8 minute read

Ganz nah dran

Kino Der finnische Spielfilm von Teemu Nikki thematisiert Behinderung nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene, sondern auch konsequent mit formalen Entscheidungen.

TEXT JULIA RÜEGGER

Jaakko führt ein unspektakuläres, gleichförmiges Leben. Wacht er am Morgen auf, rattert erst mal eine weibliche Computerstimme die eingegangenen Anrufe und Nachrichten für ihn herunter, denn Jaakko ist wegen Multipler Sklerose erblindet. Ausserdem sitzt er im Rollstuhl. Sein Bewegungsradius ist äusserst klein und beschränkt sich auf seine – ausgerechnet mit DVDs vollgepackte – Wohnung mit Balkon. Auf diesem sitzt Jaakko allabendlich, während er stillschweigend seiner Nachbarin zuhört, die vom unteren Stockwerk aus über ihn herzieht. Aus der Eintönigkeit und sozialen Isolation holt ihn nur Sirpa (Marjaana Maiyala) heraus, eine Frau, die am anderen Ende Finnlands wohnt und aufgrund einer Vaskulitis-Erkrankung ähnlich eingeschränkt lebt wie Jaakko (Petri Poikolainen). Die beiden telefonieren mehrmals täglich und lauschen zusammen finnischer Popmusik, vor allem aber tauschen sie sich über ihre gemeinsame Leidenschaft für Filme aus. Jaakko hatte sich aus Gründen des Geschmacks standhaft geweigert, sich je auf James Camerons «Titanic» einzulassen, solange er noch sehend war – eine Tatsache, die zwischen Sirpa und ihm längst zum Running Gag geworden ist. (Er ist dafür überzeugter Fan des Horrorfilm-Regisseurs John Carpenter.)

Während die erste halbe Stunde des Spielfilms von Regisseur Teemu Nikki zeigt, wie sich Jaakkos Alltag zwischen Einschränkung und Selbstbestimmung gestaltet (in dem sich der einzige physische Kontakt auf die Besuche der Pflegerin beschränkt), hebt ein plötzlicher Lottogewinn Jaakkos Leben auf einmal aus den Angeln. Hals über Kopf entscheidet er, zur tausend Kilometer entfernt lebenden Sirpa zu reisen, deren gesundheitliche Situation sich zunehmend verschlechtert. Dazu muss er sich lediglich auf die Hilfe von fünf Fremden an fünf Orten verlassen: von zuhause zum Taxi, vom Taxi zum Bahnhof, vom Bahnhof zum Zug, vom Zug zum Taxi und schliesslich vom Taxi zu ihr. Das sollte machbar sein, würde man meinen.

Aus der Perspektive des Blinden

Von dem Moment an, in dem Jaakko die vertraute Umgebung seiner Wohnung verlässt, wird der Film zunehmend zum Krimi. So wird ihm bereits am ersten Bahnhof der Rucksack gestohlen, und später im Zug fängt er mit der falschen Person ein Gespräch an. Anstatt beim Umsteigen von dem jungen Mann die erhoffte Hilfe zu erhalten, stiehlt dieser ihm sein Handy und fährt Jaakko kurzerhand auf ein verlassenes Gelände. Ein zweiter Mann kommt hinzu und Jaakko wird bedroht und misshandelt, damit er den PIN seiner Kreditkarte preisgibt. Dass diese gewaltvolle Szene aussergewöhnlich lang und wie der ganze Film mit viel Ruhe erzählt ist, macht sie umso bedrückender. Auch der Einsatz der Nahaufnahmen schafft eine geradezu körperliche Intensität, der man sich nicht entziehen kann. «Die Welt, die unsere Hauptfigur umgibt, ist unscharf und weich. Sein Gesicht und seine Hände sind die Bühne des Films», sagt Regisseur Nikki in einem Interview. Es war sein explizites Anliegen, einen Film aus der Perspektive einer blinden Person zu drehen. Diese radikale Einstellung fasziniert, auch wenn die Darstellung des kapuzentragenden, drogenabhängigen Entführers und seines Gangsterbosses sehr klischiert bleibt. Erst in den allerletzten Filmminuten trifft Jaakko, von seinen Peinigern endlich alleingelassen, auf eine freundlich gesinnte Person, die ihn bis vor Sirpas Haustür bringt. Diese Frau ist neben Jaakko selbst die einzige weitere Figur, deren Gesicht erkennbar wird. Logisch, denn sie lässt es ihn «sehen», will heissen: ertasten.

Im Vergleich zu anderen Spielfilmen, die das Leben blinder und sehbehinderter Menschen in den Fokus rücken, überzeugt der Plot von «The Blind Man Who Did Not Want to See Titanic» nur mässig. Im Grunde aber verhandelt der Film das Thema Abhängigkeit versus Selbstbestimmung: Dass die Hauptfigur sich nicht auf ein funktionierendes System verlassen kann, welches Menschen mit Behinderung selbständig durchs Leben kommen lässt, sagt viel über die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die konsequent nah an Jaakkos Gesicht bleibende Kameraführung sowie die Aufmerksamkeit, die der Geräuschkulisse zukommt, macht sehende Personen beim Zuschauen manchmal unruhig, so ungewohnt ist das Fehlen jeglicher Totalen. Damit gelingt dem Film eine wertvolle und auch herausfordernde Seherfahrung und eine wichtige Inspiration für inklusives Filmschaffen. Die Anfangstitel übrigens kommen optisch als Braille-Schrift daher. Und am Schluss steht der Vermerk: «Die Story ist fiktiv, die Krankheit des Hauptdarstellers nicht. Petri Poikolainen ist durch Multiple Sklerose erblindet.»

«The Blind Man Who Did Not Want To See Titanic», Spielfilm, Regie: Teemu Nikki, mit Petri Poikolainen, Marjaana Maiyala u. a., FIN 2021, 82 Min. Läuft ab 13. Juli im Kino.

Alles spricht

Buch Die finnische Autorin Eeva-Liisa Manner öffnet aus der Sicht eines Kindes die Grenzen der Wirklichkeit.

So viele Autor*innen und ihre Werke verschwinden allzu rasch aus den Sortimenten. Die Halbwertszeit von Büchern wird immer kürzer. Das Anliegen des Berliner Guggolz-Verlags ist es, Werke durch Neuübersetzungen oder Neuauflagen wieder zugänglich zu machen. Es ergibt sich so manche Entdeckung. Eine davon ist die finnische Autorin und Übersetzerin Eeva-Liisa Manner (1921–1995), die 1944 mit einem Gedichtband debütierte. Obwohl vielfach ausgezeichnet, ist sie im deutschsprachigen Raum kaum bekannt.

Nun ist ihr erster Roman «Das Mädchen auf der Himmelsbrücke» von 1951 bei Guggolz erstmals auf Deutsch erschienen. Die Übersetzung von Maximilian Murmann zieht in Bann und macht die poetische Kraft des finnischen Originals spürbar. Eeva-Liisa Manner erzählt von der neunjährigen Leena, die weder ihre Mutter noch ihren Vater kennt und deshalb – wie die Autorin selbst – bei ihrer streng religiösen Grossmutter aufwächst. Weil Leena langsam ist und Regeln nicht versteht, ist sie eine Aussenseiterin in der Schule, in der die Mädchen «wie kleine Soldaten in Röcken» marschieren. Zudem leidet sie an Fallsucht, einer Krankheit, die die Grossmutter dem trunksüchtigen Vater anlastet. Trotz ihres Schicksals ist Leena nicht unglücklich. Denn sie hat eine besondere Gabe. Eine kindliche Sicht auf die Welt, durch die die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Diesseits und Jenseits fliessend wird. Ihr Denken und Fühlen sind magisch. Alle Dinge werden ihr lebendig. Selbst die Blumen auf den Tapeten, die duften, und die Vögel darauf, die Melodien in Leenas Kopf singen. Alles geht für Leena, die selbst ihre Traurigkeit in Schönheit verwandeln kann, ineinander über. Alles spricht. Die Bäume, das Licht, der Himmel, das Wasser – und die Musik von Bach, die sie in der kleinen Kirche zum ersten Mal hört, dort, wo die schmalste Strasse der Welt zur Himmelsbrücke wird. Die Begegnung mit Bach, mit der Ordensschwester Elisabet, der «Engelmutter», und dem blinden, sarkastisch-philosophischen Organisten Bruder Filemon wird zum Schlüsselerlebnis, bei dem sich Leena zum ersten Mal verstanden fühlt. Und es ist Filemon, der das Credo der Autorin auf den Punkt bringt, wenn er sagt, dass wir in dieser Welt, «in der anstelle einer magischen Ordnung eine logische Unordnung herrscht (…) in der Patsche sitzen». Eeva-Liisa Manner zeigt mit ihrer bildreichen, schwebend-lyrischen Sprache einen möglichen Ausweg aus dieser Patsche. Aus der Sicht eines Kindes, dessen Erfahrungen über die Grenzen der Wirklichkeit hinausgehen.

CHRISTOPHER ZIMMER

Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke. Roman. Guggolz Verlag 2022. CHF 33.90

Veranstaltungen

Bern

«Anekdoten des Schicksals», Ausstellung, Fr, 28. Juli bis So, 7. Jan., Mi bis So, 10 bis 17 Uhr, Di bis 21 Uhr, Kunstmuseum Bern, Hodlerstrasse 8-12. kunstmuseumbern.ch

34. Biennale in São Paulo als auch an der europäischen Biennale Manifesta 14 in Kosovo teil. DIF

Thun

«Reena Saini Kallat  –  Deep Rivers Run Quiet», Ausstellung, bis So, 3. Sept., Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Mi bis 19 Uhr, Kunstmuseum Thun, Thunerhof, Hofstettenstrasse 14. kunstmuseumthun.ch

Klar, die Sammlung eines Kunstmuseums ist eine schier unerschöpfliche Quelle an Geschichten. Und die Idee ist so naheliegend wie überraschend: Texte von namhaften Autor*innen vertiefen in der Sommerausstellung des Kunstmuseums Bern den erzählerischen Aspekt der Werke. Hier begegnen sich also bildende Künstler*innen – etwa Ferdinand Hodler, Albert Anker, Max Buri, Irène Zurkinden, Meret Oppenheim, Alice Bailly, Adolf Wölfli – und zeitgenössische Autor*innen: Eva Maria Leuenberger, Melinda Nadj Abonji, Dorothee Elmiger, Frédéric Zwicker und Friederike Kretzen. Letztere haben Texte verfasst, welche die ausgestellten Werke ergänzen und weiterdenken. Die Texte können gelesen oder per Digital Guide angehört werden. So ist die Ausstellung wie eine Sammlung von Erzählungen aufgebaut. «Das Geschichtenerzählen», schrieb Hannah Arendt einmal, «enthüllt den Sinn, ohne den Fehler zu begehen, ihn zu benennen.» Dabei ist eine Erzählung nicht reine Fantasie, sondern legt übersehene Aspekte der Vergangenheit offen. Oder kann sie gar umgestalten und so neuen Sinn schaffen. Die politische Funktion des Geschichtenerzählens besteht für Arendt darin, andere Perspektiven zu vermitteln. Der Ausstellungstitel übrigens ist der Erzählsammlung «Anecdotes of Destiny» (1958) der dänischen Autorin Isak Dinesen – auch bekannt als Karen Blixen – entnommen. Fast alle ihre Figuren schaffen es, ihre Notlagen durch das Geschichtenerzählen zu überwinden. DIF

St. Gallen

«Haris Epaminonda», Ausstellung, bis So, 14. Jan., Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Kunstmuseum

St. Gallen, Museumstrasse 32. kunstmuseumsg.ch

Zu Haris Epaminondas Werk gehören Collagen wie Skulpturen, Filme, Fotografien – und zunehmend vielschichtige Rauminstallationen. Eigentlich sind es eine Art begehbarer Collagen, zusammengesetzt aus Bildern, Filmen, Fotografien, Skulpturen und vorgefundenen Gegenständen. Mit den Collagen hatte ja auch alles angefangen: Epaminonda (geb. 1980 in Nikosia) verarbeitete zunächst vorwiegend Fotos aus französischen Illustrierten und Büchern der 1940er- bis 1960er-Jahre. Dann begann sie das gefundene Fotomaterial wiederum zu fotografieren, und auch Filmmaterial schickt sie in einen leidenschaftlichen Verarbeitungsprozess, indem sie gern auf Super8 dreht, danach aber digital Filmloops montiert. Seit 2007 arbeitet die Künstlerin gemeinsam mit Daniel Gustav Cramer (geb. 1975 in Neuss) am fortlaufenden Projekt «Infinite Library» – einem stetig wachsenden Archiv von Büchern, die aus den Seiten gefundener Bücher neu gebunden werden. Haris Epaminonda ist ein Name, den man sich merken darf: 2012 war sie an der documenta 13 in Kassel dabei, 2019 erhielt sie an der 58. Biennale von Venedig den Silbernen Löwen als «vielversprechende junge Teilnehmerin der Internationalen Ausstellung» und letztes Jahr nahm sie sowohl an der

Reena Saini Kallat (geb. 1973 in Delhi) zählt zu den wichtigsten indischen Künstler*innen der Gegenwart. Sie beschäftigt sich unter anderem mit nationalen und geografischen Grenzen und fokussiert dabei auf geopolitische Konflikte und deren Auswirkungen. Ihre Arbeiten thematisieren insbesondere Konflikte um Wasser und die menschengemachte Wasserknappheit

Basel

«No Borders Klimacamp», 3. bis 13. Aug., Basel. climatejustice.ch/camp in Grenzgebieten und Kulturlandschaften. Auch Flussläufe sind ein Thema, Grenze und Lebensader zugleich. Hier tritt die Ausstellung in Bern durch die unmittelbare Nähe in Dialog mit der Aare. Zudem zeigt Reena Saini Kallat, welche Konsequenzen die koloniale Geschichte für die Menschen in Grenzregionen hat, gerade in Pakistan und Indien. In Werkgruppen zum Thema Nationalstaat wiederum befasst sie sich mit den teilweise absurden Bedeutungen nationaler Symbole. Kallat untersucht sie am Beispiel miteinander in Konflikt stehender Nationalstaaten, wie Indien und Pakistan oder die USA und Mexiko. DIF

Ein Camp für Klimagerechtigkeit und eine menschenwürdige Migrationspolitik: Ziel ist es, sich zu vernetzen und gemeinsame Perspektiven zu erarbeiten. Es wird auch die Frage diskutiert: Wieso muss in Zusammenhang mit Klima über Migrationspolitik geredet werden? Grundsätzlich geht es wohl ganz generell darum, sich eine (für alle lebenden Wesen) gerechtere Welt zu denken. Und um die Tatsache, dass die hochmilitarisierten Grenzregimes zum einen Abertausende von Menschen gewaltsam zurückstossen, für die Grenzbefestigungen aber auch massiv in die Natur eingegriffen wird. Es entstehen «tote» Korridore, die den Kreislauf der Natur zerstören, den Bewegungsradius auch für Tiere einschränken. Umso zynischer, weil die Klimakrise immer stärker auch zum Fluchtgrund wird: Immer mehr Menschen weltweit verlieren ihre Lebensgrundlage aufgrund von Dürren und Überschwemmungen. Dann: die koloniale Ausbeutung. Der Globale Norden beutet nicht nur Menschen aus, sondern zerstört auf der Suche nach Ressourcen auch ganze Ökosysteme. Und dann noch Kopfrechnen: 2020 hat die Schweiz laut No Borders ein paar hundert Millionen in Fonds eingezahlt, die finanzielle Mittel für Menschen bereitstellen, welche unter den Auswirkungen der Klimakrise leiden. Ebenfalls ein paar hundert Millionen – ein paar mehr –investierte sie in die Militarisierung der Grenzen, schreibt «No Borders». Es ist im Grunde schon lange klar: Die Klimakrise bringt nicht zuletzt eine neue Dimension des ArmReich-Konflikts mit sich. DIF