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Klaus Petrus

Rechte für alle

TEXT KLAUS PETRUS

«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.» So lautet der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948. Der Weg zu dieser Deklaration war lang und steinig. Er führte von der englischen «Magna Charta Libertatum» von 1215 über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung anno 1776 und die «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte» nach dem Sturm auf die Pariser Bastille 1789 bis zur Charta der Vereinten Nationen, die im Gefolge der Verbrechen des Nationalsozialismus verabschiedet wurde. All diese Bemühungen hatten und haben den Zweck, uns Menschen vor Willkür, Gewalt und Krieg zu schützen – und zwar ungeachtet von Herkunft, Geschlecht, Religion oder Alter. Ohne Zweifel ist das ein hoher Anspruch, den umzusetzen bis heute eine der grossen Herausforderungen zwischenmenschlichen Zusammenlebens darstellt.

Ein interessanter Aspekt in der Geschichte der Menschenrechte ist, was die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum die «Ausweitung der Grenzen der Gerechtigkeit» nennt. So kamen Frauen und Sklav*innen lange Zeit nicht in den Genuss grundlegender Rechte; letzteren wurde sogar das Menschsein abgesprochen, sie wurden auf eine Stufe mit den Tieren gestellt. Dass diese Gruppen – zu ihnen gehörten lange auch Kinder und Beeinträchtigte – nicht weiterhin ausgegrenzt wurden, hatte nicht etwa damit zu tun, dass ihnen plötzlich der Status eines Menschen zugebilligt wurde, sondern dass sie als schutzbedürftig anerkannt wurden. Diese Idee, dass wir grundsätzlich verwundbar sind und also des Schutzes bedürfen, liegt auch der Menschenrechtsdeklaration zugrunde. Ihr zufolge sind Rechte nämlich eine Art Schutzschilder, die Individuen in ihrer Verwundbarkeit anerkennen und in ihrer Integrität und Würde schützen sollen.

Nun ist Verwundbarkeit eine Eigenschaft, die bei aller Verschiedenheit (wohl) sämtliche Menschen teilen – genau das machen die davon abgeleiteten Menschenrechte so universell. Doch sind nicht allein Menschen verwundbar, sondern grundsätzlich alle Lebewesen, die empfindungsfähig sind. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sind dies mit Ausnahme womöglich gewisser Insektenarten nebst Menschen auch die meisten anderen Tiere, also Katzen, Hunde, Vögel, Kühe, Schweine, Marder, Antilopen und Millionen und Milliarden andere.

Wenn Verwundbarkeit das Kriterium ist, um Rechte zu beanspruchen, und wenn nicht allein wir Menschen verwundbar sind, sondern ebenso alle anderen empfin-

dungsfähigen Tiere – müsste man da nicht, wie Nussbaum sagen würde, die Grenzen der Gerechtigkeit auf Tiere ausweiten?

Natürlich könnte man sich auf den Standpunkt stellen, nur Menschen hätten Rechte, weil sie eben Menschen sind und Tiere nun einmal keine Menschen sind. Doch wäre dieses Argument ähnlich schwach wie das von Sexist*innen oder Rassist*innen, die behaupten, ein Mann oder eine Weisse hätte allein schon aufgrund ihres Mannseins oder Weissseins mehr Rechte als alle anderen. Vielleicht steckt hinter derlei Haltungen am Ende schlicht die Angst, man müsse auf Privilegien verzichten oder auch, man werde vom Thron gestossen. Im Falle der Tiere hält sich dieses Narrativ von der Krone der Schöpfung bekanntlich seit Menschengedenken: Wir sind oben und sie unten.

Recht auf Leben, Freiheit und Unversehrtheit

Dabei würde die Ausweitung der Gerechtigkeit auf Tiere die Idee der Menschenrechte weder herabsetzen noch konkurrieren. Was sollten denn Fische mit einem Recht auf Redefreiheit anfangen oder Schweine mit dem Recht darauf, ihre Religion frei ausüben zu dürfen? Die Rechte, um die es hier geht, sind sehr basaler Art und schützen zunächst einmal nur die Verwundbarkeit eines jeden Individuums, ob das nun ich bin, ein Rind oder ein Huhn, nämlich: das Recht auf Leben, auf Freiheit und Unversehrtheit.

Das klingt ziemlich absolut, ist es aber nicht. Wie bei Menschenrechten, so würde auch bei Tierrechten gelten, dass sie durchaus verletzt werden dürfen – falls man dafür gute Gründe geltend machen kann. Notwehr zum Beispiel ist solch ein Grund, wieso man ein anderes verwundbares Wesen verletzen oder gar töten darf; allerdings nur – und das ist der wichtige Zusatz –, wenn es nicht anders geht, man also keinen Ausweg hat.

Trotz dieser Einschränkung hätte die Ausweitung der Gerechtigkeit auf Tiere natürlich schwerwiegende Konsequenzen, und zwar nicht bloss für sie, sondern auch für uns und unseren Umgang mit ihnen. Zum Beispiel: Angenommen, sogenannte Pelztiere – unzweifelhaft empfindungsfähige, verwundbare Lebewesen – hätten grundlegende Rechte wie ein Recht auf Leben, Unversehrtheit und Freiheit. Dürften wir sie dann einsperren und töten, um uns mit Pelzen einzukleiden? Zumindest in unseren Breitengraden wird das nicht der Fall sein. Und zwar deshalb, weil wir dafür keinen guten Grund anführen können. Denn wir haben durchaus ausreichend Alternativen, uns einzukleiden und sind nicht auf Pelzprodukte angewiesen. Leiden und Tod der Pelztiere sind unnötig – und würden also ihre Grundrechte verletzen.

Oder nehmen wir Schweine, Kühe, Hühner und andere sogenannte Nutztiere: Auch sie sind empfindungsfähig, auch sie sind verwundbar und wären damit Kandidaten für Rechte. Ist es nun gerechtfertigt, sie zu züchten, zu mästen, einzusperren und zu töten, allein zum Zwecke unserer Nahrung? Die Antwort hängt auch hier davon ab, ob wir auf diese tierlichen Produkte angewiesen sind oder ob wir Alternativen zur Verfügung haben. Wäre letzteres der Fall– und gerade in Wohlstandsländern spricht einiges dafür–, würde die Nutztierhaltung eine eklatante Verletzung der Tierrechte darstellen. Oder schliesslich das Beispiel der sogenannten Versuchstiere. Auch jetzt hängt alles an der Frage, ob es Alternativen zu Tierversuchen gibt; falls ja, müssten wir darauf verzichten, falls nein, wären sie unter gewissen Umständen vielleicht gerechtfertigt. Das ist bekanntlich eine strittige Frage und wohl schwieriger zu beantworten als die Beispiele der Pelz- oder Nutztiere.

Ohne Zweifel stellen sich auch unzählige grundsätzliche Fragen, würde man sich entschliessen, die Idee der Grundrechte nicht auf Menschen einzugrenzen, sondern auf alle empfindungsfähigen Tiere auszuweiten: Wenn wir aufhörten, Tiere für unsere Zwecke zu nutzen – für die Nahrung, die Kleidung, die Forschung oder fürs schiere Amusement –, was würde dann mit ihnen passieren? Müssten wir ihnen nicht noch weitere Rechte einräumen wie etwa das Recht auf ein artgerechtes Zusammenleben mit uns und anderen Tieren, und was würde das im Konkreten bedeuten? Müssten wir uns dann alle vegan ernähren? Würde unser Planet überhaupt so viel Pflanzennahrung hergeben? Und was hiesse das für Wirtschaft und Umfeld?

Zum Glück lassen sich fast alle grossen Fragen auch im Kleinen angehen, bei sich selbst und im Alltag. Wie zum Beispiel heute, am 10. Dezember, wo alljährlich die Menschenrechte gefeiert werden – und irgendwann vielleicht auch die Rechte aller Tiere.

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