Sulzer Gesammelte Schriften: Décultot, Nannini (Hg.) Schriften zu Psychologie und Ästhetik

Page 1




J O HA N N G E O R G S U L Z E R

G E S A M M E LT E S C H R I F T E N KO M M E N T I E RT E AU S G A B E

H E R AU S G E G E B E N VO N E L I S A B E T H D É C U LT O T M I T B E G RÜ N D E T VO N HA N S A D L E R

BA N D 2

S C H WA B E V E R L AG


J O HA N N G E O R G S U L Z E R

SCHRIFTEN ZU P S YC H O L O G I E U N D Ä S T H E T I K H E R AU S G E G E B E N VO N E L I S A B E T H D É C U LT O T U N D A L E S S A N D R O NA N N I N I

S C H WA B E V E R L AG


Gedruckt mit Unterstützung der Alexander-von-Humboldt-Professur für ­neuzeitliche Schriftkultur und europäischen Wissenstransfer (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Bronzemedaille auf Titelei: Johann Georg Sulzer, o. J., von A. Abramson, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Auktion Meister & Sonntag (AMS), Stuttgart. Umschlaggestaltung: Atelier Mühlberg, Basel Schrift: Minion Pro, Frutiger Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: Beltz Graphische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-3842-1 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-5103-1 DOI 10.24894/978-3-7965-5103-1 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch


In ha lt Zu dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Editorische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVII 1. Recherches sur l’origine des sentimens agréables et desagréables (1751–1752) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2. Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1762) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

3. Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und ­unangenehmen Empfindungen (1773) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

4. Analyse du Génie (1757) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

208

5. Entwickelung des Begriffs vom Genie (1773) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

6. Pensées sur l’Origine et les differens emplois des Sciences et des Beaux-Arts (1757) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

7. Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste (1781) . . . . . . . . . . . . . . .

244

8. Explication d’un paradoxe psychologique ; Que non seulement l’homme agit & juge quelquefois sans motifs & sans raisons apparentes, mais même malgré des motifs pressans & des raisons convainquantes (1759) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

258

9. Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet (1773) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

10. Observations sur les divers états où l’âme se trouve en exerçant ses facultés primitives, celle d’appercevoir et celle de sentir (1763) . . . . . . .

290


VI

Inhalt

11. Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet (1773) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

302

12. Sur l’apperception, et son influence sur nos jugemens (1764) . . . . .

316

13. Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile (1773) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

14. De l’énergie dans les ouvrages des beaux-arts (1765) . . . . . . . . . . . . .

352

15. Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste (1773) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

367

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

385

Herausgebereingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

563

Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

567

Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

569

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

609

Sachregister (Deutsch, Französisch, Latein, Englisch) . . . . . . . . . . . . . . .

621


Zu di e ser Au sg a be Johann Georg Sulzer ist einer der Gründungsväter der Psychologie und Ästhetik. Der vorliegende Band seiner Gesammelten Schriften bietet zum ersten Mal eine philologisch zuverlässige sowie eine detaillierte Kommentierung und Kontextualisierung seiner Beiträge zu diesen Kernwissenschaften der Aufklärungsepoche. Die Schriften aus den 1750er und 1760er Jahren, die hier ediert und ausgelegt werden, gewähren einen aufschlussreichen Einblick in die Genese und Transformation des philosophischen Denkens eines Aufklärers, der von der Kraft der Vernunft weniger überzeugt war als von der Wirkmächtigkeit der dunklen, nicht rationalen Seiten der menschlichen Seele. Ein wichtiges Anliegen der Herausgeberin und des Herausgebers dieses Bands war es dabei, die Schriften des Philosophen sowohl in der französischen Originalfassung als auch in der deutschen Übersetzung aus dem 18. Jahrhundert vorzulegen, um dadurch u. a. den Wandel der deutschen Sprache, insbesondere mit Blick auf die psychologische, ästhetische und philosophische Terminologie, in einem entscheidenden Moment ihrer Formierungsphase zu erfassen. Im Laufe der komplexen Übersetzungsgeschichte, die Sulzers Schriften in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfahren und die die vorliegende Edition zum ersten Mal zu beleuchten versucht, werden Kernbegriffe seines Denkens, wie etwa «sentiment», «sentir» und «sensibilité» durch verschiedene Termini – so z. B. «Empfindung», «Gefühl», «empfinden», «fühlen», «Sinnlichkeit», «Empfindlichkeit», «Empfindsamkeit» – wiedergegeben. Hiermit gewährt die vorliegende Edition nicht nur Zugang zu Sulzers Psychologie und Ästhetik, sondern auch zur Sprach- und Begriffsgeschichte der deutschen Philosophie im europäischen Kontext der Aufklärungsepoche. Im August 2023             Elisabeth Décultot (Halle/Saale),                   Alessandro Nannini (Faenza)



Da nk Für einen fortwährenden Austausch haben wir den Kolleginnen und Kollegen der Alexander von Humboldt-Professur für neuzeitliche Schriftkultur und europäischen Wissenstransfer der Universität Halle sowie des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) zu danken. Unser Dank geht insbesondere an Xavier Albanel, Martin Hinze, Martin Gärtner, Ronny Edelmann und Baptiste Baumann, die uns bei der umsichtigen Transkription und Kollationierung der Schriften Sulzers unterstützt haben.



E i nl e i t u ng Sul z e rs « P h ysi k der Se el e» Elisabeth Décultot und Alessandro Nannini Im Zentrum von Sulzers Interessen lag ursprünglich die Seelenkunde. Schon in der ersten, 1745 erschienenen Edition des Kurzen Begriffs aller Wissenschaften räumte er der Psychologie als Wissenschaft der Seele eine zentrale Bedeutung ein. Die Wissenschafft von der Seele des Menschen überhaupt heißt Psychologie. Diese muss also zeigen, daß die Seele ein einfaches Wesen sey, was vor Eigenschafften dieselbe habe, und wie eine in der andern gegründet ist. Den Nutzen dieser Wissenschafft siehet jedermann. Wie viel ist uns daran gelegen, dass wir das Wesen unserer Seelen recht kennen? Ohne diese Erkenntniß wissen wir nichts gewisses von der Unsterblichkeit derselben, wir wissen nicht, woher es kommt, daß sie dieses oder jenes liebet, das andere aber hasset, also ist uns ohne diese Wissenschafft das Fundament der Tugend und des Lasters unbekannt. Daher siehet jedermann die Nothwendigkeit derselben. Man hat diese Wissenschafft bey unsern Zeiten sehr hoch gebracht, jedoch weiß man nicht, ob nicht noch andere bis dahin unbekannte Dinge in der Seele sind. Und könnte insonderheit die Lehre von den Affekten, ihrer Verwandschafft, Erregung, Unterdrückung, noch weit höher getrieben werden.1

In dieser frühen Schrift weist Sulzers Psychologiebegriff schon Merkmale auf, die seine psychologischen Untersuchungen der folgenden Jahrzehnte nach1

Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschafften. Worinn die natürliche Verbindung aller Theile der Gelehrtheit gezeiget, auch ein jeder ins besondere nach seinem Innhalt, Nutzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. Leipzig, Johann Christian Langenheim, 1745, S. 44–45; SGS, Bd. 1, S. 23 (§ 59). 1759 publizierte Sulzer eine zweite, gänzlich veränderte und erheblich vermehrte Auflage dieses Werkes: Sulzer: Kurzer Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Inhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. Zweyte ganz veränderte und sehr vermehrte Auflage. Leipzig, Johann Christian Langenheim, 1759 (SGS, Bd. 1, S. 51–186).


XII

Einleitung

drücklich prägen werden. So zeigt der hier zitierte § 59 des Kurzen Begriffs für die empirischen Erscheinungen des Seelenlebens wie z. B. die Affekte ein besonderes Interesse und lässt schon damit eine gewisse Vorliebe für die induktive Methode der psychologia empirica gegenüber der deduktiv orientierten psychologia rationalis erkennen. Wenn Sulzer dieser empirischen Orientierung im Umgang mit psychologischen Fragestellungen bis in seinen letzten Publikationen treu geblieben ist, so hat er sich aber auch mit grundlegenden Fragen der Seelentheorie befasst. 1751 hält er vor der Akademie der Wissenschaften in Berlin seinen ersten Vortrag als ordentliches Mitglied dieser Institution, der er seit 1750 angehört. Thema dieser umfangreichen Arbeit ist der Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (Recherches sur l’origine des sentimens agréables et désagréables) – ein Feld, das er zunächst unter Anlehnung an die Leibniz’sche und Wolff’sche Auffassung der Seele erkundet, wobei er sich in entscheidenden Punkten von seinen beiden Meistern auch distanzieren wird.2 Der «Grundtrieb» der Seele bestehe darin, Ideen zu erzeugen, legt er in den Eingangszeilen dieser Schrift fest.3 Eine solche Konzeption setzt den von Wolff in der Psychologia rationalis (1734) aufgegriffenen Leibniz’schen Begriff der «percepturitio» voraus, wonach in jeder Vorstellung das Verlangen liegt, die Vorstellung selbst zu verändern.4 Auf dieser Grundlage, so Sulzer, empfinde man Lust, wenn der Grundtrieb der Seele, Ideen zu erzeugen, in seinem Fortgang ge2

3 4

Sulzer: Recherches sur l’origine des sentimens agréables et désagréables. In: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles Lettres de Berlin, Classe de philosophie spéculative, Année 1751. Berlin, Haude et Spener, Libraires de la Cour & de l’Académie Royale, 1753, S. 57–75 (SGS, Bd. 2, S. 1–15), 76–100 (SGS, Bd. 2, S. 15–31) [Teil 1 und Teil 2]; Année 1752. Berlin, Haude et Spener, Libraires de la Cour & de l’Académie Royale, 1754, S. 350–372 (SGS, Bd. 2, S. 32–48), 373–390 (SGS, Bd. 2, S. 49–61) [Teil 3 und Teil 4]. Dt. Übersetzungen: Ders.: Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. Berlin, verlegts Friedrich Nicolai, 1762 (SGS, Bd. 2, S. 62–138); Ders.: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. In: Ders.: Vermischte Philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig, Weidmanns Erben und Reich, 1773 (ND Hildesheim/New York, Olms, 1974, Teil 1), S. 1–98 (SGS, Bd. 2, S. 139–207). Zu dieser Abhandlung und ihren deutschen Versionen vgl. hier Kommentar S. 387–464. Sulzer, Untersuchung über den Ursprung (wie Anm. 2), SGS, Bd. 2, S. 145. Christian Wolff: Psychologia rationalis (1734). Frankfurt/Leipzig, Renger, 1740 (ND hg. von Jean Ecole, Hildesheim, Olms, 1972), § 481, S. 396.


Einleitung

XIII

fördert oder angestachelt werde; Unlust, wenn dieser Grundtrieb gehemmt sei. Nach der Erörterung des Vergnügens im Allgemeinen im ersten Aufsatz konzentriert sich Sulzer in den folgenden Abhandlungen auf drei spezifische Arten des Vergnügens: das Vergnügen des intellektuellen Vermögens (dabei insbesondere das durch die Schönheit hervorgerufene Vergnügen), das Vergnügen der Sinne und das moralische Vergnügen. Die Lustdiskussion, die Sulzer bereits in seinen Aufsätzen der 1740er Jahre in einem physikotheologischen Rahmen entwickelt hatte,5 wird nun aus psychologischer Sicht erforscht. Die Spur der Verflechtung dieser beiden Ansätze findet sich am Anfang der dritten Abhandlung zum Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen: Dort wird der Mensch ähnlich wie Stein und Tier als ein Werkzeug betrachtet, das der Schöpfer des Universums benutzt, um seine Ziele zu verfolgen.6 Während andere Lebewesen jedoch völlig blind sind, hat der Mensch manchmal die Fähigkeit, «die geheimen Triebfedern»7 zu durchdringen, aus denen die Natur ihn handeln lässt, und sie zu seinem Vorteil zu nutzen. Wenn also die Besonderheit des Menschen darin besteht, die geheimen Antriebsfedern zu kennen, die ihn im Rahmen des breiteren teleologischen Schöpfungsprojekts beleben, kommt der psychologischen Forschung eine grundlegende Rolle in der philosophischen Anthropologie zu. Im Mittelpunkt dieses Felds steht die Untersuchung der Beweggründe für unser Handeln, ein Bereich, für den sich Wolff und Hume bereits interessiert hatten und den Sulzer zum Kern seiner psychologischen Arbeiten macht. In seiner Abhandlung Sur l’apperception, et son influence sur nos jugemens (Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile), die in den Jahrbüchern für das Jahr 1764 veröffentlicht, aber bereits 1753 der Berliner Akademie vorgelegt wurde, gibt Sulzer dieser Art der Motivforschung einen Namen: «Physik der Seele».8 Während die Sammlung empirischer Daten über die Phänomene 5

6 7 8

Sulzer: Versuch einiger Moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur (1745). Mit einer Vorrede von Herrn A. F. W. Sack. Zweyte etwas vermehrte Auflage. Berlin, Haude und Spener, 1750, S. 33 (SGS, Bd. 5). Sulzer, Untersuchung über den Ursprung (wie Anm. 2), SGS, Bd. 2, S. 174. Ebd., S. 174. Sulzer: Sur l’apperception, et son influence sur nos jugemens. In: Histoire de l’Académie (wie Anm. 2), Classe de philosophie spéculative, Année 1764. Berlin, Haude et Spener, Libraires de la Cour & de l’Académie Royale, 1766, S. 392–404 (SGS, Bd. 2, S. 316–332, hier S. 317). Dt. Übersetzung: Ders.: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile. In: Ders.: Vermischte Philosophische Schriften (wie Anm. 2


XIV

Einleitung

der Seele bereits seit der Antike bekannt sei, fehle es noch sehr an einer metaphysischen Theorie des Menschen oder an einer Physik der Seele, konstatiert Sulzer. Denn so wie in der Medizin die empirische Forschung nicht ausreicht, sondern ein richtiges Verständnis der untersuchten Phänomene erfordert wird, um Patienten zu heilen, so verhält es sich auch im Bereich der Psychologie. Die Physik der Seele übernimmt dabei nicht nur die Aufgabe, die geheimsten Federn des psychischen Lebens zu erklären, sondern versucht, sie zum Nutzen des moralischen Lebens des Menschen einzusetzen. Ohne die Physik der Seele droht die Moralwissenschaft, «uns oft in den wichtigsten Fällen [zu verlassen]».9 Die Physik der Seele erweist sich somit als wertvollste Verbündete der Moralwissenschaft in ihrer Funktion als Medizin für die Seele.10

Empfinden und Erkennen Die Frage des Vergnügens ist die erste, die Sulzer aus dieser Perspektive behandelt. Die Untersuchung des Vergnügens ist von entscheidender Bedeutung, da sie es ermöglicht, die antreibende Dimension des psychologischen Motivs zu erforschen. Denn wenn es in jeder Vorstellung einen conatus zu einer neuen Vorstellung gibt, so wird die Richtung dieses conatus durch die Prognose einer zukünftigen Lust (oder Unlust) gegeben: «[U]nsre angenehmen und unangenehmen Empfindungen [sind] durchgehends die Bewegungsgründe unsrer Handlungen».11 Für Sulzer sind deutliche Vorstellungen zunächst am besten geeignet, das Bedürfnis der Seele nach immer neuem Verarbeitungsmaterial zu befriedigen: Die Kraft der Seele ist dahin bestimmt, dass sie die klaren Ideen lieber als die dunklen und die deutlichen lieber als die bloß klaren hat. Der Gegenstand sey, welcher er wolle, so wünscht ein jeder lieber eine deutliche als eine verworrne Vorstellung davon zu haben. Auch lässt uns in der That eine deutliche Vorstellung von einerley Gegenstande

9 10

11

[ND Teil 1]), S. 199–224 (SGS, Bd. 2, S. 333–351, hier S. 334). Zur «Physik der Seele» vgl. hier Kommentar 536–539. Ebd., S. 334. Vgl. Stefanie Buchenau: Sulzers «Physik der Seele» zwischen Medizin und Philosophie. In: Johann Georg Sulzer – Aufklärung im Umbruch. Hg. von Elisabeth Décultot, Philipp Kampa und Jana Kittelmann. Berlin/Boston, De Gruyter, 2018, S. 36–50. Sulzer, Untersuchung über den Ursprung (wie Anm. 2), SGS, Bd. 2, S. 175.


Einleitung

XV

mehr, als eine undeutliche erkennen; und befriedigt mithin das Bedürfniß der Seele auch besser.12

Schon in der dritten Abhandlung zum Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen fügt Sulzer jedoch einige Angaben hinzu, die sich für die Entwicklung seines Denkens als grundlegend erweisen werden. Die Sinnesvorstellungen als solche erlauben keine begriffliche Deutlichkeit, wie schon bei Leibniz und Wolff,13 aber sie üben eine größere Wirkung auf die Seele als die deutlichen Vorstellungen aus.14 So haben die Vorstellungen der «gröberen» Sinne wie Tastsinn, Geschmack oder Geruch eine größere Macht über die Seele als die der geistigeren Sinne (Sehen und Hören), die wiederum eine größere Kraft ausüben als intellektuelle Vorstellungen. Das Gleiche gilt für den Schmerz, denn weder das Auge noch das Ohr noch sogar der Geruchssinn sind in der Lage, den wahren Schmerz zu erwecken, der dem Tastsinn vorbehalten ist. Eine Zunahme der Deutlichkeit einer Vorstellung scheint also zu einer Abnahme der Kraft zu führen, mit der die Seele affiziert wird, und damit zu einer geringeren Variation der Seelentätigkeit: Ich gerathe hier noch auf eine andre Bemerkung über die Verschiedenheit der Sinne, die mir ziemlich merkwürdig scheint. Diejenigen, welche die schwächsten Eindrücke auf die Seele machen, sind eben die, die sich dem Geistigen am meisten nähern. Die bloß intellektuellen Ideen rühren weit weniger als die sinnlichen Empfindungen; aber dafür sind sie auch deutlicher.15

12 13

14

15

Ebd., S. 146. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate, et ideis. In: Ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl I. Gerhardt. Bd. 4. Berlin, Weidmann, 1880, S. 422–426; Christian Wolff: Psychologia empirica (1732). Frankfurt/Leipzig, Renger, 1738 (Nachdruck hg. von Jean Ecole. Hildesheim, Olms, 1968), §§ 54–55, S. 33. Die Klarheit ist eine Eigenschaft des Vorstellungsinhalts, während die Wirkung sich aus der Stärke der angenehmen bzw. unangenehmen Empfindung ableitet, die die Vorstellung in der Seele hervorruft. Sulzer, Untersuchung über den Ursprung (wie Anm. 2), SGS, Bd. 2, S. 182. Zu dieser umgekehrten Proportionalität vgl. Einführung zu Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, SGS, Bd. 2, S. 511–515.


XVI

Einleitung

Obwohl die allgemeine These der Abhandlungen zum Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen für die Vorteile deutlicher Vorstellungen plädiert, sind also jene theoretischen Keime dort bereits sichtbar, die dazu führen werden, zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des Verhältnisses zwischen Klarheit und Wirksamkeit der seelischen Vorstellungen zu führen. Das erste wichtige Ergebnis dieser Entwicklung von Sulzers Denken ist der Aufsatz Explication d’un paradoxe psychologique (Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes, 1759),16 in dem Sulzer auf die erwähnte Passage der Abhandlung über das sinnliche Vergnügen zurückgreift, um festzustellen, dass «eine Vorstellung um so viel mehr Gewalt über die Empfindung hat, um so viel verworrener sie ist».17 Sulzer bringt nun diese Beziehung zwischen Verwirrung und Stärke der Vorstellung mit der Funktionsweise der Nerven in Verbindung. Das angenehme oder unangenehme Empfinden, hervorgerufen durch verworrene oder obskure Vorstellungen, betreffe mehr Nerven als eine deutliche Vorstellung und sei somit stärker als Letztere. Wie Sulzer in diesem Aufsatz darlegen wird: 16

17

Sulzer: Explication d’un paradoxe psychologique ; Que non seulement l’homme agit & juge quelquefois sans motifs & sans raisons apparentes, mais même malgré des motifs pressans et des raisons convainquantes. In: Histoire de l’Académie (wie Anm. 2), Classe de philosophie spéculative, Année 1759. Berlin, Haude et Spener, Libraires de la Cour & de l’Académie Royale, 1766, S. 433–450 (SGS, Bd. 2, S. 258–272). Dt. Übersetzung: Ders.: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe, sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe urtheilet und handelt. In: Ders.: Vermischte Philosophische Schriften (wie Anm. 2 [ND Teil 1]), S. 99–121 (SGS, Bd. 2, S. 273–289). Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes (wie Anm. 16), S. 283. Sulzer wird in der folgenden Abhandlung erklären: «Man kann so gar sagen, daß die Stärke der Empfindung allemal dem Grade der Verwirrung, die in den Vorstellungen herrschet, gemäß ist; so, daß dieselbe Sache, die man sich auf eine doppelt verworrene Art vorstellet, eine zweymal stärkere Empfindung hervorbringt, als sie hervorbringen würde, wenn die Vorstellungsart zweymal weniger verworren wären.» Vgl. Sulzer: Observations sur les divers états où l’âme se trouve en exerçant ses facultés primitives, celle d’appercevoir et celle de sentir. In: Histoire de l’Académie (wie Anm. 2), Classe de philosophie spéculative, Année 1763. Berlin, Haude et Spener, Libraires de la Cour & de l’Académie Royale, 1770, S. 407–420 (SGS, Bd. 2, S. 290–301). Dt. Übersetzung: Ders.: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet. In: Ders.: Vermischte Philosophische Schriften (wie Anm. 2 [ND Teil 1]), S. 225–243 (SGS, Bd. 2, S. 302–315, hier S. 306).


Einleitung

XVII

Man bemerke also zuvörderst, daß nichts in der Seele vorgehe, ohne daß zu gleicher Zeit eine gewisse gleichförmige Bewegung in dem Nervensysteme erfolge, so, daß einer jeden Vorstellung in der Seele eine gewisse Erschütterung in den Nerven entspricht. Bey der bloßen Vorstellung wirken nur die Nerven des Gehirns, und je mehr die Vorstellung zusammengesetzt ist, desto größer ist die Anzahl der sich bewegenden Nerven. Wenn sich die Vorstellung in Empfindung verwandelt, so theilt sich diese Bewegung den Nerven der Brust mit. Das Gehirn scheint also der Sitz der Gedanken, und das Zwerchfell der Sitz der Empfindung und der unsern Willen ausrichtenden Kräfte der Seele zu seyn.18

In diesem Sinne kann das Vergnügen nur mit verworrenen Vorstellungen verbunden sein. Dies erklärt Sulzer in einer bedeutenden Fußnote, die der ersten deutschen Ausgabe der Abhandlungen zum Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen im Jahr 1762 hinzugefügt wurde: Hier findet sich eine kleine Lücke, die der Verfasser zu spät wahrgenommen, um sie in der Urschrift auszufüllen. Der Leser schalte also zwischen dem letzten und dem nachfolgenden Abschnitte diese Ergänzung ein: Dieses sind die allgemeinen Bedingungen in der Seele, die sie zu dem Vergnügen und dem Verdrusse mehr oder weniger vorbereiten. Die besondere Bedingung und nähere Vorbereitung aber so wohl zu angenehmen als unangenehmen Empfindungen ist diese: daß sie sich eine Menge Sachen zugleich in einem solchen Grade der Undeutlichkeit vorstelle, daß der ganze Gegenstand, worinn alle diese besondere Dinge sich befinden, dem Geiste nur klar vorschwebt.19

Wenn also nicht geleugnet wird, dass eine deutliche Vorstellung der Ursprung des Vergnügens sein kann, ist doch die verworrene imaginative Vision des Objekts, die der deutlichen Vorstellung folgt, die «nähere Vorbereitung» des Vergnügens. Seine Reflexion über das Wesen des Empfindens führt Sulzer in dem Aufsatz von 1763 weiter aus: Observations sur les divers états où l’âme se trouve en exerçant ses facultés primitives, celle d’appercevoir et celle de sentir (Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Haupt18

19

Sulzer, Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes (wie Anm. 16), SGS, Bd. 2, S. 283. Sulzer, Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (wie Anm. 2), SGS, Bd. 2, S. 81.


XVIII

Einleitung

vermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet).20 Hier entwirft er ein dezidiert zweipoliges Modell, das zwei ebenbürtige, voneinander unabhängige «Hauptvermögen» postuliert, das «appercevoir» und das «sentir»: «Das eine ist das Vermögen, sich etwas vorzustellen, oder die Beschaffenheiten der Dinge zu erkennen; das andere, das Vermögen zu empfinden, oder auf eine angenehme oder unangenehme Art gerührt zu werden.»21 Insofern beide Hauptvermögen in der Seele als Vorstellungskraft verwurzelt sind, tritt das Empfinden nicht getrennt von der Idee von etwas auf. Um eine Veränderung unseres inneren Zustands wahrnehmen zu können, bedarf es daher zunächst einer Idee, die sie hervorruft. Bei der Ausübung des Empfindungsvermögens wird unsere Aufmerksamkeit jedoch nicht auf den Vorstellungsinhalt dieser Idee gelenkt, der oft zu obskur ist, um bewusst zu sein, sondern nur auf ihre angenehmen oder unangenehmen Auswirkungen auf die Seele. Im Vergleich zu den Abhandlungen der frühen 1750er Jahre ist deshalb das Empfinden nicht mehr die subjektbezogene Dimension jeder Idee, sondern nur noch der Ideen, die stark genug sind, um die Nerven der Brust zu affizieren. Konnte in den Recherches sur l’origine des sentimens agréables et désagréables die angenehme Empfindung sowohl durch eine deutliche als auch durch eine verworrene Vorstellung geweckt werden, so können nun ausschließlich die verworrenen und obskuren Ideen das Empfinden auslösen. Die Wirkung des «appercevoir» wird nun die Form der Selbstvergessenheit annehmen, die auf die Absorption unserer gesamten Aufmerksamkeit durch ein Objekt zurückzuführen ist. Um den unterschiedlichen Zustand zu bezeichnen, in den die Seele bei der Ausübung der beiden Vermögen gerät, unterscheidet Sulzer den «Zustand der Empfindung», der aus der vorherrschenden Ausübung des Empfindungsvermögens herrührt, und den «Zustand des Nachdenkens», der sich aus der vorherrschenden Ausübung des Vorstellungsvermögens ableitet. Es ist offensichtlich, dass der Zustand des Empfindens und der Zustand des Nachdenkens einander entgegengesetzt sind: Nicht zufällig nennt Sulzer sie «die 20

21

Sulzer, Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (wie Anm. 17), SGS, Bd. 2, S. 302–315. Der französische Begriff «appercevoir» ermöglicht es, die Tatsache zu betonen, dass sich die Seele bei der Ausübung dieses Vermögens des Vorstellungsinhalts bewusst ist; der deutsche Ausdruck «sich etwas vorzustellen» ist mehrdeutig, denn die Seele stellt sich etwas vor, auch wenn sie überwiegend das Empfindungsvermögen ausübt.


Einleitung

XIX

am weitesten von einander abgehenden Zustände der Seele».22 Wenn es sich bei diesen Zuständen um Extreme handelt, impliziert dies jedoch auch, dass Empfindung und Nachdenken trotz ihres Unterschieds Teil desselben Kontinuums sind. Die meiste Zeit wird die Aktivität der Seele nicht von einem einzigen grundlegenden Vermögen beherrscht, sondern schwankt schnell und kontinuierlich zwischen Empfinden und Nachdenken. In solchen Fällen befindet sich die Seele in einem Zustand der Betrachtung oder Kontemplation – dem Zustand, der den mittleren Teil des Kontinuums der Seelenzustände einnimmt: Aus diesen Bemerkungen folget, daß es einen Zustand giebt, wo der Mensch sehr deutlich sieht und nichts empfindet; einen andern, wo er stark empfindet und nichts sieht; und einen dritten, wo er klar genug sieht und empfindet, um das, was ausser ihm und in ihm ist, zu bemerken.23

Entscheidend für den Genuss der Schönheit ist der Zustand der Kontemplation, in dem sich die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Details des Objekts und unmittelbar danach auf den Eindruck richtet, den es auf uns macht. Sie ist aber auch für das psychologische Leben von Belang, denn sie garantiert ein größeres Bewusstsein (apperception) von uns selbst und damit «diejenige Handlung des Geistes, wodurch wir unser Wesen von den Ideen, welche uns beschäfftigen, unterscheiden, und auch deutlich wissen, was wir thun und was in uns und um uns vorgeht».24 Wenn die Seele über einen längeren Zeitraum nur das Empfindungsoder nur das Vorstellungsvermögen ausübt, wird das Bewusstsein hingegen immer schwächer, weil die ihm zugrunde liegende Unterscheidungstätigkeit, die durch die schnelle und abwechselnde Ausübung der beiden Grundfähigkeiten gewährleistet wird, immer mühsamer wird.

Die Stärke der Empfindung und die Paradoxien der Seele Sulzer ist besonders daran interessiert, die Ausübung des Empfindungsvermögens und den daraus resultierenden Zustand der Empfindung zu unter22

23 24

Sulzer, Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (wie Anm. 17), SGS, Bd. 2, S. 310. Ebd., S. 312. Sulzer, Von dem Bewußtseyn (wie Anm 8), SGS, Bd. 2, S. 335.


XX

Einleitung

suchen, weil der Zustand der Empfindung für die Motivationsdynamik der Seele gewichtig ist, mit der sich die Physik der Seele befassen muss. Wenn angenehme und unangenehme Empfindungen «durchgehends die Bewegungsgründe unsrer Handlungen» sind, wie Sulzer bereits in den Recherches sur l’origine des sentimens agréables et désagréables festgestellt hatte,25 und wenn sie, wie Ende der 1750er Jahre klar wurde, von den verworrenen und obskuren Vorstellungen der Seele abhängen, dann wird es das Studium dieser Vorstellungen ermöglichen, in die Mechanismen einzudringen, die die geheimen Triebfedern der Seele steuern. Auf dieser Grundlage wird es insbesondere möglich werden, die Paradoxien der Seele zu erklären und diese zu unserem Vorteil zu nutzen. Um die Dilemmata des psychologischen Lebens zu verstehen, hatte Wolff die Unterscheidung zwischen dem vorhergehenden und dem nachfolgenden Willen vorgenommen. Da das Begehren vom Wissen und damit von einer Vorstellung des Guten abhängt, ist es auf eine veränderte Vorstellung des Guten zurückzuführen, wenn jemand nicht dem folgt, was er oder sie für sein oder ihr Gutes gehalten hat. So will Lazarus in dem von Wolff angeführten biblischen Beispiel Croesus um ein Almosen bitten, weil er weiß, dass dieser ein reicher Mann ist. Die Vorstellung eines reichen Almosens ist also das Motiv von Lazarus’ vorhergehendem Willen. Dass er es dennoch unterlässt, bei Croesus zu betteln, ist darauf zurückzuführen, dass er dessen Drohungen fürchtet. Diese Furcht ist ein neues Motiv, das das vorhergehende übertrifft; und da sie dafür spricht, sich des Bettelns zu enthalten, ist der daraus resultierende Wille dem vorhergehenden entgegengesetzt.26 Für Sulzer reicht der Gegensatz zwischen vorhergehendem und nachfolgendem Willen nicht aus, um eine Reihe von psychologischen Paradoxien zu erklären, in denen voluntas und noluntas gleichzeitig auftreten, wie im Fall des frommen Mannes, der nicht anders kann, als zu lästern, wenn er Gott loben möchte.27 Dabei genügt es nicht, auf einen Meinungswandel hinzuweisen, sondern es ist notwendig, «die verborgene Kraft zu entdecken, die uns gegen

25 26

27

Sulzer, Untersuchung über den Ursprung (wie Anm. 2), SGS, Bd. 2, S. 175. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1720). Halle, Renger, 1751 (Nachdruck hg. von Charles A. Corr. Hildesheim/Zürich/New York, Olms, 1983), § 524, S. 319–321. Sulzer, Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes (wie Anm. 16), SGS, Bd. 2, S. 277.


Einleitung

XXI

unser Gutbefinden handeln lässt, und zu sehen, wie sie solches tun könnte».28 Um diese Fälle zu erklären, greift Sulzer auf die Theorie der dunklen Wahrnehmungen zurück, die von Leibniz eingeführt und von einigen seiner Anhänger weiterentwickelt wurde. Obwohl er sie nicht direkt erwähnt, denkt Sulzer zweifellos an Israel Gottlieb Canz und Alexander Gottlieb Baumgarten, die zur psychologischen Untersuchung des Seelengrundes als Inbegriff dunkler Vorstellungen beigetragen haben – jener dunklen Vorstellungen, die in ihrem Vorstellungsinhalt vergessen oder nicht bewusst wahrgenommen werden, aber in ihrer motivierenden Kraft äußerst mächtig sind.29 Schon in den Überlegungen von Canz und Baumgarten wurden dunkle Vorstellungen als Grundlage von Handlungen gesehen, die scheinbar nichts mit früheren Seelenzuständen zu tun haben, wie im Fall der plötzlichen dichterischen Eingebung,30 die auch Sulzer etwas später unter dem Eintrag «Begeisterung» in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste erwähnen wird.31 Auf dieser Grundlage kommt Sulzer zu dem Schluss, dass die dunklen Vorstellungen eine sofortige Wirkung auf die Seele ausüben können, während die Vernunft immer viel Zeit brauche, um die Stichhaltigkeit einer Vorstellung umsichtig zu überprüfen: «[W]ir werden von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen. Es ist also nicht möglich, ihnen geradezu zu widerstehen. Wir fühlen die Wunde, ohne den Pfeil zu sehen, der uns verwundet hat.»32 Im Kampf mit dem Erkennen sind daher die Empfindungen oft siegreich und leiten uns zu Handlungen, deren Ursache wir rational nicht nachvollziehen können. Die 28 29

30

31

32

Ebd., S. 279. Vgl. Alessandro Nannini: At the Bottom of the Soul. The Psychologization of the «Fundus Animae» between Leibniz and Sulzer. In: Journal of the History of Ideas, 82, 2021, S. 51–72. Vgl. [Israel Gottlieb Canz]: Philosophiae Wolffianae ex graecis et latinis auctoribus illustratae, maxime secundum animae facultatem cognoscendi consensus cum theologia per praecipua fidei capita. Frankfurt/Leipzig, o. V., 1737, S. 65; Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik (1750–1758). Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach. 2 Bde. Hamburg, Meiner, 2007. Bd. 1, § 80, S. 65. Sulzer: Art. Begeisterung. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln. 2 Bde. Leipzig, M. G. Weidemanns [sic, Bd. 1] Erben und Reich, 1771–1774 (SGS, Bd. 3). Bd. 1, S. 136–142, hier S. 138. Sulzer, Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (wie Anm. 17), SGS, Bd. 2, S. 314.


XXII

Einleitung

dunklen Vorstellungen können also nicht «durch Vernunftschlüsse» geschwächt werden, sondern nur durch weitere dunkle Vorstellungen.33 Mit anderen Worten: Gegen die Empfindungen können nur die Empfindungen selber als wirksame Heilmittel fungieren. Aufgrund solcher Formulierungen ist Sulzer nicht zu Unrecht in die Geschichte der Psychologie als einer der ersten Theoretiker des Unbewussten eingegangen:34 Es ist also gewiß, dass der Mensch nicht Herr über die ersten Bewegungen seiner Seele ist. Es bleibt ihm nicht die geringste Freyheit übrig, zu empfinden, oder nicht zu empfinden. Alles, was man thun kann, die Wirkung der Empfindung zu verhindern, ist, dass man ihr eine stärkere Empfindung entgegensetzet.35

Aus alledem geht nun deutlich genug hervor, wie groß die Macht des Empfindungsvermögens in Sulzers Auffassung der menschlichen Seele ist – und wie gefährlich diese Macht für den Menschen werden kann. Damit nimmt Sulzer eine durchaus schillernde Position in der Geschichte der Aufklärungsästhetik und -psychologie ein. Seine Auffassung des Empfindungsvermögens kann zwar zu einer durchaus optimistischen Interpretation Anlass geben: Wenn der Mensch mit seinen Empfindungen gut umzugehen weiß und die edlen unter ihnen pflegt, kann das Empfinden ein hervorragendes Werkzeug seiner Glückseligkeit werden, indem es ihn zum tugendhaften Handeln antreibt. Jedoch lässt auch Sulzers Theorie der seelischen Vermögen eine viel pessimistischere Auslegung zu: Ist der Mensch unfähig, über seine Empfindungen zu walten, und lässt er sich von den roheren unter ihnen führen, so kann er zu Handlungen verleitet werden, die für ihn selbst und seine Mitmenschen höchst schädlich sein können. Eine Erziehung des Empfindungsvermögens ist daher unabdingbar. Schon Canz und Baumgarten erkannten die pädagogische Notwendigkeit, den Prozess der Sedimentation von Ideen in den Tiefen der Seele richtig an33

34

35

Sulzer, Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (wie Anm. 17), SGS, Bd. 2, S. 314: «Es [ist] fast nicht möglich, weder sich vor plötzlichen Eindrücken zu verwahren, noch diese Eindrücke in dem Augenblicke, da man sie empfindet, durch Vernunftschlüsse zu schwächen. Ein einziger Augenblick ist gemeiniglich hinlänglich, eine lebhafte Empfindung hervorzubringen.» Robert Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg, Stahel, 1892, S. 213. Sulzer, Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (wie Anm. 17), SGS, Bd. 2, S. 314.


Einleitung

XXIII

zuleiten.36 Wenn die Vernunft nicht in der Lage ist, den Menschen mit der gleichen Kraft wie die dunklen Vorstellungen zum Handeln zu bewegen, so können die deutlichen Vorstellungen doch durch wiederholte Übung und Gewöhnung zu dunklen Vorstellungen werden und so indirekt das menschliche Verhalten perfektionieren. Ziel dabei ist es, den günstigsten Weg zur Gestaltung des Seelengrunds zu finden, um Vorurteilen und schlechten Gewohnheiten auf ihrem eigenen Terrain zu begegnen. Diese Bildung des Empfindens ist genau die Herausforderung, der sich Sulzer stellt, um ihre Wirkungskraft nutzbar zu machen und so zur moralischen Fürsorge beizutragen, die als das praktische Ziel der Physik der Seele gilt.

Die Wende zur Kunsttheorie Sulzers Vorhaben, eine Allgemeine Theorie der Schönen Künste zu schreiben, ergibt sich direkt aus diesen psychologisch-philosophischen Untersuchungen. Im Laufe seiner Arbeiten zur Seelenkunde ist Sulzer allmählich zur Erkenntnis gekommen, dass das beste Erziehungsmittel für das Empfindungsvermögen die Künste seien. Inwiefern können nun die Künste das Empfindungsvermögen erziehen? Was bedeutet diese erziehende Rolle für die Definition, Bestimmung und Einteilung der Künste selbst? Zwischen 1751 und 1763, d. h. zwischen seiner ersten akademischen Abhandlung zu den angenehmen und unangenehmen Empfindungen und der späteren Ausarbeitung einer Theorie der Unabhängigkeit des Empfindungsvermögens, beschäftigte sich Sulzer immer wieder mit solchen kunsttheoretischen Fragen. 1754 kam er in einem Lob auf Bodmers epische Gedichte insbesondere über die Dichtungstheorie zu sprechen; 1757 versuchte er, in seinen Pensées sur l’Origine et les différens emplois des Sciences et des Beaux-Arts (Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste) den Bereich der schönen Künste von dem der Wissenschaften auf epistemologischer Basis abzusondern, und noch im selben Jahr unterbreitete er der Berliner Akademie eine Untersuchung über den Geniebegriff, in der er sich u. a. mit Fragen der Kunst befasste; 1760 legte er derselben Akademie eine Abhandlung über die dramatische Dichtkunst

36

Vgl. [Canz]: Philosophiae Wolffianae (wie Anm. 30), S. 97; Alexander Gottlieb Baumgarten: Ethica philosophica. Halle, Hemmerde, 21751, § 242, S. 123.


XXIV

Einleitung

vor.37 Erst mit der Publikation der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, an der er seit den 1750er Jahren arbeitete,38 kam er jedoch dazu, seine Theorie der Künste und seine Theorie der Empfindungen in ihrem ganzen Ausmaß und Zusammenhang darzulegen. Schwierig und spannend in Sulzers Überlegungen zu den schönen Künsten ist – wie in seinen Überlegungen zu anderen Themen überhaupt – deren Entwicklung. Innerhalb der langen Periode, in der er sich mit Kunstfragen beschäftigte, d. h. etwa ab der Mitte der 1750er Jahre bis zur Publikation der Allgemeinen Theorie, hat sich Sulzer mit dem Problem der Taxonomie der Künste immer wieder auseinandergesetzt und dabei Systeme entworfen, die untereinander erhebliche Unterschiede aufweisen. Grundlegend für diese jeweiligen Systeme ist dabei immer die Frage nach dem Unterschied zwischen dem Kunst- und dem Wissenschaftsbegriff gewesen: Inwiefern lassen sich die schönen Künste von den Wissenschaften bzw. von den schönen Wissen-

37

38

Sulzer: Gedanken von dem vorzüglichen Werth der epischen Gedichte des Herrn Bodmers. Berlin, o. V., 1754 (SGS, Bd. 7, S. 137–152); Ders.: Pensées sur l’Origine et les différens emplois des Sciences et des Beaux-Arts. Discours prononcé dans l’Assemblée publique de l’Académie royale des Sciences et des Belles-Lettres le 27 janvier 1757. Berlin, Haude et Spener, Libraires de la Cour & de l’Académie Royale, 1757 (SGS, Bd. 2, S. 231–243). Dt. Übersetzung: Ders.: Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste. In: Ders.: Vermischte Schriften. Eine Fortsetzung der vermischten philosophischen Schriften desselben, Zweiter Teil. Hg. von Friedrich von Blankenburg. Leipzig, Weidmanns Erben und Reich, 1781 (ND Hildesheim/New York, Olms, 1974, im selben Band wie Vermischte Philosophische Schriften, vgl. Anm. 2, Teil 2), S. 110–128 (SGS, Bd. 2, S. 244–257); Ders.: Analyse du Génie. In: Histoire de l’Académie (wie Anm. 2), Classe de philosophie spéculative, Année 1757. Berlin, Haude et Spener, Libraires de la Cour & de l’Académie Royale, 1759, S. 392–404 (SGS, Bd. 2, S. 208–218). Dt. Übersetzung: Ders.: Entwickelung des Begriffs vom Genie. In: Ders.: Vermischte Philosophische Schriften (wie Anm. 2 [ND Teil 1]), S. 307–322 (SGS, Bd. 2, S. 219–230); Ders.: Réflexions philosophiques sur l’utilité de la poésie dramatique. In: Histoire de l’Académie (wie Anm. 2), Classe de philosophie spéculative, Année 1760. Berlin, Haude et Spener, Libraires de la Cour & de l’Académie Royale, 1767, S. 326–340 (SGS, Bd. 7, S. 165–177). Dt. Übersetzung: Ders.: Philosophische Betrachtungen über die Nützlichkeit der dramatischen Dichtkunst. In: Ders.: Vermischte Philosophische Schriften (wie Anm. 2 [ND Teil 1]), S. 146–165 (SGS, Bd. 7, S. 178–191). Vgl. Elisabeth Décultot, Jana Kittelmann: Einleitung. Das 18. Jahrhundert im Briefformat. In: SGS, Bd. 10.1, S. IX–XLVI, hier S. XXV–XXVI.


Einleitung

XXV

schaften unterscheiden? Welche Künste lassen sich dann der Rubrik «schöne Künste» zuordnen?39 Mit dieser Frage setzte sich zunächst Sulzer in einem frühen Aufsatz auseinander, den er am 27. Januar 1757 in der Berliner Akademie anlässlich der Geburtstagsfeier Friedrichs II. vorlas. Dass dieser Aufsatz als früh bezeichnet werden darf, liegt nicht so sehr an dessen Entstehungsdatum, sondern vielmehr an seinem begrifflichen Inhalt. In Anlehnung an eine althergebrachte kunsttheoretische Voraussetzung erklärte dort Sulzer die Nachahmung der schönen Natur als gemeinsames Prinzip aller schönen Künste: «Der wahre Charakter der schönen Künste bestehet darin, dass sie das Schöne und Angenehme aller Art abbilden und nachahmen.»40 Dabei blieb er ganz deutlich unter dem Einfluss von Batteux, dessen Beaux-arts réduits à un même principe drei verschiedene Übersetzungen bzw. Bearbeitungen – durch Philipp Ernst Bertram, Johann Adolf Schlegel und Johann Christoph Gottsched – zwischen 1751 und 1754 erfuhr.41 Wie zahlreiche Kunsttheoretiker aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts 39

40

41

Zu diesen Fragen im 18. Jahrhundert überhaupt vgl. Paul Oskar Kristeller: The Modern System of Arts. A Study in the History of Aesthetics. In: Journal of the History of Ideas, 12, 1951, S. 496–527 (I); 13, 1952, S. 17–46 (II); Werner Strube: Die Geschichte des Begriffs «Schöne Wissenschaften». In: Archiv für Begriffsgeschichte, 33, 1990, S. 136–216. Sulzer, Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste (wie Anm. 37), SGS, Bd. 2, S. 249. Charles Batteux: Les beaux arts réduits à un même principe. Paris, Durand, 1746 (hg. von Jean Rémy Mantion, Paris, Aux Amateurs de Livres, 1989, nach der 3. Auflage von 1773); Ders.: Die schönen Künste aus einem Grunde hergeleitet. Aus dem Französischen übersetzt von P. E. B. [= Philipp Ernst Bertram]. Gotha, Mevius, 1751; Ders.: Einschränkung der schönen Künste auf einem einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen. Leipzig, Weidmann, 1751 (übers. von Johann Adolph Schlegel; 3. vermehrte Auflage: Leipzig, Weidmann, 1770); Johann Christoph Gottsched: Auszug aus des Herrn Batteux, öffentlichen Lehrers der Redekunst zu Paris Schönen Künsten aus dem einzigen Grundsatze der Nachahmung hergeleitet, zum Gebrauche seiner Vorlesungen mit verschiedenen Zusätzen und Anmerkungen erläutert. Leipzig, Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, 1754. Zu Batteux’ Rezeption in Deutschland vgl. Manfred Schenker: Charles Batteux und seine Nachahmungstheorie in Deutschland. Leipzig, Haessel, 1909 (Reprint: Hildesheim, Olms, 1977); Philipp Kampa: Kunst als Anverwandlung der Wirklichkeit: Charles Batteux’ Schrift Les Beaux-Arts réduits à un même principe und ihre deutschsprachige Rezeption. Halle an der Saale, Universitätsverlag Halle-Wittenberg, 2021.


XXVI

Einleitung

bestand Sulzer allerdings dabei auf einer scharfen Unterscheidung zwischen dem positiven Grundsatz der Nachahmung und dem negativen der Nach- bzw. Abbildung.42 Zum Unterschied vom Nach- bzw. Abbildungsbegriff, der in der bloßen Reproduktion der Natur bestehe, ist Sulzers Nachahmungsbegriff untrennbar mit dem Prinzip der Schönheit oder der Verschönerung verbunden. Die Aufgabe des Künstlers bestehe nur darin, die «angenehmen Gegenstände» der Natur durch «Worte oder durch Zeichnung und Farben» nachzuahmen oder, wenn diese Gegenstände «allzusehr verstreut» sind, sie zusammenzubringen.43 Wichtig ist bei dieser ersten Definition der schönen Künste zunächst einmal deren Umfang. Eine detaillierte Liste der einzelnen Künste, die unter dem Begriff «schöne Künste» aufzufassen sind, gibt Sulzer in diesem frühen Aufsatz zwar nicht. Verschiedenen Hinweisen ist jedoch zu entnehmen, dass diese Liste eher kurz ausfallen würde. Mit Sicherheit gehören dazu Poesie, Baukunst, Bildhauerei und Malerei.44 Auffallend ist dabei die Beschränkung des Nachahmungsbegriffs und daher des Kunstbegriffs selbst auf die verbalen und visuellen Mittel der Worte, der Zeichnung und der Farben. Von der Musik, die in der Allgemeinen Theorie eine so wichtige Rolle spielen wird, ist hier noch gar keine Rede. Noch wichtiger für Sulzers frühes Verständnis eines Systems der schönen Künste ist seine Beschreibung der Beziehungen und Grenzen zwischen den Wissenschaften und den schönen Künsten. In dem Aufsatz von 1757 entwirft Sulzer eine klare Abgrenzung zwischen den beiden Bereichen und sieht diese vor allem in ihrer jeweiligen Entstehungs- und Wirkungsweise begründet. Dabei greift er auf Denkmuster zurück, die seit der Querelle des Anciens et de Modernes wohlbekannt sind.45 Schon kurz nach ihrem Anfang in der Antike 42

43 44 45

Sulzer, Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste (wie Anm. 37), SGS, Bd. 2, S. 249: «Ich unterscheide hier die Abbildung von der Nachahmung, weil ich sehe, daß diese zwey Sachen wirklich verschieden sind, obgleich man sie gemeiniglich mit einander vermischt. Ich nenne eine Abbildung die Beschreibung, die Darstellung oder die Herfürbringung eines Gegenstandes, so wie derselbe sich in der Natur befindet, und die Nachahmung die Darstellung eines Gegenstandes, der sich nicht in der Natur befindet, sondern den natürlichen Gegenständen ähnlich ist.» Ebd., S. 247. Ebd., S. 247. Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der «Querelle des Anciens et des Modernes». In: Charles Perrault: Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. Faksimile der ersten Auflage von 1688–1697. München, Eidos Verlag, 1964, S. 8–64.


Einleitung

XXVII

seien die schönen Künste «der Vollkommenheit sehr nahe» gekommen, während die Wissenschaften sehr lange brauchten, um einen Cartesius, Leibniz oder Newton hervorzubringen, argumentiert Sulzer in der Schrift von 1757.46 Dieser zeitliche Unterschied in der Genese der Wissenschaften und schönen Künste lasse sich ebenfalls in deren Wirkunsgweise feststellen. Während die schönen Künste schnell und kräftig auf alle menschlichen Seelen wirken,47 kennzeichnen sich die Wissenschaften durch die «außerordentliche Langsamkeit» und notwendige Beschränktheit ihrer Aufnahme: «Die Wahrheiten der Wissenschaften sind allemahl das Resultat von einer großen Zahl von Untersuchungen, einer Menge von Beobachtungen und einer langen Folge von Vernunftschlüssen. Wer darüber urtheilen will, muß den langen Weg durchlaufen haben, der dahin geführt hat» – womit Sulzer hier nur logische Schlüsse aus seiner philosophischen Lehre der seelischen Vermögen hinsichtlich der Einteilung der Künste zieht.48 Hervorzuheben bleibt jedoch, dass trotz dieser wichtigen Unterschiede die beiden Bereiche der Wissenschaften und der schönen Künste durch ihre gemeinsame prinzipielle Orientierung an der äußeren Natur eng miteinander verbunden bleiben: Der Künstler muß die schöne Natur nachahmen und der Wissenschaftler muß sie beobachten und erklären. Für beide bleibt also ein außerhalb des Subjekts Gegebenes der letzte Zweck der künstlerischen bzw. der wissenschaftlichen Tätigkeit. Daher erweist sich die Unterscheidung zwischen Wissenschaften und schönen Künsten, wie sie im Titel des Aufsatzes angekündigt wird, als begrenzt. In einem gedanklichen System, in dem den schönen Künsten das Prinzip der Naturnachahmung zugrunde liegt, lassen sich diese Künste nur bedingt von den Wissenschaften abgrenzen.

Der Kurze Begriff aller Wissenschaften (1745/1759) Groß ist der Unterschied von diesem auf dem Nachahmungsprinzip beruhenden Kunstbegriff zu demjenigen, den Sulzer kaum zwei Jahre später in der zweiten 46

47

48

Sulzer, Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste (wie Anm. 37), SGS, Bd. 2, S. 245; C. Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes erwähnt Sulzer im Artikel «Die Alten» der Allgemeinen Theorie (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 47. Sulzer, Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste (wie Anm. 37), SGS, Bd. 2, S. 256. Ebd., S. 256.


XXVIII

Einleitung

Auflage seines Kurzen Begriffs aller Wissenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit (1759) entwirft.49 In der «ganz veränderten und sehr vermehrten» Edition dieses propädeutischen Handbuchs zu den Wissenschaften führt Sulzer eine Definition der Kunst aus, die die Kunst nicht mehr prinzipiell durch ihre Beziehung zur Natur definiert, wie das aristotelische Prinzip der Naturnachahmung es erforderte, sondern durch ihre Beziehung zur menschlichen Psyche. Hauptzweck der Künste sei es nicht mehr, die Natur bzw. die schöne Natur nachzuahmen, sondern auf das Herz bzw. auf die Einbildungskraft der Menschen einzuwirken.50 Damit verlagert sich die Grundbestimmung der Künste vom einem außen stehenden Objekt zum Subjekt. In seinen späteren Schriften wird er nicht müde, diese Absage an das Prinzip der Naturnachahmung weiter auszuführen. Zwar komme Naturnachahmung in der Ausübung der schönen Künste oft vor, hebt er z. B. im Artikel «Nachahmung (Schöne Künste)» der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste hervor.51 Doch sei sie zur begrifflichen Begründung dieser Künste ein unzulängliches Prinzip, insofern sie nicht allgemein gelte. Auf die zeichnenden Künste (Malerei, Bildhauerei und in einer gewissen Hinsicht Architektur) lasse sich zwar der Grundsatz der Naturnachahmung verhältnismäßig gut anwenden, jedoch nicht auf die redenden Künste, auf Musik und auf Tanz, wo er als Mittel, keineswegs jedoch als Zweck eingesetzt werden könne. Der stöhnende Philoktet oder die jammernde Andromache rühren uns nicht wegen der Ähnlichkeit mit der Natur, sondern wegen der Kraft der ­Empfindung.52 Diese psychologische, subjektbezogene Wende im Kunstverständnis ist mit Sulzers erkenntnistheoretischen Untersuchungen der ausgehenden 1750er und der beginnenden 1760er Jahre untrennbar verbunden. In der Explication d’un paradoxe psychologique (Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes, 1759) und in den Observations sur les divers états où l’âme se trouve en exerçant ses facultés primitives (Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen […] befindet, 1763)53 versuchte Sulzer, wie vorhin dargelegt, ein System der seelischen Vermögen auszuarbeiten, das die 49 50

51

52 53

Sulzer, Kurzer Begriff aller Wißenschaften (1759, wie Anm. 1), SGS, Bd. 1, S. 51–186. Ebd., S. 83 (§ 69): Die «Schönekünste [sic] gehen hauptsächlich auf das Vergnügen und die Beschäftigung der Einbildungskraft und des Herzens». Sulzer: Art. Nachahmung (Schöne Künste). In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (wie Anm. 31), Bd. 2, S. 795–798, hier S. 796. Ebd. Sulzer, Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes (wie Anm. 16); Sulzer, Anmerkungen über den verschiedenen Zustand (wie Anm. 17).


Einleitung

XXIX

beiden Vermögen des Erkennens und des Empfindens voneinander unterschied. Diese Unterscheidung ging allerdings mit einer deutlicheren Abtrennung von Kunst- und Wissenschaftsbegriff einher. Man pflege, beanstandet Sulzer am Anfang der zweiten Edition seines Kurzen Begriffs aller Wissenschaften, «alle Theile der Gelehrsamkeit mit dem allgemeinen Namen der Wissenschaften zu belegen, oder man nennet sie auch die Künste und Wissenschaften. In eigentlichem Verstande aber kommt der Name Wissenschaft nur denjenigen Theilen der Gelehrsamkeit zu, welche sich mit allgemeinen Wahrheiten beschäftigen, die aus der Natur der Dinge, von denen sie handeln, durch die Nachforschungen der Vernunft auf eine unumstößliche Art hergeleitet werden».54 So wie die Wissenschaften hiermit zum genuinen Gegenstand der Vernunft, d. h. des rationalen Erkenntnisvermögens erklärt werden, so werden die Künste zum spezifischen Gegenstand des Empfindungsvermögens gemacht. Nicht mehr durch ihren nachahmenden Bezug zur äußeren Natur werden diese definiert, sondern durch ihre Beziehung auf das «Herz» des produzierenden oder rezipierenden Subjekts. «Ihr Wesen [= der freien oder schönen Künste] besteht darin, daß sie durch das sinnliche Schöne und Vollkommene das Gemüth ergezen und rühren.»55 Dass diese neue erkenntnistheoretische Fundierung des Kunstbegriffs im Empfindungsvermögen zugleich eine Aufwertung desselben mit sich bringt, geht aus einem Vergleich zwischen der allerersten Auflage des Kurzen Begriffs aller Wissenschaften von 1745 und der zweiten, revidierten Edition von 1759 deutlich hervor. In der ersten Edition des Kurzen Begriffs blieb Sulzer einem streng rationalistischen, an dem Erkenntnisvermögen orientierten Verständnis der menschlichen Seele verpflichtet. Auffallend war dabei erstens der sehr beschränkte Platz, der in diesem Panorama der Leistungen des menschlichen Geistes den Künsten eingeräumt wurde,56 und zweitens die im Vergleich mit der zweiten Edition fehlende Trennung zwischen Kunst- und Wissenschaftsbegriff. Die Poesie, schreibt Sulzer in der ersten Edition, ist die «Wissenschafft die Worte in einer Sprache und die Gedanken also zu setzen, daß auch das äußerliche da-

54

55 56

Sulzer, Kurzer Begriff aller Wißenschaften (1759, wie Anm. 1), SGS, Bd. 1, S. 55–56 (§ 6) (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 84 (§ 71). Flüchtig werden die Künste zweimal in dem der historischen Erkenntnis und zweimal in dem der philosophischen Erkenntnis gewidmeten Teil erwähnt. Vgl. Sulzer, Kurzer Begriff aller Wissenschaften (1745, wie Anm. 1), SGS, Bd. 1, S. 14 (§ 30), 19–20 (§ 47–48), 35 (§ 87), 36 (§ 90).


XXX

Einleitung

von dienet die Gemüther der Menschen zu lenken. Die Absicht derselben ist, die Menschen, so zu sagen, auf eine mechanische Weise zu bewegen, dieses oder jenes zu thun, oder zu glauben.»57 Die Redekunst ist die «Wissenschafft die Gedanken auf eine solche Weise vorzubringen, wie es der besondere Entzweck der Rede erfordert. Z. E. die Leute zur Tugend oder überhaupt nach unserer Absicht zu lenken.»58 Für Poesie und Beredsamkeit sorgt also kein spezifisches, vom Erkenntnisvermögen abgetrenntes seelisches Vermögen: die Künste, die kennzeichnenderweise auch als «Wissenschafften» bezeichnet werden, lassen sich von dem allgemeinen Vermögen des Erkennens ableiten. Daher bleibt in dieser ersten Fassung des Kurzen Begriffs die Definition der Kunst bzw. der Künste noch recht unspezifisch. Unter dem Begriff der Kunst ordnet Sulzer sowohl Poesie und Beredsamkeit ein als auch «alle Handwerke, Fabriken [oder] Handlungen».59 Von Musik, Tanz oder Bildhauerkunst ist in der ersten Edition des Kurzen Begriffs aller Wissenschaften nicht die Rede.

Georg Friedrich Meiers und Moses Mendelssohns Definition der schönen Künste Zu einer solchen Abkoppelung des Begriffs der schönen Künste von dem Nachahmungsprinzip hat Sulzer zwar ab dem Ende der 1750er Jahre einen entscheidenden Beitrag geliefert. Jedoch stand er in diesem Unternehmen nicht alleine. 1757, also kurz vor der Publikation der revidierten Fassung des Kurzen Begriffs aller Wissenschaften, ließen Georg Friedrich Meier und Moses Mendelssohn jeweils Schriften erscheinen, die sich mit dieser Frage eng auseinandersetzten. In seinen Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften (1757) nahm sich Meier vor, aus philosophischen Gründen nachzuweisen, dass die «Nachahmung der Natur, oder der Satz, ahme der Natur nach» unmöglich zum ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften könne angenommen werden.60 Mit dieser Schrift, die vor allem gegen

57 58 59 60

Ebd., S. 35 (§ 87). Ebd., S. 36 (§ 90). Ebd., S. 14 (§ 30). Georg Friedrich Meier: Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften (Halle, Hemmerde, 1757). In: Ders.: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen. Hg. von Hans-Joachim Kertscher und Günter Schenk. Teil 3. Halle, Hallescher Verlag, 2002, S. 170–206, hier S. 186 (§ 16).


Einleitung

XXXI

Batteux und Gottsched gerichtet war, lieferte er eine der ersten und wichtigsten Widerlegungen des Nachahmungsprinzips aus philosophischen Gründen heraus in Deutschland. Um als Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften zu fungieren, sei der Naturbegriff an sich schon zu unbestimmt. Was für eine Natur gelte es nachzuahmen? Gehe es dabei um die «Natur würklich vorhandener Dinge» oder aber um die Natur, «die man erdichtet»?61 Wie lasse sich darüber hinaus ein solcher Satz mit der in der Natur vorhandenen Hässlichkeit konsequent verbinden? Anstelle des Nachahmungsprinzips will also Meier folgenden Grundsatz als einzige Grundlage aller schönen Künste und Wissenschaften gelten lassen: «Die sinnliche Erkenntniß sey so schön als möglich.».62 Auf diesem Prinzip baut Meier seine Unterscheidung zwischen den hohen Wissenschaften63 einerseits und den schönen Künsten und Wissenschaften andererseits auf. Die hohen Wissenschaften (so z. B. die Mathematik oder die Physik) können nur auf deutlicher Erkenntnis beruhen und sind also Hervorbringungen des oberen Erkenntnisvermögens, d. h. der Vernunft. Bei den schönen Künsten und Wissenschaften hingegen – d. h. in der Dichtkunst, Redekunst, Historie, Malerei, Musik, Baukunst und Bildhauerei – wirken unteres und oberes Erkenntnisvermögen eng miteinander zusammen.64 Auf die nähere Unterteilung des Kollektivs «schöne Künste und Wissenschaften» geht allerdings Meier nicht näher ein.65

61 62 63

64

65

Ebd., S. 188 (§ 18). Ebd., S. 190 (§ 20). Diese Wissenschaften bezeichnet Meier als «hoch», um sie von den «schönen» zu unterscheiden. Schön ist in Meiers Definition eine sinnliche Erkenntnis, insofern sie eine Reihe von Eigenschaften aufweist, zu denen Wahrheit, Lebhaftigkeit, Vielfalt, Ordnung und Fähigkeit zu berühren gehören. Das Prinzip der größten Schönheit der sinnlichen Erkenntnis gilt dabei sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption der schönen Künste und Wissenschaften. Als «schöner Geist» wird sowohl der Künstler als auch der Rezipient bezeichnet, dessen Erkenntnisvermögen all diese Eigenschaften aufweist. Zwar unterscheidet Meier zwischen den Künsten und Wissenschaften, die sich der «Worte und anderer willkürlicher Zeichen» bedienen, wie etwa Redekunst und Poesie, und denjenigen, die «einen äusserlichen Gegenstand würklich machen», wie etwa die Malerei oder die Musik (ebd., S. 199, § 26). Die Unterscheidung deckt sich aber nicht mit der Unterscheidung zwischen schönen Wissenschaften und schönen Künsten.


XXXII

Einleitung

Gerade mit dieser Frage setzt sich hingegen Moses Mendelssohn mit einer Schrift ausführlich auseinander, die genau im selben Jahr unter dem Titel Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften anonym erscheint. Ähnlich wie Meier verwirft hier Mendelssohn den Grundsatz der Naturnachahmung als den «unfruchtbarsten» überhaupt, den man zur Begründung der schönen Wissenschaften und Künste anführen könne, denn dieser Grundsatz bleibe nur auf die äußere Natur bezogen und lasse dabei die menschliche Seele beiseite, die den eigentlichen Kern der schönen Künste und Wissenschaften ausmache.66 Nur in der «sinnlichen», d. h. klaren, aber undeutlichen Erkenntnis der Vollkommenheit sieht Mendelssohn in Übereinstimmung mit Meier das ursprüngliche Prinzpip der schönen Künste und Wissenschaften angesiedelt, zu denen er die sieben Disziplinen der Dichtkunst, Beredsamkeit, Malerei, Skulptur, Tanzkunst, Musik und Architektur zählt. Von Meier zeichnet sich allerdings Mendelssohn durch die ungleich schärfere Unterscheidung zwischen schönen Künsten und schönen Wissenschaften aus, die er aus dem Unterschied zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen herleitet. «Die schönen Wissenschaften, worunter man gemeinglich die Dichtkunst und Beredsamkeit verstehet, drücken die Gegenstände durch willkührliche Zeichen, durch vernehmliche Töne und Buchstaben aus.» Die schönen Künste hingegen «bedienen sich vornehmlich der natürlichen Zeichen», die ihnen zur Verfügung stehen (so z. B. Töne für die Musik oder Farben und Linien für die Malerei), was auch erkläre, dass ihr Feld «eingeschränkter» sei.67 Damit gibt Mendelssohn dem «intellektuelleren» Feld der schönen Wissenschaften einen eindeutigen Vorzug vor dem 66

67

[Anonym = Moses Mendelssohn]: Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Ersten Bandes zweytes Stück. Leipzig, Johann Gottfried Dyck, 1757, S. 231–268 (wieder abgedruckt in: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von Fritz Bamberger et al. Stuttgart, Frommann, 1971 ff., Bd. 1, S. 165–190. Neu erschienen unter dem Titel: Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften. In: Moses Mendelssohns Philosophische Schriften, Zweyter Theil, verbesserte Auflage. Berlin, Christian Friedrich Voß, 1771, S. 97–152; wieder abgedruckt in: Ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. von Otto F. Best. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1974, S. 173–197, hier S. 175). Moses Mendelssohn: Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften. In: Ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl (wie Anm. 66), S. 182–183.


Einleitung

XXXIII

bloß sinnlichen Bereich der schönen Künste. Dadurch, dass sie sich willkürlicher Zeichen bedienen, erfordern Poesie und Beredsamkeit eine intensivere Mitwirkung der oberen Erkenntniskräfte und erzielen auch eine bestimmtere und gezieltere Wirkung. Bei den schönen Künsten hingegen ist der Anteil der unteren, bloß sinnlichen Erkenntniskräfte größer, sodass deren Wirkung auch unbestimmter ist. Exemplarisch für diese mangelnde Deutlichkeit steht in Mendelssohns Argumentation das Beispiel der Musik, deren Wirkung zwar «stark, lebhaft und rührend, aber unbestimmt» sei. «Man spürt sich von einer gewissen Empfindung durchdrungen, aber unsere Empfindung ist dunkel, allgemein, auf keinen einzelnen Gegenstand eingeschränkt» – ein Mangelzustand, dem allerdings «durch Hinzuthuung deutlicher und willkürlicher Zeichen abgeholfen werden» könne.68 All diese Anregungen in der Definition und Untergliederung der Künste wird Sulzer später in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste verarbeiten.

Der Geniebegriff Auch Sulzers Geniebegriff unterliegt einer tiefen, mit der Entwicklung seiner Auffassung der Seelenkräfte eng verbundenen Wandlung im Laufe der 1750er Jahre. In seiner Analyse du génie (Entwickelung des Begriffs vom Genie) von 1757 bleibt Sulzer einer langen Tradition verpflichtet, die Genie als «allgemeine Beschaffenheit» der Seele versteht69 – eine Beschaffenheit, die durchaus unterschiedliche seelische Vermögen ins Werk setzen kann (Empfindlichkeit, Aufmerksamkeit, Witz, Einbildungskraft, Gedächtnis, Urteilsvermögen, aber auch körperliche Aktivitäten) und überhaupt allen Betätigungsfeldern des Menschen zugrunde liegt. Genie kann sowohl ein Künstler als auch ein Wissenschaftler oder ein Kriegsführer aufweisen. Seiner damaligen Auffassung der Seelenkräfte gemäß wird bei der Bestimmung des Geniebegriffs weder dem Empfindungsvermögen noch den Künsten eine herausragende Rolle zugewiesen. Mit der Arbeit an der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, die sich am Ende der 1750er Jahre intensiviert, erfährt das Genie-Verständnis eine spürbare Entwicklung. Zentral für Sulzers Verständnis der Kunsterfahrung wird, wie 68 69

Ebd., S. 192. Sulzer, Entwickelung des Begriffs vom Genie (wie Anm. 37), S. 221.


XXXIV

Einleitung

vorhin ausgeführt, das Empfinden, dem Sulzer in seinem Lexikon eine doppelte, psychologische und moralische, Bedeutung zuweist: Empfindung. (Schöne Künste) Dieses Wort drükt sowol einen psychologischen als einen moralischen Begriff aus; beyde kommen in der Theorie der Künste vielfältig vor. […]. So wie Philosophie oder Wissenschaft überhaupt, die Erkenntnis zum Endzwek hat, so zielen die schönen Künste auf Empfindung ab. Ihre unmittelbare Würkung ist Empfindung in psychologischem Sinn zu erweken; ihr letzter Endzwek aber geht auf moralische Empfindungen, wodurch der Mensch seinen sittlichen Werth bekommt. […] Da es also das eigentliche Geschäft der schönen Künste ist Empfindungen zu erweken, und da sie in diesem Geschäfte von Vernunft und Weisheit müssen geleitet werden, so entstehet daher in der Theorie der Künste diese wichtige Frage, wie die Empfindungen überhaupt müssen behandelt werden.70

Während die schönen Künste eine genuin «aisthetische» Rolle spielen, indem sie durch die Erweckung der Empfindung im psychologischen Sinne die Aufmerksamkeit auf uns selbst lenken, bringen sie auch eine «anästhetische» Seite mit sich, die durch die Gewöhnung an tugendhafte Modelle die sittlichen Imperative einer bestimmten Gesellschaft in der Seele abstumpft.71 In ihrer Beziehung zu der doppelten Bedeutung vom Empfindungsbegriff stehen die schönen Künste also in der Spannung zwischen Aisthesis und Anaisthesis, zwischen der emotionalen Entdeckung dessen, was wir sind, und der tauben Einverleibung dessen, was wir sein müssen.72

70

71

72

Sulzer: Art. Empfindung (Schöne Künste). In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 311–316, hier S. 311–313. In der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste wird sogar die Etymologie von «Ästhetik» als «Wissenschaft der Empfindungen» verstanden (vgl. Sulzer: Art. Aesthetik. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste [wie Anm. 31], Bd. 1, S. 20–22, hier S. 20). In diesem Sinne liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf der erkenntnistheoretischen Dimension der Aisthesis wie bei Baumgarten, sondern auf dem Empfinden als Modus der Erfahrung. Vgl. Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen, Niemeyer, 2009, S. 201–207. Zu dieser Dialektik vgl. Alessandro Nannini: Origins of the Arts, Origins of Man in Sulzer’s Academic Essays. In: The Berlin Academy in the Reign of Frederick the Great: Philosophy and Science. Hg. von Tinca Prunea und Peter Anstey. Oxford University


Einleitung

XXXV

Aus dieser wesensmäßigen Verbindung von Kunst und Empfindung werden bedeutende Schlüsse für die Produktion von Kunstwerken abgeleitet. In zahlreichen Artikeln der Allgemeinen Theorie wird der Gedanke formuliert, dass nur der empfindende Künstler dem wahren Begriff der Kunst gerecht werden und daher zum Schönen gelangen könne. «Empfindsamkeit», d. h. ein besonders zartes Empfindungsvermögen, gehöre zu den unerlässlichen Eigenschaften des Künstlers, wie z. B. im Artikel «Künstler» betont wird: «Da die schönen Künste für das Gefühl arbeiten, und eine lebhafte Rührung der Gemüther durch Sinnlichkeit der Gegenstände zu ihrem Augenmerk haben; so scheinet eine vorzüglich starke Empfindsamkeit der Seele die erste Anlage zu dem Genie des Künstlers zu seyn.»73 Genial könne nur der Künstler werden, der über ein außergewöhnliches Empfindungsvermögen verfüge. Zwar knüpft Sulzer an die traditionelle Definition des Genies an, indem er das Genie als einen mit einem hohen Grad an Verstand begabten Menschen definiert. Jedoch weist er auch nachdrücklich darauf hin, dass ein Mensch nur dann als genial bezeichnet werden kann, wenn zu seinen außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten auch ein bemerkenswertes Empfindungsvermögen hinzukommt. «Seelen von geringer Empfindsamkeit, die durch nichts zu vorzüglicher Würksamkeit gereizt werden, die keine besondere Bedürfnisse haben, solche Seelen sind bey dem größten Verstand ohne Genie.»74 «Der Mann von Genie empfindet ein begeisterndes Feuer, das seine ganze Würksamkeit rege macht, er entdeket in sich selbst Gedanken, Bilder der Phantasie und Empfindungen, die andre Menschen in Bewundrung setzen; er selbst bewundert sie nicht, weil er sie, ohne mühesames Suchen, in sich mehr wahrgenommen, als erfunden hat.»75 Genial ist also für Sulzer nur der Mensch, der ein außergewöhnliches Erkenntnis- mit einem ebenso außergewöhnlichen Empfindungsvermögen verbindet. Auch auf die Rezeption von Kunstwerken wirkt sich die wesensmäßige Verbindung von Kunst und Empfindung aus. In der Nachfolge von Goethes vernichtender Rezension der Allgemeinen Theorie aus dem Jahre 1772 wurde Sulzer

73

74

75

Studies in the Enlightenment. Liverpool, Liverpool University Press, 2022, S. 205– 231, hier S. 221–231. Sulzer: Art. Künstler. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (wie Anm. 31), Bd. 2, S. 628–631, hier S. 629. Sulzer: Art. Genie. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 456–459, hier S. 458. Ebd., S. 457.


XXXVI

Einleitung

oft als Verfechter einer primär moralischen, belehrenden Auffassung der Kunst eingestuft.76 Wenn die Verbindung von Kunst und moralischer Erziehung zu den Grundlagen von Sulzers Kunstdenken durchaus gehört, so muss allerdings unterstrichen werden, dass die moralisch-erzieherische Wirkung, die Sulzer den schönen Künsten zuerkennt, erst über die Anregung des Empfindungsvermögens und daher über die sinnlichen Mittel der Kunst erzielt werden kann. Erst wenn die schönen Künste durch ihre sinnlichen Reize uns rühren oder «in Empfindung setzen», können sie uns unterrichten: Die schönen Künste haben nicht den Zwek uns zu unterrichten, sondern uns zu rühren, oder in Empfindung zu sezen. Auch da, wo sie etwa in besondern Fällen einen unterrichtenden Stoff bearbeiten, thun sie es so, dass der Unterricht mit Empfindung verbunden ist. Daraus folget also, dass die Gegenstände, die sie uns vorhalten, sinnliche Gegenstände seyn müssen, und dass der Zwek desto sicherer erreicht werde, je mehr Sinnlichkeit sie haben.77

Die Kunstwerke müssen also auf unser Empfindungsvermögen abzielen und erst darin erweist sich auch ihre besondere erzieherische Kraft. Nur indem sie lebhafte Empfindungen in uns hervorrufen, können sie uns zu Handlungen bewegen. Sie vermögen das, was die Philosophie nicht kann, die ja darauf angewiesen ist, die langsamen und für das Handeln wenig effizienten Wege des Erkenntnisvermögens einzuschlagen.

76

77

Johann Wolfgang Goethe: Rezension von Johann Georg Sulzer: Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung betrachtet. Leipzig, Weidmanns Erben und Reich, 1772. In: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe). Hg. im Auftrage von der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. Weimar, Böhlau Verlag, 1887–1919, Bd. 37 (1896), S. 206–214 (Erstveröffentlichung in: Frankfurter gelehrte Anzeigen, 101, 18. Dezember 1772, S. 801–807). Die im Jahr 1772 von Goethe rezensierte Schrift entspricht dem Artikel Künste; Schöne Künste, den Sulzer aus Rücksicht auf die alphabetische Reihenfolge im ersten Band der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (1771) noch nicht hatte publizieren können. Sulzer: Art. Sinnlich. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (wie Anm. 31), Bd. 2, S. 1084–1088, hier S. 1085.


E di tori s ch e Vorbe merk u ng en Die Edition wahrt den Lautstand der Erstdrucke und behält deren Interpunktion und Orthografie bei. Die Druckvorlagen sind am Beginn des jeweiligen Überblickskommentars nachgewiesen. Folgende Änderungen wurden gegenüber den Erstdrucken vorgenommen: die Silbentrennung «s-s» am Ende einer Zeile der Originalvorlage wird, wenn das Wort im Transkript nicht am Ende einer Zeile steht, durch «ß» wiedergegeben, das heißt z. B. aus «gros-sen» im Original wird «großen» in der Transkription. Die Zeichenkombination «r rotunda» + «c» (⁊c.) wurde als «etc.» aufgelöst. Umlaute mit Majuskeln («Ae», «Oe», «Ue») wurden unverändert übernommen, Umlaute mit Minuskeln wurden nach heutiger Konvention als «ä» «ö», «ü» transkribiert. Offenkundige Druckfehler wurden im Transkript korrigiert. Diese Korrekturen sind auf S. 563–565 («Herausgebereingriffe») nachgewiesen. Die Seitenzahlen der Originalvorlagen sind im Text in der Marginalspalte angegeben; in Sulzers Schriften selbst sind die originalen Seitenumbrüche durch einen vertikalen Strich vermerkt. Die für die deutschen Texte benutzte Grundschrift Fraktur erscheint als Minion pro. Die im deutschen Originaltext in Antiqua gesetzten Wörter werden kursiv wiedergegeben. Kursive Antiqua wird kursiv fett wiedergegeben. Hervorhebungen in den Vorlagen durch Sperr- und Fettdruck werden in der Schriftart Frutiger wiedergegeben. Die für die französischen Texte benutzte Grundschrift Antiqua erscheint als Minion pro. Die in den französischen Texten kursiv gesetzten Wörter werden kursiv wiedergegeben.



1 . R e c h e rc h e s s u r l ’ o ri g i n e d e s s e n t i m e n s ag ré a b l e s e t d e s ag ré a b l e s


2

1. Recherches sur l’origine des sentimens agréables et desagréables

RECHERCHES

s u r l ’ o ri g i n e d e s s e n t i m e n s ag ré a b l e s et d e s ag ré a b l e s , pa r M . SU L Z E R . p re m i e re pa rt i e ,

5

Th é o ri e g é n é r a l e d u pl a i s i r . La plus célèbre & la plus importante de toutes les questions philosophiques, est celle qui regarde les moyens de parvenir au Bonheur. Cette question aussi ancienne que la Philosophie même, fut agitée par un grand nombre de Philosophes * de l’Antiquité, qui se sont partagés sur cela en plusieurs Sectes. D’abord il semble 10 qu’elle n’est pas fort difficile. Tout le monde convient, que le bonheur, autant que l’homme y peut atteindre, est un état dans lequel les plaisirs dont on jouït surpassent les peines auxquelles on est exposé. Or une longue suite d’expérience a procuré aux hommes la connoissance d’une infinité de choses dont la jouïssance fait naitre le plaisir ; & par le même moyen on connoit presque tous les cas où la 15 peine & les chagrins sont des suites naturelles des actions. Cela posé, il semble que toute la science du Bonheur, entant qu’il dépend de nos actions, se réduit * 58 à une seule régle fort simple & fort aisée : Qu’il faut tâcher de se procurer | tout le plaisir possible, connu par l’experience, & éviter toute peine. C’est la Maxime 20 * fondamentale de la Morale des Epicuriens modernes.*) Malgré la solidité apparente de cette Maxime, il n’est pas fort difficile de voir, qu’elle est très défectueuse. Il ne faut que peu d’expérience, jointe à un jugement solide, pour s’appercevoir de deux choses, qui la rendent fort suspecte. 1°. Il arrive fort souvent, que les plaisirs s’entre-choquent. Nous avons plusieurs facultés, * qui nous rendent susceptibles de plusieurs especes de plaisir. Or il peut arriver 25 que l’une est contraire à l’autre, ou du moins que la jouïssance d’une espece exclut nécessairement celle de l’autre. Que faut-il faire alors ? Auquel dois-je donner la préférence ? Au plus grand ? Mais le moyen de calculer les plaisirs ? Suffit-il de * *)

Je dis des Epicuriens modernes ; car il s’en faut beaucoup qu’Epicure ait été de ce sentiment, lui qui distingua si soigneusement les différentes especes de plaisir, pour 30 recommander les plus convenables & rejetter les autres Voyez Diogene Laerce. *


1. Recherches sur l’origine des sentimens agréables et desagréables

5

10

* 15

20 *

* 25

30 *

* 35

3

comparer ensemble les premiéres impressions de deux especes ; ou bien, faut-il suivre chaque plaisir par toute la suite d’impressions qu’il produira dans l’ame ? S’il est possible qu’un objet nous fournisse toujours un plus grand plaisir à mesure que nous continuons d’en jouïr, la première impression qu’il aura fait sur nous ne peut nous servir à l’estimer son prix. Les régles qui doivent nous guider dans la recherche du Bonheur, ne peuvent pas nous laisser dans l’incertitude sur ces doutes. Je conclus de là, que la Maxime Epicurienne est défectueuse. 2°. Nous apprenons encore de l’expérience, qu’un plaisir goûté peut dégénérer en peine & en chagrin, ou pour parler plus juste, un plaisir goûté peut devenir la cause d’un chagrin beaucoup plus grand, que n’a été le plaisir dans son genre. Cela vient de la diversité de nos facultés. Si nous n’étions susceptibles que d’une seule espece | de plaisir, par ex. si de toutes nos facultés il ne nous restoit que 59 le sens du Goût, la maxime seroit très solide. Pour devenir heureux alors, il ne faudroit que chercher par tous les moyens possibles de flatter notre goût. Rien ne seroit plus facile que d’être heureux, quoiqu’un bonheur si borné soit très peu de chose. Mais dès que nous avons des facultés differentes, & qu’il est nécessaire de les contenter toutes pour arriver au bonheur, la science de la félicité devient beaucoup plus composée : & on verra, que la Maxime citée est non seulement défectueuse, mais dangereuse, & capable de nous plonger dans le malheur. Je me flatte que ce peu de remarques suffira pour faire voir, que la Maxime Epicurienne ne peut servir en aucune manière à nous conduire au grand but de la Nature, & qu’il faut des recherches bien plus difficiles, pour parvenir à quelque chose de solide & d’assuré en fait de Morale. Il n’est pas même fort difficile de voir, par ce que j’ai remarqué, quelle route on y doit tenir. Il faut nécessairement connoitre à fond toutes les facultés qui nous rendent susceptibles de differentes especes de plaisir ou de peine ; il faut savoir le rapport qu’a chacune de ces facultés à l’essence même de nôtre ame, ou à nôtre nature immuable ; & enfin, de quelle manière le plaisir est excité moyennant ces facultés par toute sorte d’objets. Aprés ces recherches préliminaires, on sera en état de décider d’une manière sûre sur les justes valeurs des plaisirs, sur les proportions que les differentes especes doivent garder entr’elles pour que nous soyons heureux, & sur les moyens de nous les procurer. Je crois avoir fait quelques remarques assez importantes sur chacun de ces articles, pour oser les présenter à l’Académie. Je me contenterai pour cette fois d’exposer le fondement de mes recherches ultérieures, qui consiste dans l’explication de l’origine de tout sentiment agréable & desagréable, en général. J’étois persuadé, | avant que d’avoir entrepris ces recherches, que tous les plaisirs, quelque 60


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.