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Lea Stuber

Vielleicht hörst du uns ja

TEXT LEA STUBER

Lieber Max

Du wunderst dich vielleicht, wer dir schreibt und warum. Du kennst mich ja gar nicht. Ich kenne dich auch nicht, wahrscheinlich heisst du nicht Max, vielleicht heisst du Yassin oder Andrea oder Enrique. Du könntest mein Vater sein oder mein Götti. Mein Bruder, mein Grossvater, ein Freund, mein Nachbar oder ein Kollege. Du könntest so viele sein. Ich will ehrlich sein, Max, ich weiss nicht viel über dein Leben.Wie es dir wohl ergangen ist in den letzten Jahren, Monaten, Wochen und Tagen, in einer Zeit mit Pandemie, Krieg und Krisen? Mit lauten Debatten und leisen Sorgen?

Was ich weiss über dein Leben: Du hättest aus deiner Wohnung in einem Vorort von Bern ausziehen müssen, die neue Besitzerin des Hauses, in dem du wohntest, wollte umbauen. Deine leisen Sorgen, was sind sie schon, dachtest du vielleicht, im Vergleich zu den grossen Krisen unserer Welt? Ich überlege mir, ob du vielleicht mit einer deiner liebsten Personen darüber gesprochen hast. Oder ob du zu denjenigen gehörst, die mit niemandem reden wollen oder können. Am Tag, an dem du hättest ausziehen müssen, klingelten deine neue Nachbar*innen, die Besitzer*innen, bei dir. Wohnungsübergabe.

Wenn ich darüber nachdenke, warum es auch mir schwerfällt innezuhalten und wahrzunehmen und ich stattdessen weitereile, weiterdrehe, immer weiter, und dabei nur mich selber sehe, mich um mich selber drehe, dann wird mir klar, warum ich dir heute, an diesem 2. Dezember, schreibe und nicht schon viel früher. Es ist das System, in dem wir leben, ein System, das wir auch anders bauen könnten, wenn wir denn wollten und die Kraft dazu hätten. Als deine Nachbar*innen klingelten, hast du deine Tür nicht geöffnet. Die Polizei, die deine Nachbar*innen schliesslich riefen, fand dich tot in deiner Wohnung, du hast Suizid begangen.

Max, ich weiss, ich bin zu spät dran. Auch ich interessiere mich erst jetzt für dein Leben, da dein Leben zu Ende ist. Wie einfach es ist, jetzt, da du nicht mehr da bist und deine Sorgen, dein Schmerz, deine Trauer offensichtlich werden, zu fragen, warum wir deinen Tod nicht verhindern konnten. Was hätte es gebraucht, überlege ich, damit dir das Leben wieder lebenswert erschienen wäre, was immer das konkret für dich bedeutet. Eine Wohnung, die dir niemand wegnehmen kann, zum Beispiel?

Ich kenne dich nicht, Max. Mir steht es nicht zu, nach so etwas Persönlichem wie deinen Gründen zu fragen. Vielleicht sind deine Gründe jetzt auch nicht mehr so wichtig. Denn: Sie mögen persönlich sein, doch kommen deine Gründe nicht auch daher, wie wir leben, wie wir zusammenleben? Vielleicht können wir, die zu spät kommen, etwas von dir lernen. Vielleicht lehrst du uns das Innehalten und Wahrnehmen, lehrst du uns, unsere Augen und Herzen wieder zu öffnen für die Menschen um uns herum und dafür, wie es ihnen geht. Wie banal das tönt, wie abgedroschen. Ein Satz, so oft gelesen, so oft gepredigt bekommen, dass ich seine Wärme gar nicht mehr spüre. Wahrscheinlich denkst du jetzt, ich bin naiv, wenn ich sage, dass es doch so einfach sein

ANZEIGE könnte, wenn wir nur unsere Prioritäten neu ordneten. «Nur», sagst du vielleicht und denkst an das ganze System, das dafür neu gebaut werden müsste. In dem anderes zählen müsste als Geld, Leistung, Wachstum. Ein System, das Menschen nicht untergehen liesse, in dem wir uns nicht verlieren würden.

Heute könnte ein guter Tag sein, um mit dem Umbauen zu beginnen. Um sanft an der Hand genommen zu werden. Aber nicht, um dir einen Weg aufzuzwingen, den du gar nicht gehen willst. Sondern um zu zeigen, dass du auf dem richtigen Weg bist, egal wohin er führt, auf dem Weg, der für dich der richtige ist. Wo du ankommen wirst. Advenire würde man auf Lateinisch sagen. Advenire wie Advent. Und, Max, jetzt merke ich, vielleicht geht es gar nicht um dich oder um mich oder um die Person, die da vorne die Strasse quert. Vielleicht geht es darum, was wir alle zusammen sind. Oder was wir sein könnten. Eine fühlende, einander verbundene Gesellschaft?

Lieber Max, ich würde dir sehr gerne sagen, dass ich da bin, dass wir da sind und dich hören. Vielleicht hörst du uns ja. Ruhe im Einklang mit dir und deinem Leben.

Unterstützung bei Sorgen: Möchtest du mit jemandem reden oder chatten? Unter der Telefonnummer 143 und 143.ch ist die Dargebotene Hand erreichbar, für Kinder und Jugendliche gibt es von Pro Juventute die Telefonnummer 147 und 147.ch, für Senior*innen 0800 890 890 und malreden.ch. Weitere Infos: reden-kann-retten.ch

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