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Jessica Jurassica Kolumne: Störfaktor in der Geisterstadt

Ich wohne in einer gentrifizierten Scheiss-Gegend. Es ist nicht eine dieser neo-gentrifizierten Quartiere, sondern ein Ort, wo eigentlich schon lange niemand mehr wohnt, obwohl da die schönsten Häuser stehen und es kaum zentraler geht. Es ist jener Teil der Altstadt, wo es nur noch Geschäfte, Restaurants und Büros gibt. In Bern-Mitte spielt sich ein grosser Teil des urbanen Lebens ab: arbeiten, einkaufen, essen, saufen, Drogen kaufen, betteln, demonstrieren, Meisterschaften feiern. Aber nachts ist das hier Geisterstadt und draussen nur noch Taxis, Polizeiautos, Betrunkene und Einbrecher, die hin und wieder irgendwo ein Schaufenster einschlagen um Billigparfüm zu klauen.

Es ging damals alles sehr schnell und wir zogen in diese Wohnung ein, in der man nachts und am Wochenende keine Rücksicht auf Nachbarn zu nehmen braucht, weil es keine gibt. Diese Wohnung, in die man ein PA reinstellen und die ganze Nacht bei Club-Lautstärke feiern kann, ohne dass je die Polizei kommen würde oder von der aus man frühmorgens zuschauen kann, wie sich die Geschäfte auf den samstäglichen Ausverkauf vorbereiten, während man selbst noch irgendwelche Substanzen rausschwitzt und sich überlegt, ob man nochmals Prosecco kaufen gehen sollte, jetzt wo die Läden wieder auftun und man noch nicht schlafen kann. Eine Wohnung, wo man einfach klingeln kommt, egal zu welcher Uhrzeit und wo das Wohnzimmer mindestens für fünf Schlafplätze ausgerüstet ist, weil immer irgendwer darauf angewiesen sein könnte.

Irgendwann früher, da waren wir eine Studenten-WG aber dann wurden Studiengänge mit den besten Noten abgebrochen oder mit so mittelmässigen abgeschlossen und also wurden wir zur Kulturprekariat-WG, mit Jobs in Tankstellenshops oder als Zeitungsausträger, oder an der Zapfanlage im Stadion. Und nebenbei die eine oder andere Ambition; vom Schreiben leben, Kunst machen oder endlich mal einen Hit recorden. Und wie in jeder Kulturprekariat-WG ist es oft nicht einfach, mit den Afterhours, den Sucht-, Geld-, und Beziehungsproblemen, den Problemen mit Männlichkeiten oder Feminismus, Geschlechtskrankheiten, Depressionen, Psychosen und Angststörungen. Aber dafür ist eine Gemeinschaft ja da und nur ganz selten werde ich wütend: wenn schon wieder ich die Küche machen muss, wenn ich nicht schlafen kann, weil noch Schnapsflaschen geleert werden oder wenn jemand gebrauchte Kondome im Wohnzimmer liegen lässt.

Dieser ganze prekäre Abfuck ist ja irgendwie auch schön und er ist noch schöner, wenn er im Widerspruch zur lebensfeindlichen Umgebung steht. Ein Störelement in der kapitalistisch reibungslos funktionierenden Innenstadt. Ein hedonistisches Leben leben, wo ein solches eigentlich keinen Platz haben dürfte.