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«Ein Leben, in dem es Platz für Liebe und Wärme hat»

Es ist kurz nach Mittag. In einem Einkaufszentrum im schwedischen Malmö gehen die Menschen ein und aus. Am Eingang sitzt Anita Rinkovec in einem Rollstuhl und verkauft das Strassenmagazin Faktum. Manche Leute können sich Faktum nicht leisten, bleiben aber trotzdem zum Plaudern stehen. Worüber sich Anita freut. Später wird sie von einem Bekannten im Auto abgeholt und nach Hause gebracht. In ihrer kleinen Wohnung hat es eine Küche, ein Badezimmer sowie ein Zimmer mit einem Einzelbett und einem Fernsehtisch. Alles ist säuberlich angeordnet. «Wenn deine Umgebung nicht sauber ist, kannst du nicht gedeihen», sagt Anita entschieden.

Gedeihen konnte sie lange nicht. Sie wurde als Fünfjährige von ihrem Stiefvater missbraucht, ihre eigene Mutter wusste davon und liess es geschehen. Ihre Schwester wurde ebenfalls missbraucht; sie habe sich nie davon erholen können und mit Mitte vierzig Suizid begangen, erzählt Anita. Die Probleme zuhause wurden zu Problemen in der Schule. Mit 14 Jahren brachte man Anita in ein Kinderheim, sie begann zu klauen und versuchte abzuhauen. Sie kam in eine Pflegefamilie, aber auch dort fand sie sich nicht zurecht. Eine Zeitlang verweigerte sie das Essen. Schon in der Zeit, als ihr Schwiegervater sie missbrauchte, musste sie viel erbrechen; ihre Mutter zwang sie zu essen. Auch die Selbstverletzungen nahmen im Laufe der Jahre zu, die Arme von Anita waren mit Narben übersät. Im Alter von 70 Jahren liess sie sich Tattoos stechen, um diese zu verdecken; das erste war eine grosse Rose auf der rechten Seite ihres Halses.

Das Schreiben bot Anita Trost, schon als Mädchen hatte sie ein Tagebuch. «Ich musste die Scheisse rauslassen», sagt sie heute. Die Aufzeichnungen hat sie beiseitegelegt, manchmal blättert sie darin. Dann findet sie Seiten über Seiten mit Notizen über ihre Kindheit, die Alkoholsucht, über Männer, die sie im Stich liessen, über mangelndes Geld und die Sorge um ihre Kinder. Inzwischen sind drei von ihnen bereits gestorben – alle an einer Überdosis. «Ich war krank», sagt Anita. «Ich konnte mich nicht um sie kümmern.» Das vierte Kind, eine Tochter, ist schwer beeinträchtigt und lebt in einem betreuten Wohnheim.

Trotz der vielen Schicksalsschläge hat sich Anita stets dagegen gewehrt, in Selbstmitleid zu versinken. In einem ihrer Tagebücher heisst es: «Ich, Anita Rinkovec, habe absolut nicht die Absicht aufzugeben. Ich kämpfe für ein besseres Leben, in dem es Platz für Liebe, Gemeinschaft, Wärme und Lebensqualität hat, in dem ich ich selbst bin und niemand anders, und nicht ein Clown, der ständig versucht, alle um sich herum zufrieden zu stellen. Jetzt ist es an der Zeit, mein Leben und meine Bedürfnisse ernstzunehmen, was wichtiger ist als alles andere.»

Doch es war und ist nicht einfach. Unlängst hat man herausgefunden, dass Anita ernsthafte Probleme mit den Nieren hat. Laut ärztlicher Prognose hat sie nur noch wenige Monate zu leben. Anita will sich keiner Dialysebehandlung unterziehen. Sie ist der Meinung, dies sei keine würdige Art, ihre letzten Tage zu verbringen. Mit der Dialyse könnte sie womöglich noch zwei oder drei Jahre leben. «Aber was wäre das für ein Leben?», fragt Anita. «Ich könnte nicht mehr das Strassenmagazin verkaufen, ich hätte keinen Kontakt mehr zu Menschen, käme gar nicht mehr aus der Wohnung raus.» Es sei besser, auf natürliche Weise zu sterben, als immer wieder im Krankenhaus zu liegen.

Was ihr fehlen werde, wenn alles zu Ende geht, fragt sich Anita immer wieder. Ihre Antwort: «Ich werde es vermissen, Faktum zu verkaufen und mit den Menschen zu reden. So viele kommen zu mir und erzählen mir von ihren Problemen. Eigentlich sehe ich mich nicht als Verkäuferin, sondern als Psychologin.» Und ihre beste Freundin wird sie vermissen, mit der sie schon durch dick und dünn gegangen ist. «Ich habe gesagt, dass ich ihr zuliebe eine Dialyse machen würde. Doch sie will nicht, dass ich es für sie tue, sondern für mich selbst. Und ich will es nicht.» Anita weiss, ihre Freundin wird ihren Entscheid respektieren.

Aufgezeichnet von SANDRA PANDEVSKI

Übersetzt von KLAUS PETRUS

Mit freundlicher Genehmigung von FAKTUM

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