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Sich Bilder machen

Psychiatrie Das Ausstellungs- und Buchprojekt «Hinter Mauern» zeigt historische Fotografien aus zehn psychiatrischen Einrichtungen der Schweiz. Entstanden ist ein Einblick in die Welt der Psychiatrie, aber auch eine Reflektion der Typisierung von Menschen.

TEXT DIANA FREI

Eine ältere Frau sitzt in Anstaltskleidung vor der Kamera – und scheint zu schlafen. Ein Mann in einer Kutte, die Arme verschränkt, der Blick zielt aus dem Bild hinaus, vorbei an der Kamera, als ob er sich der Situation entziehen wollte. Dann eine Frau mit der Hand auf ihrer Brust, ernst und abweisend der Blick, fast feindselig schaut sie in die Kamera.

Diese Bilder stammen alle aus dem Fundus des Psychiatrie­Museums Bern in den Jahren 1915 bis 1930, vermutlich wurden sie in der damaligen «Kantonalen Irrenanstalt Waldau» aufgenommen. Es sind keine Porträtaufnahmen im eigentlichen Sinn, vielmehr dienten sie als Diagnoseinstrumente. Es waren «gestohlene Bilder»: Die Patient*innen wurden in die Aufnahmesituation hineingezwungen. «In der Klinik sollte ein Fotoporträt nicht die Persönlichkeit eines Menschen zum Ausdruck bringen, sondern vermeintliche Fakten eines Krankheitsbildes dokumentieren», schreibt die Kunsthistorikerin und Co­Kuratorin der Ausstellung Katrin Luchsinger in der gleichnamigen Begleitpublikation. Aufgrund äusserlicher Merkmale schloss man darauf, was mit den Patient*innen nicht stimmte – wobei die Grenzen zwischen tatsächlichen psychischen Leiden und Abweichungen von einer sozialen Norm schnell verschwammen.

Die Lehre, aus Gesichtszügen auf scheinbar wissenschaftliche Art Hinweise auf den Typus Mensch abzuleiten, war Anfang des 20. Jahrhunderts nicht neu. Bereits im Jahrhundert zuvor hatte der italienische Kriminalanthropologe und

Psychiater Cesare Lombroso die sogenannte «Physiognomie» geprägt. Indem er sich vor allem auf Gesichtszüge und Schädel konzentrierte – auch auf die Form von Ohren und Ohrläppchen–, diagnostizierte er etwa kriminelle Neigungen. Durchaus auch ohne dass die betreffende Person ein Verbrechen begangen hätte. Der Psychiater und Amateurfotograf Hugh Welch Diamond (1809 – 1886) folgte im Kern dem gleichen Gedanken und stellte in England Fotoserien mit dem Titel «Physiognomie der Geisteskrankheit» aus. Bei ihm sind Vorher­nachher­Bilder zu finden, die heute geradezu grotesk anmuten: eine Frau «vor der Behandlung» im Anstaltshemd und mit zerzausten Haaren sowie «nach der Behandlung» in fast exakt der gleichen Pose – diesmal aber, als einziger erkennbarer Unterschied, ordentlich frisiert, in einem bürgerlichen Kleid. «Hier wird deutlich, dass es ganz stark um geltende Normen ging», sagt Stefanie Hoch, Kuratorin am Kunstmuseum Thurgau. Sie hat die Ausstellung zusammen mit Luchsinger konzipiert. «Die Patient*innen galten als ‹geheilt›, wenn sie äusserlich und in ihrem Verhalten wieder einigermassen gesellschaftsfähig waren. Das Foto zeigt vor allem, dass die Frau auf das Funktionieren in der Gesellschaft hergerichtet ist. Als ob man mit dem Nachher­Bild sagen wollte: ‹So sieht man aus, wenn man normal ist.›» Den Therapien der psychiatrischen Anstalten haftete damit etwas Disziplinarisches an, man folgte dem Gedanken einer geltenden Norm, die oft zum Gradmesser wurde, ob jemand ins «Irren­ haus» gehörte. Man beurteilte die Patient*innen entsprechend nach der äusseren Erscheinung und danach, ob sie sich in Gesellschaft zu benehmen wussten.

Hermann Rorschach, der Erfinder des Rorschachtests, war begeisterter Hobbyfotograf und ordnete die Fotos seiner Patient*innen in 14 Alben, die er mit damals gängigen Diagnosen wie etwa «Hysterie» beschriftete. Auch er suchte dabei nach «Typen», obwohl er die Menschen freier, in sozialen Alltagssituationen und in Bewegung fotografierte. Er war unter anderem Assistenzarzt in der Heil­ und Pflegeanstalt Münsterlingen; viele Bilder der Ausstellung stammen aus seinem Fundus.

Die Typenlehre bildete lange ein Kernstück der Psychologie. Der Gedanke dahinter pflanzte sich fort, ursprünglich von der Kriminologie über die Psychiatrie bis zu einer späteren allgemeinen Faszination für die Darstellung «sozialer Typen»: der Arbeiter, die Bäuerin, der Künstler. Nach 1930 konnte bekanntlich die nationalsozialistische Rassenlehre auf der Typenlehre aufbauen.

Die Fotografie versprach als chemisch­physikalisches Medium eine besondere Objektivität, die sich für wissenschaftliche Kategorisierungen scheinbar anbot. Auch die Anthropologie setzte das Medium Fotografie ein. Ein Foto aus dem kolonialen Kontext findet sich in der Sammlung des Psychiatrie­Museums Bern: ein Glaspositiv einer Frau aus dem Sudan mit Skarifizierungen, also Schmucknarben. Offenbar sah man Parallelen zwischen sogenannten «Wilden» und «Irren», in der

«Hinter Mauern. Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen 1880 bis 1935»,

Ausstellung, bis So, 16. April, Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen, Warth kunstmuseum.ch

Ab Fr, 26. Mai 2023 bis April 2024 wird sie im PsychiatrieMuseum in Bern gezeigt.

Buch, hrsg. von Katrin Luchsinger und Stefanie Hoch, mit Beiträgen von Urs Germann, Stefanie Hoch, Markus Landert, Katrin Luchsinger, Sabine Münzenmaier und Martina Wernli, Zürich, Scheidegger & Spiess 2022, Fr. 45.00

Waldau waren auch Fotos der Tätowierungen von Patient*innen abgelegt. «Man dachte daran, unterschiedliche Entwicklungsstufen des Menschen ausmachen zu können und war der Meinung, ‹Wahnsinnige› seien ein Stück näher bei indigenen Völkern. Es gab die Vorstellung, dass Menschen im Wahn in einen Urzustand oder in eine archetypische Stufe zurückfallen. Das ist natürlich ein gefährlicher Gedanke», sagt Hoch.

Auf der anderen Seite kamen im Anstaltsalltag Ansätze auf, die noch heute modern wirken: Kreativer Ausdruck und Kunst wurden gefördert, um die Monotonie aufzubrechen; es gab Anstaltstheater, Maskenbälle, Silvesterpartys. Wilde Kostümierungen gehörten dazu. Es war derselbe Hermann Rorschach mit seinen Diagnose­Alben, der auch leidenschaftlich Theateraufführungen mit Patient*innen veranstaltete und Jahrmärkte besuchte, Wandertheater und Chöre in die Anstalt einlud, Fasnachtsumzüge und Tanzfeste organisierte. Seiner Schwester schrieb er in einem Brief: «Weihnachten, Sylvester wird halt in Münsterlingen sehr intensiv gefeiert, sehr lebhaft, und beides doppelt. Nachher kommt die Fasnacht mit zwei Maskenbällen! Also du siehst, man braucht im Irrenhaus nicht zu versauern!»

Ein scheinbar seltsamer Gegensatz zu den rigiden disziplinarischen Therapieansätzen. Da die Behandlungsmethoden in Wahrheit aber beschränkt waren – eigentliche Therapien gab es Anfang des 20. Jahrhunderts, ausser etwa über Stunden oder Tage ausgedehnte Bäder in einer Wanne, noch kaum – versuchte man, eine Struktur zu schaffen. Dies geschah zum einen mit der sogenannten Arbeitstherapie, zum anderen mittels Aufbrechen des eher öden Alltags. Die persönlichen Interessen und Leidenschaften der Ärzte vermischten sich so auch mit Diagnosemethoden und Therapieversuchen. In der Ausstellung sind etliche Bilder von Theateraufführungen zu sehen, Szenen auf dem Karussell, eine Zirkustruppe und Tanzvergnügen auf dem Gartenfest. Auch ein Äffchen ist abgebildet, mit dem Rorschach versuchte, einen Zugang zu den Patient*innen zu finden.

Viele andere Aufnahmen zeigen die Patient*innen bei der Arbeit. Beim Korbflechten und Gemüserüsten, bei Näharbeiten, beim Dachdecken und Befüllen von Güterloren am Bodensee. «Oft waren die Kliniken Selbstversorgerbetriebe, ehemalige Klöster mit viel Landwirtschaft. Es gab also ein wirtschaftliches Interesse, dass die Patient*innen arbeiteten», sagt Hoch. «Die Arbeit diente auch als Therapie. Die Anstalten waren überfüllt und standen oft in der Kritik, weil die Patient*innen angeblich nur herumsassen. Mittels Arbeit schuf man eine Struktur und verbesserte gleichzeitig das Bild in der Öffentlichkeit.» Oft war in Zusammenhang mit diesen Arbeitstherapien wieder von «sozialer Heilung» die Rede: Gemeint war damit vor allem die «verbesserte Anpassung an die Anforderungen des Anstaltsbetriebes und letztlich an die Gesellschaft», schreibt der Historiker Urs Germann im Buch zur Ausstellung. Man hatte nun «Ruhe und Ordnung», wo früher ein «Durcheinander», «Lärmen» und «Gezeter» war. Und konnte gegen aussen zeigen, dass man fleissig und nützlich war in der Anstalt. Die Fotografien, die in den psychiatrischen Institutionen gemacht wurden, hatten vielfältige Funktionen: Sie waren, wie erwähnt, Diagnoseinstrument und wurden für Weiterbildungszwecke verwendet, sie hatten aber durchaus auch eine soziale Funktion in der Beziehung zwischen Personal und Patient*innen. In Broschüren wiederum wurden sie in geschönter Form für die Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt, im Gegenwind der Kritik an den Zuständen in den Anstalten.

Die Machtgeste nicht wiederholen Misstrauen gegenüber Absicht und Wirkung der Bilder ist in allen Fällen angebracht. «Wenn Fotografien einen Ort abbilden, dessen Wahrnehmung von Vorurteilen und Projektionen bestimmt ist, dann stellen sich bei der Betrachtung und Bewertung der Werke besondere Probleme», schreibt Luchsinger. Die Frage ist: Wie zeigt man solche Bilder nun einem heutigen Publikum? «Die Kulturwissenschaftlerin Susanne Regener, die den Be­ griff der ‹gestohlenen Bilder› geprägt hat, verwendet die entsprechenden Bilder selbst nur ganz klein, um die abgebildeten Personen nicht ein weiteres Mal auszustellen und damit die entwürdigende Geste zu wiederholen», sagt Hoch. «Wir haben diesen Ansatz zuerst als Referenz genommen. Dann haben wir aber gemerkt, dass wir der Sache so auch nicht gerecht werden, der Erkenntnisgewinn anhand der Bilder ist so in einer Ausstellung sehr gering. Wir haben versucht, auf Bilder zu verzichten, die Menschen blossstellen. Man kann sich natürlich fragen: Soll man sie gar nicht zeigen? Dann verschwinden sie, und das sehe ich als grosse Gefahr. Dafür sind die Bilder dann doch zu wichtig.»

Das Buchcover zeigt einen Patienten in der Tür einer Isolierzelle, der sogenannten Varekzelle. Varek ist Seegras, mit dem die Zelle ausschliesslich ausgebettet war. «Der Mann hat sich selbst kostümiert – im Grunde ganz der damaligen anthropologischen Auffassung des sogenannten ‹Wilden› entsprechend», sagt Hoch. «Wir haben lange über das Cover diskutiert und kamen dann zum Schluss, dass hier die scheinbare Umkehrung der Machtverhältnisse spannend ist. Der Patient wirkt souverän, der Pfleger daneben klein und verschüchtert. Der Insasse der Isolierzelle schafft sich mit dem, was er hat, diese fast königliche Verkleidung.» Man kann die Szene als Akt der Selbstermächtigung lesen. Oder reproduziert hier der Psychiatriepatient doch gerade selbst ein Stereotyp seiner Zeit: der Irre als Wilder? Wenn ja, könnte es auch eine bewusste Subversion sein? Hoch sagt: «Die Ausstellung wirft sicher mehr Fragen auf als sie beantwortet.» Und dabei lehrt sie uns, den eigenen Blick zu überdenken – auf Bilder, auf Stereotypen. Auf Bilder, die man sich von Menschen macht.

Buchverlosung

Gewinnen Sie mit etwas Glück ein Exemplar des Buches «Hinter Mauern. Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen 1880 – 1935». Senden Sie uns eine E-Mail oder Postkarte mit dem Betreff «Hinter Mauern» und Ihrer Postadresse an info@surprise.ngo bzw. Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel. Die Gewinner*innen werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt. Einsendeschluss ist der 29. Januar 2023.

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Bern

12. Norient Festival, Sa, 11. bis Mi, 15. Jan., verschiedene Spielstätten, Festivalzentrum Stube im Progr, Atelier 012 (Westflügel), Speichergasse 4. norient-festival.com