Über gut gemeinte Ratschläge

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WEgbegleitung

Die Südtiroler Frau, 1. 9. 2013/Nr. 17

Warum Tipps auch ner ven können

Über gut gemeinte Ratschläge Sie atmen tief ein und wieder aus. Ihre Absicht war eigentlich nur, die Frage „Wie geht es dir?“ zu beantworten. Sie wollten keine kostenlose Diagnose über Ihre Situation, keinen Rat oder Anweisungen, wie Sie zu handeln haben. Der gut gemeinte Ratschlag stößt bei Ihnen auf Widerstand und sorgt schnell für Missstimmung. Bereits im Volksmund heißt es „Ratschläge sind auch Schläge.“ Sie sind meist gut gemeint, doch werden sie von den Empfängern nicht dankbar, sondern häufig zäh-

neknirschend mit Groll aufgenommen. Das Motiv für gut gemeinte Ratschläge kann im „Streben zu helfen“ gefunden werden. Wir wollen für eine Freundin da sein und verspüren den Drang, aktiv zu werden. Geben wir einen Rat, werden gleichzeitig unsere eigenen Bedürfnisse gestillt, nämlich das eigene Geltungsbedürfnis und zudem das Erleben der Selbstwirksamkeit. Durch gut gemeinte Empfehlungen können wir uns selbst und unsere Weisheit spazieren führen. Ob es beim gut gemeinten Rat um uns oder um den anderen geht, kann einfach überprüft werden. Stellt sich ein kleiner nagender Schmerz ein bei der Vorstellung, dass unser toller Rat nicht gehört wird, ist unser Ego am Werk. Das größte Geschenk, das wir einem Menschen machen können, ist, da zu sein. Manchmal läuft ein Gespräch wie ein Fußballspiel ab, es wird um den Ballbesitz gekämpft. Indem wir einfach da sind und zuhören, können wir für das Leben unserer Freundin einen hohen Beitrag leisten. Damit bekommt sie den gesamten Raum, und damit die Möglichkeit, sich auszubreiten. Was kann ich tun, wenn ich einen guten Rat für jemanden habe und diesen angemessen verwenden möchte? Ganz einfach, ich kann fragen: „Möchtest du einen Rat?“ oder „Möchtest du meine Meinung hören?“. So wird die Freundin vorbereitet und kann sich

Foto: Shutterstock

Bestimmt kennen Sie folgende Situation: Sie treffen zufällig eine gute Freundin, die Sie schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen haben. Sie fragt, wie es Ihnen geht und was Sie zurzeit machen. Daraufhin erzählen Sie die neuesten Ereignisse aus Ihrem Leben, und dass Sie die Situation momentan als ärgerlich und anstrengend empfinden. Ihre Freundin meint dazu: „Zerbrich dir darüber doch nicht den Kopf. Ich würde an deiner Stelle einfach Klartext reden und endlich Grenzen setzen. Lass dir das nicht länger gefallen!“

Dr. Carmen Willeit Psychologin und Hebamme www.praxis-wegbegleitung.it

für oder gegen einen Tipp entscheiden. Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene Entwicklungsgeschwindigkeit, von außen sieht man häufig „Fehler“ anderer Menschen sehr klar. Man würde ihnen am liebsten eine „Reiseroute zum Glück“ verabreichen. Aber mehr als Angebote können wir nicht machen. Bereits die alten Chinesen beschreiben drei Wege für Menschen, um klug zu handeln. Erstens durch Nachdenken, das ist der edelste. Zweitens durch Nachahmung, das ist der leichteste. Drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste (aber der effektivste). Manchmal ist es besser, man lässt andere ihre eigenen Erfahrungen selbst machen. Erfahrungen sind die besten Lehrmeister. Selbst, wenn gewisse Dinge zuerst ärgerlich oder manchmal sogar schmerzhaft erscheinen, so reift man doch an jeder einzelnen. Ein weiterer Vorschlag wäre, man nimmt sich selbst nicht so wichtig und lässt den anderen einfach machen. Wer kann sich schon anmaßen zu wissen, ob nicht genau diese Erfahrung für den anderen der Anstoß ist, um im Leben einen entscheidenden Schritt weiterzukommen?


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