

Ich: «Auch von der rechten Seite.»

Sie: «Es ist seltsam, dass wir uns nicht getroffen haben!»

Ich: «Wo hätten wir uns treffen sollen?»

Sie: «Unterwegs?»

Ich: «Ich war nicht unterwegs, ich war überwegs.»

Sie: «Kamst du zu Fuss hierher?»

Ich: «Ich kam durch die Erinnerung von der rechten Seite!»

Sie: «Vielleicht durch die Farbe?»

Sie: «‹Gesehen …› Wir sehen die Farbe.»

Ich: «Ich berühre die Farben. Rot ist immer dick und langsam, aber Blau leicht und fliessend.»

Sie: «Ich stand irgendwo an einem Loch, ich sah, wie jemand reingeht. Ich berührte die Menschen neben mir, aber ich habe nicht allzu viel gesehen.»

Ich: «Ja, berühren ist wahrer als sehen.»

Sie: «Wie schön ist das?»

Ich: «Wir können auch die Schönheit berühren.»

Stille.

Wir stehen jetzt an einem Fenster, sie ist nicht mehr da, plötzlich werden ihre Haare grau, sie kann nicht mehr lange stehen, ich bleibe klein, ich bleibe ein Bub, ich will durch diese Erinnerung zurückkehren, ich weiss nicht, wohin, aber die Farben sind nicht mehr da, die Luft, das Wasser, die der das … nicht mehr da, wir können hier nicht mehr ertragen.

Ich: «Das Wort ‹Sie› ist für mich einfach zu viel.»

Ich: «Vom Licht?»

Sie: «Von uns.»

Ich: «Erwachsene haben kein Licht.»

Sie: «Vielleicht von den Kindern.»

Ich: «Wasser spiegelt in seiner Farbe wider, wer wir sind. Die Quellen hier sind sauber und das Wasser trinkbar.»

Sie: «Das Wasser spiegelt uns wider, unsere Gesichter, unser …»

Ich: «Euer Verhalten.»

Sie: «Als Menschen.»

Ich: «Als Erwachsene. Nicht als Menschen,

Ich: «Meinst du blaue Farbe?»

Sie: «Ja! Das Blau gibt dem Himmel seine Farbe, und auch dem Meer.»

Ich: «Ja eben! Ich habe doch gleich gesagt, der Himmel hat das Blau gestohlen, und ebenso das Meer. Aber nein, nicht durch die Farbe. Die letzte Sache, an die ich mich erinnere, ist, dass ich auf einem Loch stand, und jemand hat mich gestossen, meine Schultern waren sehr warm, aber ich hatte keine Schmerzen. Da war rote Farbe, ich habe sie berührt.»

Sie: «Ich bin einfach viele.» ANZEIGE

LUBNA ABOU KHEIR , Autorin und Schauspielerin aus Syrien. Sie hat vier Stücke auf Deutsch geschrieben, darunter «Gebrochenes Licht» und «Cheese War» (Theater Neumarkt Zürich). Sie schreibt auch Prosatexte, u.a. im Projekt «Weiter Schreiben Schweiz». Preis als beste Schauspielerin am Amarcort Film Festival Rimini 2022.