Mirco Melone. Vom Ereignis zur Ikone

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MIRCO MELONE ist Historiker mit Schwerpunkt Fotografie-, Medien- und Digitalgeschichte. Seit 2009 arbeitet er im Sammlungs- und Projektmanagement für verschiedene Schweizer Museen und Archive.

www.schwabe.ch

MIRCO MELONE

Bilder können ein Eigenleben entwickeln und zu Ikonen werden – so wie Theo Freys Fotografie des Rütlirapports vom 25. Juli 1940. Obwohl der Rapport selbst bis heute als zentrales Ereignis der Schweizer Zeitgeschichte gilt, ist die Geschichte des Bildes erstaunlich wenig erforscht. Hier setzt das Buch an : Es untersucht, wie sich Freys Aufnahme im Laufe der Jahrzehnte durch verschiedene Hände, Archive, Zeitungen, Schulbücher, Museen und Datenbanken bewegt hat. Und es zeigt, wie sich die Bedeutung des Bildes in den vergangenen achtzig Jahren vervielfacht hat – und wie es so zu einem zentralen Bezugspunkt der Schweizer Geschichtskultur und zu einer der bekanntesten Fotografien der Schweiz werden konnte.

VOM EREIGNIS ZUR IKONE

VOM EREIGNIS ZUR IKONE

MIRCO MELONE

VOM EREIGNIS ZUR IKONE Die erstaunliche Geschichte der Fotografie des Rütlirapports von 1940





Mirco Melone

Vom Ereignis zur Ikone Die erstaunliche Geschichte der Fotografie des Rütlirapports von 1940

Schwabe Verlag


Die Veröffentlichung dieses Buchs wurde ermöglicht durch Druckkostenbeiträge der Swisslos-Fonds der Kantone Uri und Basel-Landschaft sowie der Sulger Stiftung. Weitere Beiträge stammen von Crowdfunding-Unterstützer:innen (siehe Unterstützer:innen-Liste)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Umschlagsabbildung: «Ruetli Rapport: Ruetli» 25. 07. 1940, Zellulosenegativ, Bundesarchiv Schweiz (CH-BAR#E5792#1988/204#1501*: 33471_A1). ©Theo Frey/Fotostiftung Schweiz. Umschlagsgestaltung: icona basel gmbH, Basel Korrektorat: Kerstin Köpping, Berlin Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: 3w+p, Rimpar Druck: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4833-8 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4834-5 DOI 10.24894/978-3-7965-4834-5 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch


Inhalt

Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Unterstützer:innen-Liste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung: Geschichte in Zirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Der historische Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Visuelle Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Erinnerungskult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Überlieferung im Armee-Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Zeugenschaft, die Bilder schafft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Historische Bildung mit Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Ökonomische Bildpraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9. Archivische (Un‐)Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10. Im fotohistorischen Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11. Digitalisierungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 12. Fotoarchive als Ganzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 13. Zirkulationsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Nachwort: Digital Asset Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137


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Inhalt

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145


Vorwort und Dank

Dieses Buch ist für alle, die sich für die Geschichten hinter den Bildern interessieren. Für alle, die wissen wollen, wie Medien funktionieren, wie Bilder Macht bekommen und ausüben. Es ist ein Buch das aufzeigt, wie Bilder politisch genutzt, instrumentalisiert und ökonomisch ausgeschlachtet werden. Und es ist auch ein Plädoyer für Archive, Sammlungen und Bibliotheken, für die historische Forschung und die Relevanz der Geschichtswissenschaft. Der Auslöser für mein Schreiben war allerdings ein Missverständnis. 2019 habe ich während der Schweizer Geschichtstage an der Universität Zürich einen kurzen Vortrag mit dem Titel «Bilderschätze? Fotografiegeschichte abseits der Bilder» gehalten. Wie die anschliessende Diskussion zeigte, hatten einige der anwesenden Kolleg:innen – durchaus renommierte Schweizer Historiker:innen – meine Ausführungen missverstanden. Meine Thesen liefen ins Leere: Während ich von der Geschichte und Zirkulation einer Fotografie sprach, diskutierten meine Kolleg:innen überwiegend über das auf dem Foto abgebildete Ereignis und dessen historische Umstände. Ich habe daraufhin beschlossen, die wichtigsten Argumente meines Vortrags in einen kurzen Artikel zu fassen, um sie in einer Fachzeitschrift zu veröffentlichen. Damit wollte ich dieses Missverständnis aus der Welt schaffen. Und natürlich auch meine Thesen nochmals prägnant und verständlicher darlegen. Das Thema wäre damit quasi abgehakt gewesen. Als ich dann aber weitere Recherchen anstellte, um meinen Text zu fundieren, fand ich – ohne es angestrebt zu haben – immer mehr Quellenmaterial. Mein damals für den Vortrag gewähltes Fallbeispiel, die so bekannte Rütlirapport-Fotografie von Theo Frey, hatte sich im Laufe der letzten 80 Jahre offenbar rhizomartig ausgebreitet. Ich stand relativ bald vor einer kaum zu überblickenden Menge möglicher Quellen. Und der Text wurde länger und länger, bis ich mir eingestand, dass daraus wohl kein kurzer Artikel, sondern eher ein kleines Buch werden könnte. Dass dieses Buch schliesslich entstehen konnte, verdanke ich zahlreichen Menschen. Am Anfang stehen Gregor Spuhler, Daniel Nerlich und Jonas Arnold (Archiv für Zeitgeschichte) sowie Christian Koller und Stefan Länzlinger (Sozialarchiv), ohne deren Panel-Einladung zu den Schweizerischen Geschichtstagen sich der initiale Funke für das Thema gar nicht erst entzündet hätte. Dankbar bin ich allen Kolleg:innen für die rege Panel-Diskussion im Anschluss und das im Nachgang doch sehr fruchtbare Missverständnis. Ein herzlicher Dank gebührt


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Vorwort und Dank

Meike von Brescius, die mich überzeugt und im Frühjahr 2021 dazu eingeladen hat, meine Überlegungen im Forschungskolloqium Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts des Departements Geschichte an der Universität Basel zu präsentieren. Auch den weiteren Organisator:innen Caroline Arni, Martin Lengwiler, Milo Probst und Mischa Suter sowie allen Teilnehmer:innen dieses Kolloqiums danke ich für ihre konstruktiven Feedbacks und Ermutigungen. Wertvolle Hinweise, wichtige Informationen und tolle Denkanstösse habe ich im Laufe meiner Schreibarbeiten von Markus Schürpf (Fotobüro Bern), Werner Bosshard (Historisches Lexikon der Schweiz), Walter Leimgruber (Universität Basel), Alan Cassidy (NZZ am Sonntag) und Monika Dommann (Universität Zürich) bekommen. Madleina Deplazes (Fotostiftung Schweiz), Lukas Kobel (KeystoneSDA Schweiz), Lukas Frey (Ringier Bildarchiv), Jonas Arnold (Archiv für Zeitgeschichte) und Joël Aeby (Schweizerisches Bundesarchiv) haben mir hervorragende Unterstützung und Fachwissen zu ihren Archivbeständen geboten. Wichtig waren für mich auch die wunderbare Bibliothek des Staatsarchivs BaselLandschaft samt Foto-Raum (Danke Valentin und Johannes) und jene des Historischen Museums Basel. Ebenso nützlich war die Schulbibliothek des Gymnasiums Liestal, zu der mir Mario Sabatino freundlicherweise Zugang gewährt hat. Nicht unerwähnt bleiben soll der nicht unwesentliche Beitrag des BlaBlaMeters: Der Algorithmus hat mich jene Textpassagen erkennen lassen, die ich überarbeiten musste, um den Bullshit-Index meiner streckenweise aufgeplusterten Fachsprache wenigstens unter 0.2 zu halten. Ebenso grosser Dank gebührt Kerstin Köpping, deren Korrektorat meine sprachlichen Unzulänglichkeiten aufgedeckt hat. Zu guter Letzt danke ich Harald S. Liehr und Sonja Peschutter vom Schwabe Verlag, die sich dem Rohling abschliessend angenommen und mich auf den letzten Metern unterstützt haben. Catharina Hanreich von der Fotostiftung Schweiz spreche ich meinen Dank aus für die stets unkomplizierte und wohlwollende Abwicklung von Urheberrechtsfragen zu Theo Freys Fotografien. Ohne die grosszügigen Beiträge der kantonalen Swisslos-Fonds von Basel-Landschaft und Uri, der Sulger Stiftung sowie der zahlreichen privaten Unterstützer:innen wäre dieses Buch schliesslich nicht realisiert worden. Die allerwichtigsten Menschen aber sind für mich meine Partnerin Anita und meine Kinder Alea, Elio und Lino: Ihr habt mich mit eurer Neugier immer wieder angespornt und mir Freude geschenkt, habt mich unterstützt und seid für mich da. Ohne euch wäre dieses Buch nur Papier, ein Muster ohne Wert. Ich liebe euch!


Unterstützer:innen-Liste

Im Rahmen einer 30-tägigen Crowdfunding-Kampagne (25. Mai bis 24. Juni 2023) haben viele Personen mit ihren grosszügigen Beiträgen die Veröffentlichung dieses Buches ermöglicht. Ihnen möchte ich ganz besonders danken: Enia Bignone Meike von Brescius Alain Gloor Gabriel Giess Miozzari + Co. Alan Cassidy Alea Melone Guido Melone-Canini Miro Meier Iris Bösiger Mohan Buser Aleksandar Lujic Morena Melone-Canini Aleks Zaric Jean-Philippe Krapf Nico Baumgartner Anita Melone Jeannine Kofler Andy Schär-Tschudin Johannes Donkers Nicolas Ribul Ariane Engler Kathrin Gasser Patrick Lützelschwab Aruna Poschner Katherine Wildman Philipp Loser Basil Neff Lara Knecht-Gasparro Reto Fischer Christian Kunz Lino Melone Rosmarie Schär-Tschudin Daniel Bossert Marco Wüthrich Simon Kunz Dominique Buser Markus Schürpf Steve Heller Elio Melone Matthias Gasser Thilo Mangold



1. Einleitung: Geschichte in Zirkulation

Dieses Buch handelt von einem einzigen Bild. Und es handelt von dessen jahrzehntelanger Reise durch zig Hände, Archive, Zeitungen, Bücher, Redaktionsstuben, Museen, Datenbanken und Online-Kataloge. Aufgenommen hat es der Fotograf Theo Frey (* 04. 02. 1908, † 19. 04. 1997). Sein Nachlass ist im Besitz des Eidgenössischen Archivs für Denkmalpflege und wird seit 2006 von der Fotostiftung Schweiz als Dauerleihgabe gepflegt. Freys Aufnahme stammt vom 25. Juli 1940. Sie zeigt im Vordergrund die Rütliwiese im Kanton Uri, auf der General Henri Guisan während des Zweiten Weltkriegs infolge der Kriegsgeschehnisse in Europa die Armeekader versammelt hatte. Dahinter ist der Urner See erkennbar. Im Hintergrund sehen wir, im Profil von links hin zur Bildmitte abfallend, den Axenberg (Abb. 1). Guisan legte an diesem Tag den neuen strategischen Verteidigungsplan angesichts der Bedrohungen durch die Achsenmächte dar, nämlich den Rückzug in das sogenannte Réduit, eine «zentrale Rundumverteidigung» der Schweiz aus den Alpen heraus.1 Diese eine Aufnahme von Theo Frey – er hatte auf dem Rütli mehrere Bilder gemacht – 2 ist wahrscheinlich eine der bekanntesten Fotografien der Schweiz. Wir treffen sie nicht nur bei diesem Buch als Titelbild auf den Umschlägen an.3 Sie wurde in militärischen Publikationsorganen abgedruckt, meist als unkommentierte Beilage oder Illustration für historische Rückblenden zum Rütlirapport.4 Wir finden die Fotografie aber ebenso in Schul- und Lehrbüchern.5 Sie 1 Kreis, Georg: Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes, Zürich 2004, S. 27. Kreis liefert dazu auf S. 27–30 eine konzise Beschreibung und zeitgeschichtliche Einordnung des Rapports. Seine faktische Zusammenfassung des Rapports folgt Gautschi, Willi: General Henri Guisan. Die schweizerische Armeeführung im Zweiten Weltkrieg, Zürich 1989, S. 267–293. 2 Siehe dazu Kapitel 5 «Überlieferung im Armee-Archiv». 3 Langendorf, Jean-Jacques: General Guisan und der Rütlirapport 25. Juli 1940, Gollion 2015. 4 Siehe z. B. Kurz [Hans Rudolf]: 25. Juli 1940: Der Rütlirapport des Generals Guisan, in: Der Fourier. Offizielles Organ des Schweizerischen Fourier-Verbandes und des Verbandes Schweizerischer Fouriergehilfen, Bd. 53, Heft 8, 1980, S. 291–295, hier: S. 291. 5 Thürer, Georg: Bundesspiegel. Werdegang und Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 1948, S. 80–81; Nordwestschweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (Hg.): Weltgeschichte im Bild, Bd. 9: Das zwanzigste Jahrhundert. Lehrmittel der Welt- und Schweizergeschichte für das 9. Schuljahr, 3. Auflage, Buchs 1989, S. 111 und S. 140; Schläpfer,


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1. Einleitung: Geschichte in Zirkulation

Abb. 1: «Ruetli Rapport: Ruetli», 25. 07. 1940, Fotograf: Theo Frey, Zellulosenegativ, Bundesar-

chiv Schweiz (CH-BAR#E5792#1988/204#1501*: 33471_A1; ÓTheo Frey/Fotostiftung Schweiz).

ist Bestandteil vieler Jubiläums- und Erinnerungsschriften zu General Guisan und der Zeit des Zweiten Weltkriegs.6 Sie taucht in verschiedenen, sowohl (foto) Rudolf; Boesch, Joseph: Weltgeschichte. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, 16. Auflage, Zürich 2006, S. 255. 6 Z. B. Langendorf, Jean-Jacques: Le Général Guisan et le peuple suisse, Yens sur Morges 2008; Beguin, Pierre; Marcel, André; Gafner, Raymond; Kurz, Hans Rudolf: General Guisan und der Zweite Weltkrieg 1939–1945, Lausanne 1974; Guex, André (Hg.): Général Guisan. 1874–1960, Lausanne 1960.


1. Einleitung: Geschichte in Zirkulation

historisch wie auch ästhetisch-künstlerisch zugeschnittenen Bildbänden auf.7 Und sie ist auch in zahlreichen geschichtswissenschaftlichen Werken veröffentlicht worden.8 In der 13-teiligen Dokumentarfilmserie Die Schweiz im Krieg von Werner Rings hat sie einen Auftritt in der 1973 ausgestrahlten siebten Folge In Bedrängnis.9 Es gibt davon sogar eine Postkarte der Schweizerischen Staatsbürgerlichen Gesellschaft (SSG), deren Druckvorlage eine Bildtafel aus Georg Thürers Der Bundesspiegel. Geschichte und Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1948 war, ein Buch, das wiederum als Lehrmittel an Schulen zum Einsatz kam.10 Diese kurze Aufzählung beansprucht keinesfalls Vollständigkeit und liesse sich ziemlich sicher noch weiterführen. Sie zeigt aber die vielfältigen Nutzungsweisen von Freys Aufnahme an. Die Rütlirapport-Aufnahme gilt als eine Ikone der Schweizer Fotografiegeschichte. Es gibt zwar zahlreiche Definitionen dafür, was eine solche Ikone ausmacht. Wir begnügen uns hier aber vorerst damit, fotografische Ikonen gemeinhin als Bilder zu verstehen, deren Bedeutung über die zeitgenössische Berichterstattung hinausgeht, die Bekanntheit erlangt haben und über Jahre hinweg in unterschiedlichen Kontexten immer wieder publiziert werden.11 Dieser Ikonen-Status macht aus Freys Aufnahme eine Art Wiedergängerin der Schweizer Geschichte. Das Bild wird bis heute in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder als Symbol für die Schweiz im Zweiten Weltkrieg genutzt. Wer 7 Mit historischem Fokus siehe z. B. Beguin/Marcel/Gafner/Kurz: General Guisan, 1974. Für eher auf ästhetisch-künstlerische Aspekte fokussierte Bildbände siehe z. B. Pfrunder, Peter (Hg.): Theo Frey – Fotografien, Zürich 2008; Britschgi, Markus: Theo Frey – Reportagen aus der Schweiz, Luzern 1993. 8 Die diesbezüglich wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Werke werden in diesem Essay thematisiert. 9 Rings, Werner: Die Schweiz im Krieg. Folge 7/13: In Bedrängnis [Dokumentarfilm], SRF Schweizer Radio und Fernsehen, 03. 04. 1973. 10 Ein Exemplar der Postkarte habe ich im Bestand der Postkartensammlung Adolf Feller (1879–1931) gefunden. Siehe Bildarchiv ETH Zürich (e-pics): Rütli, Blick nach Norden (N). Im Hintergrund der Urner See und der Axen. Rütlirapport, URL: http://doi.org/10.3932/ethz-a000479998 [Zugriff: 10. 05. 2023]. Zur Bildtafel, die als Druckvorlage genutzt wurde: Thürer, Bundesspiegel, 1948, S. 80 f. In der 1964 neu aufgelegten Fassung ist Freys Bild nicht mehr abgedruckt, vgl. Thürer, Georg: Der Bundesspiegel. Geschichte und Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 1964. 11 Vgl. z. B. Knieper, Thomas: Ikonen der Pressefotografie – ein Essay, in: Haller, Michael (Hg.): Visueller Journalismus. Beiträge zur Diskussion einer vernachlässigten Dimension, Berlin 2008, S. 59–68, hier: S. 59–62; Grittmann, Elke; Ammann, Ilona: Ikonen der Kriegs- und Krisenfotografie, in: Grittmann, Elke; Neverla, Irene; Ammann, Ilona (Hg.): Global, lokal, digital. Fotojournalismus heute, Köln 2008, S. 296–325, hier: S. 298: «Was ist eine Ikone? Was unterscheidet sie von anderen Bildern bzw. Fotografien? Ein ikonischer Charakter wird meist denjenigen Fotos zugeschrieben, die ü ber die aktuelle Berichterstattung hinaus eine herausragende Bedeutung erlangt haben.».

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1. Einleitung: Geschichte in Zirkulation

sich mit der Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert oder der Schweizer Zeitgeschichte auseinandersetzt, der stösst also – falls nicht schon im Schulunterricht geschehen – früher oder später irgendwo auf Theo Freys Aufnahme. Sie ist zu einem historischen «Referenzbild» geworden.12 Das Bild zeigt zwar ein konkretes Ereignis, verweist aber primär auf einen übergeordneten Sachverhalt und Zeitabschnitt, nämlich die Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Das auf dem Bild konkret abgebildete Ereignis, der Rütlirapport von 1940, ist von der Geschichtsschreibung prominent thematisiert worden.13 Er gilt in der Schweiz als ein Kulminationspunkt der geistigen Landesverteidigung während der Kriegszeit. Auch die insbesondere im Nachgang des Weltkriegs bis in die heutige Zeit hineinwirkende mentalitäts- und gesellschaftsgeschichtliche Dimension des Rapports als «Erinnerungsort» – mitsamt den Jubiläums- und Gedenkveranstaltungen – ist von der historischen Forschung breit aufgefächert worden.14 Wir werden später noch darauf zurückkommen. Jedenfalls befeuert die umfangreiche Thematisierung des Rapports in der Schweizer Geschichtsschreibung die auch unter Historiker:innen verbreitete Meinung, man wisse sehr viel über dieses Bild. Das dürfte wohl für das abgebildete Ereignis, also den Rütlirapport, sein Nachleben in Gedenkveranstaltungen und die daran haftenden Mythen, zweifellos seine Richtigkeit haben. Und Freys Aufnahme ist sicherlich ein Teil davon. Allerdings wollen wir die Fotografie hier nicht mit dem Ereignis gleichsetzen. Denn die Aufnahme liefert uns zwar ein Abbild des historischen Sachverhalts. Zugleich zirkuliert Freys Bild aber seit Jahrzehnten. Es hat also eine eigene Geschichte, der wir in diesem Buch nachgehen. Die Aufnahme war und ist in Vorgänge eingebunden, die unseren Blick auf den abgebildeten historischen Sachverhalt, also den Rütlirapport, steuern und so auch wortwörtlich das Bild, das wir uns davon machen.15 Es gibt daher einen Unterschied zwischen dem foHellmold, Martin: Warum gerade diese Bilder? Ü berlegungen zur Ä sthetik und Funktion der historischen Referenzbilder moderner Kriege, in: Schneider, Thomas F. (Hg.): Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des «modernen» Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, Bd. 1, Osnabrü ck 1999, S. 34–50. 13 Ein ganzes Kapitel dazu findet sich in Gautschi, General, 1989. Siehe z. B. auch Bonjour, Edgar: Geschichte der Schweizerischen Neutralität, Bd. 4, Basel 1970, S.151–167; Gauye, Oscar: «Au Rütli, 25 juillet 1940». Le discours du général Guisan : nouveaus aspects, in: Studien und Quellen. Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs, Bern 1984, S. 5–56. 14 Vgl. z. B. Kreis, Georg: Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness, Zürich 2010; ders.: Mythos, 2004; ders.: Henri Guisan – Bild eines Generals. Glanz und Elend einer Symbolfigur, in: Schweizer Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Nr. 70, 1990, S. 413–431. 15 Zu dieser doppelten Funktionalität fotografischer Bilder vgl. Sonntag, Susan: Über Fotografie, Frankfurt a. M. 1980, S. 29. Siehe auch Baumann, Werner: Aus-Schnitt aus der Wirklichkeit? Eine Fotografie als historische Quelle, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte = Revue 12


1. Einleitung: Geschichte in Zirkulation

tografierten Ereignis und dem, was die Fototheoretikerin Ariella Azoulay als nachträglich stattfindenden «event of photography» bezeichnet.16 Und hier offenbart sich ein Missverhältnis. Denn die mittlerweile 80-jährige Geschichte dieses so bekannten fotografischen Bildes ist bisher erstaunlich dürftig ausgeleuchtet. Wir wissen wenig über seine Post-Produktion, seine weit gestreute Überlieferung in Archiven und Nachlässen, seine Zirkulation und Publikation in Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, seine unterschiedlichen Funktionen als historische Quelle und Dokumentationsbild, seine Rolle in der Gewinnung und Vermittlung historischer Erkenntnis sowie seine historiografische Wirkmächtigkeit.17 Wir werden uns darum dieser vielschichtigen Gemengelage annähern und versuchen, den vielfältigen Zirkulationismen und Rollen der Aufnahme auf die Schliche zu kommen, wie es die deutsche Medienkünstlerin Hito Steyerl postuliert.18 Dabei zeigt sich, dass die Geschichte des Bildes nicht die eines raren fotografischen Einzelstücks ist. Denn sie ist durchzogen vom händischen Gebrauch, der Freys Aufnahme als gehandeltes, gedrucktes und digital bereitgestelltes Bild kennzeichnet. Die hier thematischen Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, Broschüren, Archive, Ausstellungen und Datenbanken sind daher wie Perlen. Sie lassen sich zueinander in Verbindung setzen und zu Ketten aufziehen, wobei eine Perle jeweils Bestandteil verschiedener Ketten sein kann, je nachdem, mit welchen Fragestellungen wir uns annähern. Die Zirkulation von Freys Aufnahme nachzuzeichnen heisst, sie als Ansatzpunkt für eine Geschichte von spezifischen historischen Wissensbeständen zu nutzen. Damit rücken wir die Absichten derjenigen in den Mittelpunkt, die sich das Bild aneigneten. Das Wissen zum Bild und seine Vermittlung – die ihm zugesprochene Bedeutung – sind daher stets dynamisch gedacht. Der amerikanische Fotokünstler und -kritiker Allan Sekula hat das auf den Begriff «Traffic in Photographs» gebracht, der zum Ausdruck bringt, dass Bildbedeutungen kon-

d’histoire, Bd. 5, Heft 2, 1998, S. 157–167. Dieser Konzeption folgt auch Vogel, Matthias: Einleitung. Fotografien mit Geschichte, in: Binder, Ulrich; ders. (Hg.): Bilder, leicht verschoben. Zur Veränderung der Fotografie in den Medien, Zürich 2009, S. 9–15, hier: S. 9. 16 Azoulay, Ariella: Civil Imagination. A Political Ontology of Photography, London 2012, S. 21 f. 17 Bisher hat sich einzig Sabine Münzenmaier in einem Aufsatz mit der Geschichte des Bildes beschäftigt. Siehe Münzenmaier, Sabine: Der Rütli-Rapport vom 25. Juli 1940 fotografiert von Theo Frey, in: Binder, Ulrich; Vogel, Matthias (Hg.): Bilder, leicht verschoben. Zur Veränderung der Fotografie in den Medien, Zürich 2009, S. 119–128. 18 Siehe dazu z. B. Steyerl, Hito: In Defense of the Poor Image, in: e-flux Journal, Nr. 10, 2009, URL: https://www.e-flux.com/journal/10/61362/in-defense-of-the-poor-image/ [Zugriff: 29. 05. 2023]; dies.: Circulacionismo / Circulationism, Ausstellungskatalog Museo Universitario Arte Contemporáneo (Ausstellungskatalog), Mexiko-Stadt 2014.

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1. Einleitung: Geschichte in Zirkulation

struiert sind und einem steten und unabdingbaren Wandel unterliegen.19 Es geht hier also nicht mehr nur um das abgebildete Ereignis Rütlirapport. Vielmehr gilt es zu fragen, wann und in welchen Zusammenhängen mit Theo Freys Aufnahme überhaupt historisches Wissen zum Rapport geschaffen wurde.20 Die Zirkulation der Aufnahme zeigt uns, wie das Bild mit unterschiedlichen Interessen jeweils neu formatiert wurde. Es diente der Stabilisierung von spezifischem Wissen zum Rütlirapport, zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg, zu Theo Frey als Fotograf, zu Archivbeständen und zu den Bedingungen der wirtschaftlichen Verwertung des Bildes selbst. Freys Aufnahme ist daher nicht bloss eine aus der Vergangenheit überlieferte, objektive Spur von etwas. Sie ist selbst ein eigenständiges Artefakt, das durch Raum und Zeit hindurch beweglich und veränderbar ist. Wir sollten sie darum als jeweils nachträglich hergestelltes Bild begreifen, das immer in einer Gegenwart mit bestimmten Interessen interpretiert und in gewisser Weise auch neu hergestellt wurde.21 Diese Interessen wollen wir hier aufdecken, indem wir den Spuren von Freys Aufnahme folgen. Die im Laufe des Buches gestellten Fragen und gefundenen Antworten sollen auch dazu beitragen, einer floskelhaften Rede vom kollektiven Bildgedächtnis auszuweichen. Das Buch soll stattdessen ganz konkret aufzeigen, wie Theo Freys Aufnahme zu ihrer prominenten Stellung in der Schweizer Geschichtskultur kam. Es soll veranschaulichen, welche Akteure das Bild wann und mit welchen Interessen im Laufe der letzten Jahrzehnte zur Ikone stilisiert haben. Diese Zirkulationsgeschichte ist aber keineswegs nur eine Fallgeschichte. Sie hat gleichermassen einen exemplarischen Charakter. Denn das Bild gibt uns ein analytisches Brennglas zur Hand, mit dem wir präzise die verästelten Verhältnisse zwischen Fotografien und Geschichtsschreibung betrachten können. Höchste Zeit also, die fotografische Überlieferung des Rütlirapports unter die Lupe zu nehmen und die Aneignungs- und Nutzungskontexte des Bildes sichtbar zu machen.

Sekula, Allan: The Traffic in Photographs, in: Art Journal, Bd. 41, Nr. 1, Frühling 1981, S. 15–25. Pointiert insbesondere auf S. 16: «Photographic meaning is always a hybrid construction, the outcome of an interplay of iconic, graphic, and narrative conventions. Despite a certain fugitive moment of semantic and formal autonomy – the Holy Grail of most modernist analytic criticism – the photograph is invariably accompanied by, and situated within, an overt or covert text.». 20 Diese Verschiebung exemplarisch skizziert hat Paul, Gerhard: Die aktuelle Historische Bildforschung in Deutschland. Themen – Methoden – Probleme – Perspektiven, in: Jäger, Jens; Knauer, Martin (Hg.): Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um historische Bildforschung, München 2009, S. 125–147. 21 Vgl. dazu beispielsweise Ruchatz, Jens: Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen, in: Erll, Astrid; Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses: Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 83–105, hier: S. 89.

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2. Der historische Index

Beginnen wir bei einer zentralen Frage: Was macht Freys Bild derart interessant, dass es immer wieder abgedruckt wird? Denn eigentlich handelt es sich nicht um eine aussergewöhnliche, besonders ästhetisch gestaltete Aufnahme. Wie kann so ein Bild zur Ikone stilisiert werden? Die historische Forschung liefert hier einen interessanten Einblick. Die Häufigkeit, mit der die Aufnahme in geschichtswissenschaftlichen Büchern auftaucht, legt die Vermutung nahe, dass das Bild eine tragende Bedeutung für die Forschung haben muss. Auf den ersten Blick scheint das naheliegend. Denn sein Status als historische Quelle ist bestimmt durch die Quellenlage, die insgesamt zum Rütlirapport vorliegt. Ein kursorischer Blick auf die historische Überlieferung zum Ereignis zeigt dann auch, warum Freys Fotografie für die Geschichtsforschung einzigartig ist. Wir können im Bundesarchiv auf militärische Unterlagen zurückgreifen, die aus der Vorbereitung zum Rapport resultieren, beispielsweise eine Skizze der geplanten Truppenaufstellung auf der Rütliwiese.22 Auch die vor dem Rapport zu Papier gebrachte Rede, die General Guisan vor seinen Armeekadern gehalten hat, liegt in verschiedenen Formen als Manuskript vor.23 Der General hatte nach dem Krieg in einem Lausanner Studio sogar eine Tonaufnahme seiner Rede angefertigt, die der geneigte Hörer beim Grammoclub Ex Libris kaufen konnte.24 Diese nachträglich aufgezeichnete, wortwörtlich zu verstehende Sound History sollte wohl der Bedeutung des Ereignisses ihr Gewicht verleihen und den damals bereits existenten Guisan-Kult befeuern. Es gilt aber gemeinhin als gesichert, dass Guisan sich auf dem Rütli nicht an den Wortlaut seines Manuskripts hielt, sondern frei sprach. Bis heute ist nur prekär überliefert, was genau er in seiner frei gehaltenen Rede erzählte. Die nachträglich dazu gemachten Aussagen von damals anwesenden Offizieren sind – auch hinsichtlich der Wahrnehmung und Vgl. Kreis, Mythos, 2004, S. 214. Der ehemalige Bundesarchivar Oscar Gauye hat das Manuskript der Rede ausführlich kommentiert, siehe Gauye, le discours, 1984. Zudem ist die Rede in veränderter Form im gedruckten Tagebuch von Bernhard Barbey überliefert: Barbey, Bernard: P. C. du Général. Journal du Chef de l’état-major particulier du Général Guisan 1940–1945, Neuchâtel 1948. 24 Guilde du Disque (Hg.): Général Henri Guisan – Tagesbefehle, Ansprachen, Worte zur Stunde. Ordre du Jour, Allocutions, Message, GC 707, Vinyl 10inch, A-Seite: Le Rapport du Rutli du 25 Juillet 1940 (A2). Vgl. Kreis, Mythos, 2004, S. 29. 22

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2. Der historische Index

Wirkung des Ereignisses auf die Anwesenden – widersprüchlich.25 Weiter können wir uns dem Rütlirapport auch über die 1948 gedruckten Tagebuchauszüge von Bernard Barbey annähern.26 Barbey war 1940 der Leiter des persönlichen Stabs des Generals und war massgeblich in die Planung und Durchführung des Rapports involviert. Diese kurze Auflistung möglicher Quellen verdeutlicht, dass für die kurze Zeitspanne des Rütlirapports selbst eine Lücke in der Überlieferung klafft. Theo Freys Aufnahmen sind die einzigen verfügbaren Quellen, die unmittelbar in dem Moment und kausal aus dem Ereignis Rütlirapport entstanden. Sie lassen sich nicht auf andere (schriftliche) Dokumente zurückführen, die ebenfalls während des Rapports entstanden. Es sind also die einzigen Spuren jenes Ereignisses, das zwischen der Vorbereitung des Rapports und den nachträglich abgefassten Memoranden oder notierten Erinnerungen stattfand. Wir können also keine direkten Vergleiche machen zwischen der Aufnahme und anderen überlieferten Quellen. Angesichts der Bedeutung, die dem Rütlirapport als Ereignis in der Schweizer Geschichte zugesprochen wird, ist es daher naheliegend und zudem doppelt verlockend, das fotografische Bild als historische Quelle zu nutzen. Für unsere weiteren Überlegungen ist es aufschlussreich, hier einen ganz kurzen Exkurs in die Entstehung von Fotografien einzuschieben. Fotografische Bilder sind optischchemische Einschreibungen von Lichtstrahlen in die lichtempfindliche Emulsion auf dem fotografischen Träger. Damit weisen Freys Fotografien eine Qualität auf, die sonst keine der überlieferten Quellen vorweisen kann. Sie sind Spuren, die kausal auf das Ereignis Rütlirapport hinweisen, es anzeigen – indexieren – und davon zeugen. Die von Frey über den Auslöser automatisch in Gang gesetzte Einschreibung fixierte die vor der Kamera befindlichen Begebenheiten. Fotografische Bilder werden darum weitherum als stillgestellte, im Bild fixierte Zeit angesehen. Freys Fotografie ist also ein aufgezeichnetes Bild vom Rapport, das für die nachträglichen Betrachtenden einen Index auf die aufgezeichnete Vergangenheit aufweist. Fotografietheoretisch bringt es jenes vielzitierte und sinngemäss übersetzbare ‹dies-ist-gewesen› in Anschlag, dass der französische Philosoph Roland Barthes 1980 in seinem letzten Essay La chambre claire. Note sur la photographie (Deutsch: Die helle Kammer) ausformuliert hatte.27 Barthes wies darauf hin, dass Vgl. Gautschi, General, 1989, S. 272–274. Barbey, P. C. du Général, 1948. 27 Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980, S. 120: «ça-àéte». Barthes’ Phrase wurde etwas unglücklich mit «es-ist-so-gewesen» übersetzt. Passender wäre wohl «Dies-ist-gewesen». Vgl. dazu auch Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1985, S. 87. Nachfolgend zitiere ich nach der deutschen Ausgabe. 25

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eine Vergegenwärtigung der fotografisch aufgezeichneten Vergangenheit nur unvernünftig erfolgen könne. Sie sei immer abhängig von der Imagination der Betrachtenden.28 Er schrieb dann auch entsprechend metaphysisch davon, dass der abfotografierte Referent, also das im Bild bezeichnete, im Bild haften bleibe und das Bild sei darum «[…] wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten.»29 Das fotografische Bild gehe also aus seinem Ursprung hervor. Als Realist würde er, so Barthes weiter, Fotografien als die magische «[…] Emanation eines vergangenen Wirklichen [Hervorhebung im Original; Anm. d. A.]» ansehen. 30 Die historische Beweiskraft der Fotografie, so könnten wir mit Barthes argumentieren, resultiert aus diesem indexikalischen Charakter (den auch andere audiovisuelle Medien aufweisen). Ihre dokumentarische Potenz verstärkt sich womöglich dadurch, dass sie zudem eine besondere «indexikalische Ästhetik» aufweist. 31 Das heisst, dass zum optisch-chemischen Abdruck, also dem Index, die Ähnlichkeit des fotografischen Abbildes zur sichtbaren Wirklichkeit hinzutritt. Als Betrachtende neigen wir darum dazu, Fotografien eine besondere Authentizität zuzusprechen. Wir gehen davon aus, dass die auf einem Bild dargestellten Objekte und Personen echt sind und von der Fotografie unmittelbar aufgezeichnet wurden. Die kanadische Fotohistorikerin Joan Schwartz hat die historiografischen Verheissungen dieser indexikalischen Ästhetik in einem brillanten Beitrag herausgearbeitet. Sie hat nachgezeichnet, wie sich schon 1839 mit dem Aufkommen fotografischer Verfahren – und dem gleichzeitigen Aufstieg der Geschichtswissenschaft – die Vorstellung festsetzte, jene werden der künftigen Geschichtsschreibung eine bis dahin nie dagewesene Fülle an präzisen und wahrheitsgetreuen Quellen bescheren.32 Nehmen wir nun die Spur von Freys Bild wieder auf. Was können wir aus den vorangehenden Überlegungen gewinnen für die Aufnahme des Rütlirapports? Freys Fotografie weist zwar Einschränkungen auf: Sie zeigt nur eine Momentaufnahme des Rapports aus einer einzigen Perspektive, einen auf eine Zehntelsekunde verkürzten Augenblick, der zudem in Schwarz-Weiss wiedergegeben ist. Und wir blicken als Betrachtende lediglich aus einiger Distanz auf die Szenerie. Wir können also zum Beispiel keine Mimik in den Gesichtern der AnwesenBarthes, Die helle Kammer, 1985, S. 128. Siehe dazu auch Siegel, Steffen: Paradigma Fotografie, in: Sakoparnig, Andrea; Wolfsteiner, Andreas; Bohm, Jürgen (Hg.): Paradigmenwechsel. Wandel in Künsten und Wissenschaften, Berlin/Boston 2014, S. 175–199, hier: S. 182; Batchen, Geoffrey: Photography Degree Zero. Reflections on Roland Barthes’s «Camera Lucida», Cambridge (Mass.) 2009. 29 Barthes, Die helle Kammer, 1985, S. 14 und S. 91, Zitat: S. 91. 30 Ebd., S. 91. 31 Wyss, Beat: Das indexikalische Bild. Hors-texte, in: Fotogeschichte. Beiträ ge zur Geschichte und Ä sthetik der Fotografie, Jg. 20, Nr. 76, 2000, S. 3–11, hier: S. 7. 32 Schwartz, Joan M.: «Records of Simple Truth and Precision». Photography, Archives and the Illusion of Control, in: Archivaria 50, 2000, S. 1–40. 28

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den deuten oder die Körperhaltung des Generals nur schemenhaft erkennen. Welche Evidenz hat sie also? Der Aufnahme scheint wie allen Fotografien ein Effekt der Nähe und Präsenz eigen.33 Sie kann den Eindruck erwecken, das Bild vermöge uns den Rütlirapport unverstellt zu zeigen. Vielleicht hallt in Freys Aufnahme – in Fotografien allgemein – ungewollt und wider besseres Wissen das «sagen, wie es eigentlich gewesen» nach, die von Leopold Ranke 1824 proklamierte Objektivitä tsverpflichtung der Geschichtswissenschaft.34 Rankes geflügelten Worten scheint bis heute eine ungebrochene Strahlkraft eigen zu sein. Und sie dürften den reizvollen Kern dessen ausmachen, was wir als historiografische Verführung der Fotografie bezeichnen können.35 Vor dem Hintergrund der skizzierten Quellenlage und der ihr zugesprochenen Authentizität, ist Freys Rütlirapport-Fotografie eine Art historiografisches Korrektiv. Die im Bild gebannte Fülle an Details zeigt beispielsweise unhintergehbar an, dass es entgegen anderen Quellen eben nicht strahlend sonniges Wetter, sondern der Himmel von Wolken bedeckt war. Und die Aufnahme zeigt auch an, dass nicht wie von Guisan selbst behauptet 650 Offiziere auf der Rütliwiese anwesend waren, sondern nur zwischen 420 und 485, wie es versuchsweise anhand des Bildes nachgerechnet worden ist.36 Damit gewinnen wir zwar ein paar Erkenntnisse im Bereich der historischen Fakten über den Rütlirapport, die durchaus interessant sind. Mit dem historischen Index wollen wir uns hier aber nicht zufriedengeben. Denn mit einer fotografischen «Realienkunde», die sich auf eben diesen Index abstützt, ist der historische Erkenntniswert von Freys Rütlirapport-Fotografie schnell abgeschöpft.37 Vgl. dazu Edwards, Elizabeth: Der Geschichte ins Antlitz blicken. Fotografie und die Herausforderung der Präsenz, in: Wolf, Herta (Hg.): Aufzeigen oder Beweisen? Die Fotografie als Kulturtechnik und Medium des Wissens, Berlin 2016, S. 305–326; dies.: Photography and the Material Performance of the Past, in: History and Theory, Bd. 48, 2009, S. 130–150. Edwards’ Überlegungen sind stark beeinflusst von Domanska, Ewa: The Material Presence of the Past, in: History and Theory, Bd. 45, 2006, S. 337–348. 34 Ranke, Leopold: Geschichten der romanischen und germanischen Vö lker von 1494 bis 1514, Leipzig 1824, S. VI (Vorrede). Rankes Diktum hat sich in der Rezeption zum ‹zeigen, wie es gewesen sei› gewandelt. Dazu: Repgen, Konrad: Ü ber Rankes Diktum von 1824: «bloß sagen, wie es eigentlich gewesen», in: Historisches Jahrbuch, Bd. 102, 1982, S. 439–449. 35 Vgl. dazu Kracauer, Siegfried: History. The Last Things before the Last, New York 1969, S. 50. 36 Gautschi, General, 1989, S. 281 (Fussnote 72). Gautschi verweist dafür auf eine nicht publizierte Seminararbeit von Markus Hohl, die jener 1961 an der Universität Bern eingereicht hatte. 37 Zur fotografischen «Realienkunde»: Jäger, Jens: Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung, Tübingen 2000, S. 72–74. Realienkundliche Auswertungen von Fotografien zielen beispielsweise auf Kleidung, Möbel, technische Artefakte und Ähnliches, das im Bild sichtbar ist. Sie können für alltagsgeschichtliche Fragestellungen durchaus wertvolle Ergebnisse liefern. 33


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