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Die Gewaltspirale

Suchtmittel Wer von Alkohol oder Drogen abhängig ist, erlebt mit hoher Wahrscheinlichkeit Gewalt. Was das für Kathy M. bedeutet.

Diese zwei Stunden alle zwei Wochen, sie mag sie sehr. Wenn sie mit den anderen Frauen in Bern im Büro der Kirchlichen Gassenarbeit sitzt, vor ihr ein Blatt Papier, in der Hand einen schwarzen Stift und im Kopf die Gedanken, die sie nun in Worte fassen kann. «Die Atmosphäre in diesem Raum voller Frauen gibt mir Sicherheit», sagt Kathy M. «Gerade als gebrannte Frau.»

Die Texte erscheinen im Magazin «Mascara», das die Gassenarbeit herausgibt. Mal schreibt Kathy M. über Inflation, mal verfasst sie Gedichte über ihre chronischen Rückenschmerzen. Und manchmal, da schreibt sie über die Gewalt, die sie als Kind erlebt hat.

«Ich liege nachts wach und starre an die Decke. Langsam bahnt sich eine Träne ihren Weg über meine Wange. Erinnerungen, Flashbacks halten mich wach.»

Kathy M. war neun Jahre alt, 1991, als sie zum ersten Mal sexuell missbraucht wurde. Als ihr in der Anlaufstelle jemand K.o.-Tropfen in ihren Eistee leerte und sie danach sexuell missbrauchte, das war 2019, da war sie 37 Jahre alt. Heute ist Kathy M. 40 Jahre alt und die Gewalt, sexualisiert, psychisch und physisch, war in all den Jahren immer irgendwo mit dabei. Kathy M. versuchte mit Schlaftabletten, ab 16 auch mit Cannabis und Alkohol, mit dem Erlebten umzugehen. Später, mit Anfang 30, mit Kokain und Heroin. Die Tabletten- und Alkoholabhängigkeit hatte sie in den Griff bekommen, doch dann erlebte sie wieder Gewalt. Psychisch ging es ihr nicht gut genug, um die Lehre zur Röntgenassistentin, später zur Fachfrau Gesundheit abzuschliessen. Auch eine Eingliederung der IV zur Fachfrau in der Behindertenbetreuung scheiterte.

Jeden Tag geht Kathy M. mit ihrem Mops Miley durch die Strassen der Stadt bis zur Heroinabgabestelle Koda. Sie bekommt ihr Heroin nun als Medikament gegen die Opiatabhängigkeit. Am Donnerstag spielt sie Theater, am Sonntag bruncht sie im offenen Haus La Prairie. Wenn sie nicht als Soziale Stadtführerin von Surprise durch das Monbijou-Quartier führt (siehe S. 21), verbringt sie gerne Zeit an ihrem «heiligen Ort», der, so möchte es Kathy M., geheim bleiben soll. Hier, auf den weichen Sofas in den langen Gängen, durch die leise Stimmen hallen, schreibt sie und liest viel. Hier trifft sie nie jemanden von der Gasse an, sie wird in Ruhe gelassen, wenn es ihr nicht gur geht.

«Manchmal reicht ein Wort oder ein Satz, ein Geräusch oder ein Duft, um bei mir Flashbacks auszulösen. Traumatische Erinnerungen werden reaktiviert und ich werde von Gefühlen und Bildern von früher überwältigt.»

Am Tag, nachdem sie K.o.-Tropfen erst im Getränk und dann im Blut hatte, fiel einer Sozialarbeiterin der Contact Anlaufstelle Kathy M.s. geschwollene, gerötete Wange auf. «Mir ist das, was ich nicht mehr weiss, lieber als das, was ich noch weiss», sagt Kathy M. Sie war nicht die einzige, die – von K.o.-Tropfen bewusstlos – sexuell missbraucht wurde. Die Anlaufstelle hängte Zettel an die Wand, auf denen sie zur Vorsicht mahnte: Bitte lasst keine Getränke unbeaufsichtigt.

Hohe Hürden

In der Schweiz erlebt laut Kinderschutz Schweiz jedes siebte Kind mindestens einmal sexualisierte Gewalt. Diese Kinder, die häufig auch psychische und physische Gewalt erleben, werden gemäss dem Fachbuch «Frauensuchtarbeit in Deutschland» später mit zwei bis drei Mal höherer Wahrscheinlichkeit heroinabhängig. Und, so schreiben die Autorinnen weiter, wer eine Sucht entwickelt, erlebt mit grösserer Wahrscheinlichkeit Gewalt. Diese Spirale kennen alle darauf angesprochenen Fachstellen im Kanton Bern – die Stiftung Contact (zu der die Anlaufstelle gehört), die Gassenarbeit, die Notschlafstelle Sleeper, das Passantenheim der Heilsarmee, der Gassenbus der Vineyard-Gemeinde sowie das Sleep-In in Biel oder die Notschlafstelle in Thun. Eine betroffene Frau zu finden, dauert hingegen länger. Dass schliesslich Kathy M. zusagt, die sich bei Surprise in der Ausbildung zur Sozialen Stadtführerin eingehend mit ihrer Biografie auseinandersetzte, könnte ein Zeichen dafür sein, wie viel Arbeit und Reflexion notwendig ist, um überhaupt darüber sprechen zu können. Die Sozialarbeiterin sei für sie zum «Fels in der Brandung» geworden, sagt Kathy M. Sie war eine der wenigen, mit der sie offen über all das reden konnte, was ihr passiert war. Sie schlug Kathy M. vor, im Spital die Spuren zu sichern, und bot an, sie zu begleiten. Sie kam auch mit zu Lantana, der Opferhilfefachstelle bei sexualisierter Gewalt in Bern. dort keinen Zugang. Kathy M. sagt: «Es ist belastend, immer im Hinterkopf zu haben: Egal, was passiert – allein wegen der Diagnose wird mir ein Frauenhaus keinen Schutz bieten können. Man wird unsicher, man sucht die Schuld bei sich und verharmlost das Erlebte, um damit umgehen zu können.» Warum, fragt Kathy M., dürfen Frauen, die ihr Heroin kontrolliert von einer Abgabestelle bekommen und keinen Beikonsum haben, nicht in ein Frauenhaus? «Nicht alle, die drogenabhängig sind, sind ungepflegt, laut und aggressiv. Manche haben den Rank gefunden, brauchen aber noch Krücken.»

Drogenabhängige Frauen werden oft von Mitarbeitenden einer Fachstelle begleitet, sei es vom Sozialdienst, von der Berner Gesundheit, von der städtischen mobilen Interventionsgruppe Pinto oder von der Fachstelle Sexarbeit Xenia. Das sagt Gina Bylang, Beraterin bei Lantana. Bei ihnen seien nur wenige Frauen drogenabhängig.

Bylang vermutet, dass die Hürden für manche zu hoch sind – wer sich beraten lassen möchte, muss einen Termin vereinbaren und sich an diesen halten, entweder via Telefon oder vor Ort bei Lantana.

Um an Heroin heranzukommen, habe sie «ekelhafte Dinge» gemacht, sagt Kathy M. Sie hätte noch Nein sagen können, doch sie wollte die Gefahr nicht eingehen, dass es eskalieren könnte, gerade wenn beide Drogen konsumiert hatten. Auch die Schockstarre kenne sie gut. «Ich versuchte, es möglichst schnell hinter mich zu bringen und möglichst schnell zu vergessen. Der Grat ist schmal: Wie viel steuere ich noch? Und wo bin ich schon gefangen?»

Vielen Frauen falle es schwer, erlebte Gewalt als solche einzuordnen, sei es in einer Beziehung, bei der Sexarbeit oder beim Beschaffen von Drogen, so Bylang von Lantana. «Ich werde oft gefragt: War das, was ich erlebt habe, überhaupt ein Übergriff?» Laut «Frauensuchtarbeit in Deutschland» zeigen Studien, dass ein erheblicher Teil der Frauen bei der Beschaffungsprostitution physische oder sexualisierte Gewalt erlebt. Unter dem Einfluss der Drogen oder wegen Entzugserscheinungen können Frauen sich weniger gut wehren, wenn sie zu sexuellen Handlungen gezwungen werden. Bei Lantana helfen die Beraterinnen, das Erlebte einzuordnen, und informieren die Frauen anhand des Opferhilfegesetzes über ihre Rechte, zum Beispiel den Anspruch auf eine rechtliche Beratung, und leisten wo nötig finanzielle Soforthilfe.

Mit Anfang 20 war Kathy M. wegen einer anderen «längeren Geschichte», über die sie hier nicht reden möchte, bei der Opferhilfe. Sie erfuhr, dass sie wegen ihrer Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht in ein Frauenhaus darf. Frauen mit akuten psychischen Problemen sowie Frauen mit akuten Suchtproblemen haben

Die stellvertretende Leiterin des Frauenhauses Bern, deren Namen aus Sicherheitsgründen nicht hier steht, sagt: «Im Gespräch klären wir ab, ob bei der Frau eine Suchtmittelproblematik besteht und ob sie psychisch genug stabil ist, um die Tagesstrukturen wahrzunehmen.» Die Bewohnerinnen nehmen morgens an der Sitzung teil und wechseln sich mit Einkaufen und Kochen ab. Regelmässig führen sie Gespräche mit ihren Bezugspersonen, hinzu kommen Termine mit Anwält*innen, Therapeut*innen und Fachstellen wie der Kesb. Damit das Team weiss, dass die Frauen in Sicherheit sind, müssen sie, wenn sie aus dem Haus gehen, erreichbar sein. Andernfalls, so die stellvertretende Leiterin, sei dies belastend. Auch Kindern bietet das Frauenhaus Schutz. «Wenn eine Frau auf Entzug kommt oder Drogen herumliegen lässt, kann dies den Kindern Angst machen oder ihre Sicherheit gefährden», sagt die stellvertretende Leiterin. Auch muss der Standort des Hauses geheim bleiben. Wenn die Sucht Priorität habe, könnten die Abmachungen vergessen gehen. Mit Mitte 20 verliebte sich Kathy M. Bald zog sie mit der Frau, die auch

Hilfe für die Betroffenen Erleben Sie psychische, physische oder sexualisierte Gewalt? Unterstützung bietet die Opferhilfe, sie berät kostenlos, vertraulich und anonym. Die kantonalen Beratungsstellen finden Sie unter opferhilfe-schweiz.ch. Unter frauenhaeuser.ch sind alle Frauenhäuser aufgeführt. Die Berner Frauenhäuser zum Beispiel sind unter der Hotline AppElle! rund um die Uhr erreichbar: 031 53 30  303 eine Alkoholabhängigkeit hatte, zusammen. Wenn sie betrunken waren, gingen sie einander verbal an. «Ich bin mit Gewalt aufgewachsen, ich kannte nichts anderes, um Konflikte zu lösen», sagt Kathy M. «Auch ich war zu einem Arsch geworden.» Eines Tages habe ihre damalige Partnerin, mit einem Messer in der Hand, gedroht: Wenn sie jetzt nicht gehe, dann steche sie sie ab. Vom einen Tag auf den anderen brauchte Kathy M. eine neue Unterkunft.

«Ich konnte mich inzwischen auch wieder daran erinnern, dass ich damals sehr wohl versucht habe, um Hilfe zu bitten. Doch meine Schreie wurden ignoriert.»

Frauen, die wegen einer Suchtmittelabhängigkeit nicht im Frauenhaus aufgenommen werden, werden an die Contact Anlaufstelle vermittelt. Dank eines Fonds der Stiftung kann diese bei Härtefällen für einige Nächte ein Hotelzimmer finanzieren. Melody Di Antonio, Sozialarbeiterin bei der Stiftung Contact, ist froh um diese Möglichkeit, sagt aber: «Ein Hotelzimmer ersetzt kein Frauenhaus.» Selbst dafür sei die Hürde für viele sehr hoch, häufig sagten Frauen in letzter Minute doch ab. Die Vorstellung, die Nacht allein in einem Hotelzimmer zu verbringen und von niemandem aufgefangen zu werden, sei sehr schwierig, sagt Di Antonio.

Kathy M. meldete sich gar nicht erst beim Frauenhaus. Sie bekam in einer betreuten, aber wenig strukturierten Frauen-WG eines Vereins ein Zimmer, obwohl auch hier eigentlich nicht aufgenommen wird, wer Alkohol oder illegale Drogen konsumiert. Kathy M. sagt: «Der Alkohol wurde zu einem stummen Freund, der mich nie wegstiess oder verurteilte. Um die Gewalt auszuhalten, griff ich als erstes wieder zu Suchtmittel und rutschte immer tiefer.»

Für Frauen wie Kathy M. betrieb in Nürnberg ab 1998 Lilith, die zweitgrösste von elf feministischen Drogenanlaufstellen in Deutschland, eine WG mit geschützter Adresse. «Abwärtsspiralen werden durch die fehlenden Schutzräume ausgelöst», sagt Silvia Kaubisch, stellvertretende Geschäftsführerin von Lilith. Weil die Drogenanlaufstelle langfristig nicht finanziert werden konnte, wurde sie nach knapp zehn Jahren geschlossen. Praktisch alle Frauen, die zu Lilith kommen, erlebten Gewalt, sagt Kaubisch. Bei Lilith, wo Männer – anders als in der Berner Anlaufstelle – keinen Zugang haben, würden die Frauen sich trauen, davon zu erzählen. Kaubisch sagt: «In gemischtgeschlechtlichen Anlaufstellen werden die Themen von Männern dominiert.»

In der Contact Anlaufstelle in Bern machen Frauen einen Viertel der Klient*innen aus. Einmal pro Woche, am Montag ab 17.30 Uhr, ist sie nur für Frauen geöffnet. In einer Weiterbildung sensibilisierte die Stiftung Contact die Mitarbeiter*innen zum Thema Gewalt und entwickelte einen Gesprächsleitfaden. Für die Klient*innen hat die Anlaufstelle in einer Aktionswoche Aushänge gemacht und Flyer verteilt. Sie plant, bei Neueintritten und Standortgesprächen mit den Klient*innen auch das Thema Gewalt zu besprechen. «Viele unserer Klient*innen haben schlechte Erfahrungen mit Ämtern gemacht, sie sind misstrauisch und fürchten sich», sagt Melody Di Antonio von Contact. Es könne helfen, wenn eine Beratung an einem Ort stattfindet, den die Frauen kennen. Darum bietet Lantana neu an, für eine Beratung – wenn eine Frau dies wünscht – zur Anlaufstelle zu kommen.

Schutzräume sind gefragt

Einen niederschwelligen Schutzraum für drogenabhängige Frauen fände die stellvertretende Leiterin des Frauenhauses Bern «definitiv sinnvoll». So sieht es auch Di Antonio. Doch die Herausforderung bestünde darin, Geld dafür aufzutreiben und ein geeignetes Haus zu finden. Und die Sicherheit der Bewohnerinnen zu gewährleisten. «Im schlimmsten Fall müssten die Frauen, um illegale Substanzen zu beschaffen, in das Umfeld zurückkehren, vor dem man sie schützen möchte», sagt Di Antonio. Dann könnten die Frauen und das Haus schnell gefunden werden.

«Wie oft habe ich die Flucht ergriffen und versucht der Gewalt zu entkommen. Doch überall wurde ich wieder zurückgeschickt, wo die Strafen immer härter ausfielen.»

Wenn drogen- oder alkoholabhängige Frauen bei Institutionen nicht die Unterstützung finden, die sie brauchen, bleibt ihnen oftmals nur ihr privates Umfeld. Für einige Monate nahm Kathy M. eine Frau bei sich auf, die von ihrem Partner geschlagen wurde. Am Anfang sei dies gut gegangen, sagt sie. Doch die Frau war alkoholabhängig und so habe auch Kathy M. wieder mehr getrunken, sie habe sich allein gelassen gefühlt. Irgendwann möchte sie anderen betroffenen Menschen den Weg aus der Gewalt hinaus zeigen.

«Manchmal frage ich mich, ob es mir heute nicht besser gehen würde, hätte ich in einem anderen Umfeld gelebt. Hätte, könnte, würde … Es ist, wie es ist. Noch muss ich einen Weg finden, in Zukunft besser damit umzugehen.»