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Serie: Die Unsichtbaren

Serie: Die Unsichtbaren  Wer sind die Menschen, an welche die Schweizer Mittelschicht immer mehr Arbeiten delegiert? Und wieso tut sie das? Eine Artikelreihe über neo-feudale Strukturen und ihre Hintergründe.

Kinderbetreuung massgeschneidert

Nannys werden immer beliebter, sie gelten als anpassungsfähig und zeitlich flexibel. Doch die Arbeit im Privathaushalt ist anfällig für Ausbeutung. Untereinander sind die Kinderbetreuerinnen kaum vernetzt.

TEXT ANINA RITSCHER FOTO DANIEL SUTTER

Wenn Luisa Vogt* ihren Arbeitsplatz verlässt, stellt sie sich manchmal eine Linie auf der Strasse vor dem Haus vor. Sobald sie die Linie übertritt, lässt sie die Arbeit emotional hinter sich. Den Trick lernte sie, als sie einen Jungen mit einer geistigen Behinderung betreute. «Seine Gesundheit beschäftigte mich auch nach Feierabend», sagt Vogt, Mitte 50, hochgestecktes Haar und helle Bluse. Seit über zwanzig Jahren arbeitet sie mit Kindern. Erst sorgte sie für ihre eigenen, dann für die von Freund*innen und schliesslich für die Kinder von Fremden. In dieser ganzen Zeit war sie allein verantwortlich für die Sicherheit und das Wohlbefinden der Kleinen, dauerverfügbar für andere. Sie putzte Nasen, klebte Pflaster, klopfte den Dreck von Kinderknien.

Vogts Arbeitsplatz ist das Familienleben anderer Leute. Was sie macht, nannte sich früher Kindermädchen, heute heisst es Nanny. Vogt macht all das, was die Eltern tun würden, wenn sie nicht bei der Arbeit wären. Sie holt die Kinder ihrer Arbeitgeber*innen vom Musikunterricht ab, bringt sie zur Physiotherapie, fragt Vokabeln ab, hilft bei den Hausaufgaben. Sie kocht, bastelt, arbeitet auch mal im Garten, wäscht ab, räumt Spielsachen weg. Meistens ist sie zehn Stunden am Stück bei ihren Arbeitgeber*innen im Haus, manchmal länger.

Rund fünf Prozent der Kinder unter dreizehn Jahren werden in der Schweiz von Au-pairs, Nannys oder Babysitter*innen betreut – Tendenz steigend. Die Medien berichten gar von einem Nanny-Boom. Denn in immer mehr Familien arbeiten beide Elternteile in hochbezahlten Stellen. Diese verlangen eine Flexibilität, welche Kindertagesstätten nicht immer anbieten können. An manchen Wohnorten gibt es zudem kaum öffentliche Kinderbetreuung. Nannys hingegen passen sich an die individuellen Bedürfnisse an.

Vor allem Akademikereltern

Früher, als ihre eigenen Kinder klein waren, arbeitete Vogt als Tagesmutter. «Jahrelang war meine Stube ein Kinderspielplatz», sagt sie. Das wollte sie irgendwann nicht mehr. Doch die Arbeit mit Kindern gefiel ihr. Also tauschte sie, sobald ihre Kinder älter waren, ihre eigene gegen die Stube anderer Familien. Zum Beispiel diejenige von Katrin Sommer*. Sie und ihr Mann zogen vor einigen Jahren aufs Land. Doch im Dorf gibt es keine Kindertagesstätte, und sie fanden keine Tagesmutter, die sich um ihre drei Kinder gleichzeitig kümmern konnte. «Uns blieb nur die Option, eine Nanny einzustellen», sagt Sommer. Also recherchierte sie im Internet und stiess dort auf eine Nanny-Vermittlung in der nächstgelegenen Kleinstadt. So fanden sie Luisa Vogt. Seit fast drei Jahren betreut nun Vogt die Kinder der Familie Sommer, einen Tag pro Woche. Daneben hilft sie von Zeit zu Zeit bei weiteren Familien aus. Meistens ist sie vom Frühstück bis zum Abendessen bei den Familien zuhause und zuständig für alles, was dazwischen passiert. Bei einigen Familien fallen Aufgaben neben der Kinderbetreuung an. Als ein Kind etwa Verdauungsprobleme hatte, führte Vogt ein Protokoll über seine Ernährung. Bei einer Familie macht sie gelegentlich die Wäsche. «Einige Familien sagen: Mach während des Tages, worauf du Lust hast. Andere haben genaue Vorstellungen, wie der Tagesablauf der Kinder zu sein hat.»

Die Familien schätzten vor allem ihre Anpassungsfähigkeit, sagt Vogt. Mal dauert eine Sitzung abends länger als geplant. Mal steht ein Elternteil auf dem Nachhauseweg im Stau. Dann bleibt sie so lange, bis einer von beiden nach Hause kommt. Und wenn Katrin Sommer etwa morgens früher aus dem Haus muss, sitzt auch Vogt schon früher am Frühstückstisch. «Ich richte mich nach den individuellen Bedürfnissen der Familie», sagt sie.

Dieser «Luxus» kostet. Fast vierhundert Franken pro Tag bezahlt Familie Sommer für das sorgenfreie Rundumpaket. Das können sich nur wenige leisten. «Würde ich als Verkäuferin arbeiten, wäre es wohl rentabler, selbst zuhause zu bleiben», sagt Sommer. Ab drei Kindern hätten sich die Kosten im Vergleich zur Kitabetreuung für sie selbst aber gelohnt. Laut einer Untersuchung der pädagogischen Hochschule Bern hat die Mehrheit der Eltern, die eine Nanny engagieren, einen Hochschulabschluss.

Vielleicht auch deswegen behagt Sommer die Bezeichnung «Nanny» nicht richtig. «Das klingt so nach Grossbritannien und als sähen wir uns als etwas Besseres», sagt sie. Gegenüber ihrem Umfeld spricht sie lieber von einer Tagesmutter, die zu ihr nach Hause kommt. Dabei ist der Unterschied bedeutend. Als Tagesmutter war für Vogt klar: Sie arbeitet bei sich zuhause und dort gelten ihre Regeln. Als Nanny ist das anders. Auch wenn sie selbst mal nicht mit den Gepflogenheiten in den Familien einverstanden ist: Vogt mischt sich nicht in das Familienleben und die Erziehung ihrer Arbeitgeber*innen ein. Manchmal bedeutet das aber, dass sie mehr Stress aushalten muss. Eine Familie etwa habe in einem Haus mit vielen Treppen gewohnt und keine davon war für Kleinkinder abgesichert. «Da konnte ich nicht ruhig bleiben und war den ganzen Tag angespannt.»

Manchmal gehen die Wünsche der Eltern zu weit. Zum Beispiel, als eine Familie von Vogt verlangte, mit den Kindern für die Schule zu lernen. Akademikereltern würden von ihren Kindern oft schu-