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«Der Rahmen ist eng gesteckt»

Inflation Markus Kaufmann ist Geschäftsführer der SKOS. Diese Fachkonferenz für Sozialhilfe hat sich klar für einen Teuerungsausgleich aus g es p rochen, andere Probleme aber bleiben bestehen.

INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR

Herr Kaufmann, stimmt es, dass die Teuerung Armutsbetroffene ganz besonders schwer trifft? Und wenn ja, warum?

Markus Kaufmann: Das stimmt auf jeden Fall. Armutsbetroffene haben keine Reserven. Sie haben schon jetzt nur knappe Mittel zum Leben, und wenn die Preise steigen, spüren sie das sofort.

Ist die Teuerung denn dramatisch?

Hier muss ich ein wenig relativieren, da die Teuerung in den umliegenden Ländern viel höher ist. Wir schauen uns die Angaben des Bundesamtes für Statistik ganz genau an, und machen eine Schätzung, was diese Angaben für Leute in der Sozialhilfe bedeuten. Ein Teil der Kosten, vor allem im Bereich Wohnen und Heizen, wird nicht über den sogenannten Grundbedarf abgerechnet, sondern im Rahmen der übernommenen Miet- und Wohnkosten.

Was bedeutet das konkret für Sozialhilfeempfänger*innen?

Derzeit empfehlen wir, dass die Sozialhilfe die teuerungsbedingt höheren Nebenkosten vollumfänglich übernimmt. Bei den Stromkosten haben wir versucht, eine Extralösung zu finden, das ist sehr komplex. In Dreivierteln der Gemeinden ist der Strompreis kein Problem, aber dann gibt es Gemeinden, in denen plötzlich eine Verdoppelung oder sogar Verdreifachung ansteht. Da muss man mit den richtigen Massnahmen reagieren.

Glauben Sie, dass alle Kantone da mitziehen werden?

Uns wurde bisher zurückgemeldet, dass dies in den allermeisten Fällen so umgesetzt werden wird.

Was heisst in den allermeisten Fällen?

Wir haben 750 Sozialdienste, und diese sind autonom. Wir können nur von den

Rückmeldungen ausgehen, die wir bekommen. Ausschlaggebend sind stets die kantonalen und kommunalen Bestimmungen. Wenn diese nicht eingehalten werden, können Sozialhilfebeziehende eine Verfügung verlangen und diese anfechten.

Können Sie mir noch mal erklären, wie genau sich die Unterstützung durch die Sozialhilfe zusammensetzt?

Finanziell gibt es die drei Hauptelemente: den Grundbedarf für den Lebensunterhalt, über den der tägliche Bedarf gedeckt werden muss, sowie Gesundheits- und Wohnkosten. Die Gesundheitskosten werden per Definition und Gesetz voll übernommen. Bei den Wohn- und Nebenkosten gibt es die sogenannte Limite: Wenn man in einer Wohnung lebt, die über dem Limit liegt, kann der Sozialdienst verlangen, dass man in eine billigere Wohnung umzieht.

Warenkorb: Positionen und Richtgrössen

Der Grundbedarf für den Lebensunterhalt wird als Pauschalbetrag ausbezahlt. Die Höhe orientiert sich an einem eingeschränkten Warenkorb an Gütern und Dienstleistungen der einkommensschwächsten zehn Prozent der Schweizer Haushalte.

Wenn Sie sagen, die Sozialhilfe übernehme auch die Gesundheitskosten voll, da meinen Sie die Obligatorische Grundversicherung, richtig?

Genau, damit meine ich die Krankenkassenprämie, die Franchise und den Selbstbehalt – das wird von der Sozialhilfe übernommen, in Ergänzung zur individuellen Prämienverbilligung. Zusatzversicherungen werden in der Regel nicht übernommen. In Einzelfällen, wenn es gesundheitlich angezeigt ist, können jedoch auch diese übernommen werden.

Und der Grundbedarf ist der Teil der Sozialhilfeleistungen, der den Klient*-innen direkt ausgezahlt wird. Davon kaufen sie ein.

Genau. Wir haben ausgerechnet, dass die Teuerung auf dem Warenkorb (siehe untenstehende Grafik), über den der Grundbedarf errechnet wird, in der Schweiz derzeit bei etwa 2 Prozent liegt, also unter der ausgewiesenen allgemeinen Teuerung von knapp 3 Prozent. Das spürt man, aber es ist weniger dramatisch als in den umliegenden Ländern. Da liegt die Teuerung teilweise bei mehr als 10 Prozent.

Wird denn auch der Grundbedarf an die Teuerung angeglichen?

Ja, der Grundbedarf wird von der SKOS im gleichen Masse wie die AHV-Renten und die Ergänzungsleistungen an die Teuerung angeglichen. Für das nächste

Energieverbrauch (ohne Wohnnebenkosten)

Jahr empfehlen wir 1031 Franken, die Konferenz der kantonalen Sozialdirektor*innen SODK hat diese Empfehlung bestätigt. Bis heute haben 20 Kantone beschlossen, dies zu übernehmen (siehe Karte auf Seite 12). Bei zweien ist die Diskussion noch offen, zwei weitere bleiben bei der Empfehlung von 2022 und der Kanton Bern hat seit 2011 die Teuerung nicht mehr ausgeglichen. Das ist eine Frage des politischen Willens.

Also wird die Teuerung in den meisten Kantonen vollumfänglich aufgefangen, auch wenn einzelne nicht mitziehen. Hab ich das richtig verstanden?

Ja, wenn es mit der Teuerung so bleibt wie bisher, wird diese mit den Massnahmen, die schon beschlossen sind, vollumfänglich aufgefangen werden. Sollte sie jedoch weiter steigen, sieht das anders aus. Das subjektive Empfinden, das die Leute bereits haben, wird aber bleiben: Alles wird teurer und wir haben weniger zur Verfügung, so fühlt es sich an. Auch

Unterschied: SKOS und SODK wenn die Menschen in vielen Kantonen nächstes Jahr 25 Franken mehr pro Monat bekommen, bleibt die Situation für diejenigen, die knapp bei Kasse sind, belastend.

Warum?

Die ganzen Meldungen darüber, dass die Preise steigen, sind für diejenigen, die keine Reserven haben, ein enormer psychischer Druck. Viele haben Angst vor den Rechnungen, noch bevor sie kommen.

Mein Eindruck ist, dass die Zusammensetzung der individuellen Sozialhilfe so komplex ist, dass sie sich immer undurchsichtig und dadurch vielleicht auch etwas willkürlich anfühlt. Man kann das auch als Vorteil des Systems sehen. Es wird genau hingeschaut: Wie teuer sind die Wohnkosten vor Ort, was kostet die Krankenkasse, dazu kommt der kantonal einheitlich geregelte Grundbedarf – und die sogenannten Situationsbedingten Leistungen.

In der SODK sitzen die gewählten Regierungsräte und fällen die politischen Entscheide. In der SKOS hingegen diskutieren die angestellten Fachleute, die Amtsleitenden und Sozialdienstleitenden aus Kantonen, Gemeinden und Städten. Sie ist die fachliche Organisation, die die Richtlinien wie die Höhe des Grundbedarfs erarbeitet, dazu Vorschläge macht, die die SODK dann ggf. genehmigt. Seit 2015 ist vertraglich geregelt, was die SKOS in Eigenregie macht und welche Dossiers der SODK vorgelegt werden.

Bildung, Freizeit, Sport, Unterhaltung Übriges Persönliche Pflege

Verkehrsauslagen (örtlicher Nahverkehr)

Internet, Radio/TV

Situationsbedingte Leistungen?

Wenn jemand Kinderbetreuung braucht, weil beispielsweise die alleinerziehende Mutter 50 Prozent arbeitet, dann können diese separat gezahlt werden. Es können auch Berufskosten gezahlt werden oder mal ein Ferienlager für die Kinder. All dies kann man über die Situationsbedingten Leistungen abwickeln. Die drei Hauptelemente bieten mit den jeweiligen Ergänzungen die Möglichkeit, genau hinzuschauen. Das macht es einerseits komplex, andererseits ermöglicht es auch, die Leute sehr spezifisch zu unterstützen.

Da liegt der Ermessensspielraum jeweils bei den Berater*innen des Sozialdienstes. Macht das die Klient*innen nicht sehr abhängig von deren gutem Willen?

Natürlich, Ermessen hat zwei Seiten. Das kann auch in Willkür abdriften. Gleichzeitig kann es dazu beitragen, dass man auf die dringenden Bedürfnisse einer Person eingehen kann. Natürlich muss die Grundsicherung so definiert sein, dass man mit dem Ermessen nicht druntergehen darf. Und dann gibt es ja noch den Bereich der Sanktionen. Nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung gibt es Vereinbarungen und Auflagen für die Klient*innen, zum Beispiel im Bereich der Stellensuche oder der Teilnahme an einem Ausbildungskurs. Da ist es klar definiert, inwieweit ein Sozialdienst den Grundbedarf kürzen kann, wenn die Auflagen nicht eingehalten werden. Für uns ist zudem wichtig, dass solche Entscheide zeitlich befristet sind und auch angefochten werden können.

Wir hören bei Surprise von Klient*innen-Seite oft Klagen über die fehlende Menschlichkeit im System. Diskutieren Sie in der SKOS eigentlich auch über die emotionale Belastung der Klient*innen?

Ja, da sprechen Sie ein ganz zentrales Thema an. Es geht immer auch um persönliche Hilfe. Um Beratung, menschliche Hilfe und gegenseitigen Respekt. Das ist eine riesige Herausforderung: In der Sozialhilfe treffen Menschen in sehr schwierigen Situationen auf Sozialarbeiter*innen mit teilweise bis zu 100 Dossiers, dahinter stecken 100 Familien oder Einzelpersonen. Wenn man das ausrechnet, ist man durchschnittlich bei einem halben Tag, den ein*e Berater*in pro Dossier an Beratung pro Jahr aufwenden kann. Der Rahmen ist sehr eng gesteckt.

Denkt denn auch jemand an die menschlichen Kosten, die hier den finanziellen nachgeordnet werden?

Es gibt sicher Orte, an denen mehr Druck auf die Klient*innen ausgeübt wird als an anderen. Gerade hatten wir eine Tagung zur persönlichen Hilfe, dazu wie man diese besser gestalten könnte. Dabei ging es auch um Partizipation und wie man die Anliegen der Klient*innen besser wahrnehmen kann. Spannend ist hierbei das Pilotprojekt in der Stadt Zürich, bei dem in vierwöchigen Abklärungsphasen genau angeschaut wird: Was kann eine Person wirklich leisten? Sanktionen sollten immer das letzte Mittel sein.

Höhe des Grundbedarfs für den Lebensunterhalt (GBL) Monatlich empfohlener Pauschalbetrag (in CHF) für einen Einpersonenhaushalt

Empfehlung 2011: CHF 977.–

Empfehlung 2020 1: CHF 1006.–

Empfehlung 2022: CHF 1006.–Empfehlung 2023 2: CHF 1031.–

Provisorisch (inkl. IZU 3): CHF 1138.–in Diskussion 4: CHF 1031.–

1 +2.5% Teuerung

2 in der Regel ab 1.1.2023, NE ab 1.4.2023

3 IZU = Integrationszulage für Bemühungen, die die Chance auf berufl.-soz. Wiedereingl. erhöhen

4 Aktuell: FR CHF 986.–, SO CHF 1006.–

Werden denn die Menschen immer von Fachperson beraten? Nicht immer. In verschiedenen Kantonen ist es vorgeschrieben, dass man eine entsprechende Ausbildung haben muss. An anderen Orten ist dies nicht der Fall, vor allem in kleineren Gemeinden. Wir diskutieren schon lange, dass es eigentlich eine gewisse Grösse bräuchte, um die Qualität eines Sozialdienstes zu sichern.

In kleinen Gemeinden kennen sich Berater*innen und Klient*innen gegebenenfalls bereits aus dem Gemeindeleben. Da ist der Bezug von Sozialhilfe sicher noch einmal weniger angenehm.

Ja, vielleicht ist es ein Faktor, dass in ländlichen Gebieten die Leute weniger schnell Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Aber man muss sagen, dass es auch im ländlichen Raum super Berater*innen gibt, die sich sehr für ihre Klient*innen einsetzen. In der Sozialhilfe zu sein, ist sicher nicht einfach. Von manchen Orten hören wir auch, dass sie für die Sozialdienste fast kein Personal finden, da sie unter der hohen Falllast leiden. Und es sind auch mancherorts Entscheide gefällt worden sowohl zum Nachteil der Mitarbeitenden und der Klient*innen, die eigentlich nicht mehr mit der Menschenwürde vereinbar sind.

Nun ist die Schweizer Sozialhilfequote vergleichsweise gering und sogar am Sinken. Was spricht dagegen, diese wenigen Menschen, die es betrifft, menschenwürdig mitzutragen?

Einerseits muss man sagen: Die Sozialhilfe funktioniert. Wir sind nah an den Leuten, wir erbringen die Leistungen, sie sind sozial abgesichert. Andererseits führen wir seit es die Sozialhilfe gibt, eine grosse Debatte darüber, dass Menschen, die arbeiten, nicht schlechter gestellt sein dürfen als jene, die durch die Sozialhilfe unterstützt werden.

Sie sprechen von sogenannten Working Poor.

Das ist ein Gerechtigkeitsthema und das wird bleiben. Wir können Sozialhilfeempfänger*innen keinen Durchschnittslohn auszahlen. Das wäre die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Momentan arbeiten wir in dem System, das wir haben, und das beruht auf Leistung und Gegenleistung. Es wird von den

Menschen, die Sozialhilfe beziehen, erwartet, dass sie dafür etwas tun. In diesem Rahmen diskutieren wir.

Liegt dann das Problem überhaupt bei der Sozialhilfe, sind nicht einfach die Löhne zu tief? Beteiligen Sie sich als SKOS auch an solchen Debatten? Wir sind keine politische Partei. Wir halten aber gerechtere Löhne für ein wichtiges Mittel, um Sozialhilfe zu verhindern. Der Lohn einer Einzelperson muss existenzsichernd sein. Was ein Problem bleiben wird, sind Familiensituationen. Es ist völlig unrealistisch, dass man den Mindestlohn für eine Person so hoch ansetzen kann, dass damit eine vierköpfige Familie zu ernähren wäre. Da braucht es vom Staat Ausgleichsmechanismen. Daher unterstützen wir das Element der Familienergänzungsleistungen, die es in manchen Kantonen gibt. Weitere sogenannte vorgelagerte Leistungen wie diese sind die Kinderzulagen oder auch die Prämienverbilligung. Diese Elemente müssen natürlich alle zusammen funktionieren. Die Sozialhilfequote sollte dabei nur ein geringer Teil sein. Derzeit sind wir wieder bei etwa 3 Prozent der Bevölkerung, die Sozialhilfe bezieht. Die vorgelagerten Leistungen werden nie alle Personen auffangen können. Dafür bräuchte es einen grossen Umbau des ganzen Systems der sozialen Sicherung.

Nun gibt es ja in der Sozialhilfe auch Menschen, die nicht mehr in den Arbeitsmarkt vermittelbar sind – weil der Arbeitsmarkt sich wandelt, oder aus Alters- und gesundheitlichen Gründen. Wie wirkt sich denn das System von Leistung und Gegenleistung auf diese Personen aus?

Für dieses Problem gibt es wiederum verschiedene Zugänge. Einerseits haben wir eine Weiterbildungsoffensive lanciert, da Studien zeigen, dass bereits gut ausgebildete Menschen sich in der Tendenz stetig weiterbilden, während Geringqualifizierte sich weniger häufig um Weiterbildung bemühen. Dem möchten wir gerne entgegenwirken, gerade bei jungen Menschen.

Und die wachsende Gruppe der sogenannten Abgehängten?

Es ist schwierig auszumachen, ob sie wirklich wächst. Wir nehmen wahr, dass es eine Verschiebung gegeben hat von der Invalidenversicherung in die Sozialhilfe. Sobald die Invalidenversicherung restriktiver agiert, gibt es Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können und ohne eine IV auf Sozialhilfe angewiesen sind. Momentan wirkt der Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel auf allen Stufen. Das führt auch dazu, dass wir im Moment abnehmende Sozialhilfezahlen haben. Aber es gibt Menschen, die es trotzdem nicht schaffen. Es gibt auch eine grosse Zahl junger Menschen mit psychischen Erkrankungen. Für sie muss die Sozialhilfe stärker gesellschaftlich und sozial integrierend wirken.

MARKUS KAUFMANN, 61, ist seit sechs Jahren Geschäftsführer der SKOS. Er wohnt in Köniz und hat an der Uni Fribourg Sozialarbeit und Soziologie studiert. Nach dem Studium war er über viele Jahre in der Jugendarbeit. Anschliessend übernahm er Funktionen in verschiedenen Organisationen im Gesundheitsbereich mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung und Prävention.