Claus Baumann - Es war einmal ... Mythos der Leipziger Schule

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Claus Baumann

ES WAR EINMAL… VOM MYTHOS DER LEIPZIGER SCHULE K U N S TG E S C H I C H T E N


Zum Autor geb. 1945 in Klingenthal im Vogtland; 1964 Abitur und Abschluss einer Lehre als Forstfacharbeiter; 1964 /65 auf der Walz (Arbeit in unterschiedlichen Berufen: Eisenwalzwerk, Musikinstrumentenaußenhandel, Fotolabor); 1965 /66 Volontariat bei Prof. Johannes Jahn am Museum der bildenden Künste zu Leipzig; 1966 – 1971 Studium an der Universität Leipzig, im Hauptfach: Kunstgeschichte; in den Nebenfächern: Kunsterziehung, Archäologie, Philosophie, Geschichte, Germanistik, Journalistik; 1967 erste Veröffentlichungen und Beginn der Forschung zum Thema: Kunst und Naturwissenschaft (im Ergebnis dessen 1994 das weltweit beachtete Symposium: Naturwissenschaft und Kunst – Versuche der Begegnung, an der Universität Leipzig); 1971 – 1973 Leiter der Gemäldesammlung der Staatlichen Galerie Moritzburg in Halle; 1973 Kündigung aus Protest gegen den geplanten Verkauf von Museumskunst zur Devisengewinnung; ab 1973 freiberufliche Tätigkeit als Kunstwissenschaftler, Publizist, Kunstkritiker, Ausstellungsmacher und -architekt, Kustos und Kurator, Lehrtätigkeit im Fachbereich Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig, etc.; 1993 – 2008 Begründer, Kurator und Kustos der Kunstsammlung und Kunsthalle der Sparkasse Leipzig (Belletristische Arbeiten u. a.: Klingende Täler, Leipzig 1987; Das verwunschene Land, Leipzig 1997; Mitautor bei Marie Luise Marjan, Freundschaften, Hamburg 2004; im Fach: seit 1967 zahlreiche Kunstkritiken, Aufsätze, Bücher, Kataloge, Kalender; seit 1978 auch Arbeit für den Rundfunk) Weiteres unter: www.saeku-leipzig.de/de/unternehmen/claus_baumann.htm

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © 2013 Jonas Plöttner Verlag UG, leipzig 2. überarbeitete Auflage ISBN 978-3-95537-049-7 Reihengestaltung: Maike Hohmeier, Hamburg Umschlagcollage: Claus Baummann Satz: Martin Schotten Gesetzt in der Adobe Garamond Pro Druck: www.ploettner-verlag.de


FĂźr die Hilfe bei der Fertigstellung dieses Buches mĂśchte ich mich bedanken bei Till Jakob, Kai-Uwe Kromeier und Horst W. Pape


Inhalt

1 »Mein ungewollter Anfang von all diesem …« 2 »Die HGB fährt in die Zukunft …« 3 »Das Bauhaus, die Messe und ein Zigaretten- album …« 4 »Die verlorene Generation …« 5 »Das Geheimnis im Keller …« 6 »Oh wie gut, dass niemand weiß …« 7 »Der Garten Eden und ein wenig Hölle …« 8 »Die Abtrünnigen oder abseits des Hörsaales …« 9 »Staatsstreiche oder Fellinis Freude …« 10 »Nur der Geruch von frischem Terpentin …« 11 »Die Quattrocentisten oder wie man sich selbst im Wege steht …« 12 »Ach wenn doch die Sonne im Westen aufginge …« 13 »Künstler sind immer für eine Überraschung gut …« 14 »Als die Datenautobahnen noch ein Waldweg waren …« 15 »Mein lieber Freund und Kupferstecher …« 16 »Der Bauer auf dem Parnass oder Was soll es denn kosten …« 17 »Rette sich, wer sich noch zu retten vermag …« 18 »Die Sammlung …« 19 »Eine Stadt voller Kunst …« 20 »Ende gut gar nichts gut …«

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21 »Manchmal weiß man es …« 22 »Manches war durchaus eigenartig …« 23 »Das mediale Museum oder wo zieht die Mensch- heit hin …« 24 »Einmal Corso – Kosmos und retour …«

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POST SKRIPTUM »Ach ja, die Fotografie …«

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Anmerkungen Abbildungen Abbildungsnachweis Personenregister

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»Mein ungewollter Anfang von all diesem …«

Zuweilen ist man gezwungen, sich zu erinnern, sich wichtig zu nehmen, obwohl es einem widerstrebt. Aber so wie hier, verlangen die Umstände, dergleichen zu tun. – Und man hofft, dass es der Lesende nicht so ernst nimmt ! Es wird viel gesprochen über die Leipziger Schule. Die hohen Preise, die einige Künstler mit ihren Werken erzielen, haben die Leute neugierig gemacht. Dass sich hinter all dem Boom eine außergewöhnliche und in ihren Anfängen zuweilen auch kuriose Kunstentwicklung verbirgt, wird dabei kaum beachtet. Woher auch, wenn einem niemand darüber berichtet? Ich wüsste wohl auch nichts davon, wenn mir der Zufall nicht geholfen hätte. Ich kam 1965 nach Leipzig um Medizin zu studieren. Das war mein innigster Wunsch. Aber ich landete in der Kunst­ geschichte – wer weiß, wozu es gut war. Allzumal ich das besondere Glück hatte, eine überaus bemerkenswerte, ja außergewöhnliche Kunstentwicklung aus nächster Nähe begleiten zu dürfen. Aber das merkte ich erst später. Zum Anfang war es für mich nicht leicht, als naturwissenschaftlich geprägter Mensch in der Kunstgeschichte Fuß zu fassen, denn diese »Wissenschaft« kann ihren Gegenstand nicht definieren, so wie das in den Naturwissenschaften ansonsten

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üblich ist. Und zudem war damals in diesem Fache die Frage: »Was ist das eigentlich: Kunst?« tabu. Man hatte es zu wissen, ohne danach zu fragen. So zu tun, als wüsste man es, war sozusagen die Voraussetzung – der Befähigungsnachweis für dieses Studium. Nur der Zufall verhinderte, dass ich deshalb bereits nach dem zweiten Semester die Segel strich, sondern, durch eben jenen Zufall neugierig geworden, blieb. Ich hatte Glück und fand rechtzeitig das, was mir den Aufenthalt in den kunstgeschichtlichen Gefilden nicht nur erträglich, sondern sogar zu einer kurzweiligen und spannenden Reise werden ließ. Dabei war nichts weiter geschehen, als dass ich bei der ersten studentischen Exkursion ins Pergamonmuseum vor einem Relief aus assyrischer Zeit stand und mit all der Überheblichkeit, die uns Europäern zuweilen eigen ist, dachte: Wie es diesem Altvorderen, nichts wissenden Assyrer eigentlich möglich gewesen war, bereits vor dreitausend Jahren ein so beeindruckendes Relief aus dem verdammt harten Gestein zu klopfen und dann noch mit einer Linienführung voller Eleganz, die ebenfalls in ihrer Wirkung dreitausend Jahre überdauerte ? Ich hatte als Kind an so manchem Stein herumgepickert, aber selbst bei so weichem Material wie einem Ziegelstein war nicht viel zustande gekommen. Wieso war es diesem alten Assyrer mit seinem primitiven Werkzeug in so beeindruckender Weise in diesem schwer zu behauenden Basalt gelungen? Dann wurde mir bewusst: Der Mann – ich nehme an, dass es ein Mann war – dieser Mensch musste sehr viel, sogar sehr, sehr

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viel von den entsprechenden Werkzeugen verstanden haben und von dem Material, dem er damit zu Leibe ging. – Werkzeug und Material, das war es! Da waren ganz gewiss Naturgesetze mit im Spiel. Es stellte sich für mich plötzlich die Frage: Wo und wie weit bedingen oder beeinflussen Naturgesetze das, was wir Kunst nennen? Und: Wie und was und wie viel sehen wir eigentlich und inwieweit denken wir nur, dass wir etwas sehen? Dabei war es völlig gleich, ob es sich um Ölfarbe auf Leinwand oder Schuhcreme auf einem alten Pappkarton handelte. Sobald etwas Erstaunenswertes, Begehrliches, Großartiges dabei herauskam, vielleicht sogar etwas noch nie Gekanntes, konnte es sich um Kunst handeln. – Eigentlich eine ziemlich einfache Faustregel, um für den Anfang je nach Bedarf den Gegenstand meiner weiteren Überlegungen eingrenzen zu können. Vor allem stand mir auf dieser Gedankenbasis die ganze Bandbreite der Kunst offen. Vorausgesetzt natürlich, man wusste etwas von den Eigenschaften der Werkzeuge und denen der verwendeten Materialien und verschaffte sich Kenntnisse über unseren Wahrnehmungsapparat. Jedenfalls war ich fortan überzeugt davon, einen vortrefflichen Aspekt für mich gefunden zu haben, um von da ausgehend den Sprung von meinen kargen, rationalen Klippen in das emotionale, brodelnde Meer der Kunst zu wagen. Es war erstaunlich, was ich fortan zu sehen bekam. Dieser Sprung zeigte mir, dass meine etwas kunstferne Ausgangspo-

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sition durchaus von Vorteil war, denn man sieht in diesem Fache mehr, wenn man mit professionellem Interesse und einem gewissen emotionalem Abstand sozusagen ins Aquarium der Kunst hineinschaut, und nicht, von großen Glücksgefühlen und mächtigem Sendungsbewusstsein beseelt, selbst darin herumschwimmt. – Unverständlich? Oh ja, ein wenig unverständlich bleibt es immer, wenn man über Kunst spricht ! Denn Kunstkenntnisse lassen sich – im Gegensatz zu Kunstgeschichtskenntnissen – vom Katheder herab nicht vermitteln und auch nicht durch ein noch so kluges Buch quasi erlesen, sondern sie sind – bestechungsfrei und personengebunden – nur durch eigene unmittelbare Erfahrung zu erlangen. Das macht Gespräche über Kunst ja auch so schwierig. Welcher Bäcker oder Physikprofessor, welche Kaltmamsell oder Kieferchirurgin, wenn sie alle ihren Beruf ernst nehmen, hat denn schon die Zeit, die von Nöten ist, dafür entsprechende Kunstkenntnisse zu erlangen, und dazu noch das notwendige Vokabular, um einigermaßen frei von beständigen Missverständnissen, sich über die Kunst auszutauschen? – Aber keine Angst, die Natur hat es so eingerichtet, dass ein jeder Mensch auch ohne dergleichen Kenntnisse und Fertigkeiten die Kunst erleben darf und kann, so er will. Einen Rembrandt kann eine Putzfrau genauso erleben wie der Herr Professor. Wahrscheinlich kann es die Putzfrau sogar noch intensiver, denn sie besitzt weniger Halbwahrheiten im Kopf, die ihr beim ungehinderten Erleben die Sicht versperren. Der Herr Professor kann meist nur besser darüber parlieren, selbst wenn er nichts empfunden hat. Erleben kann es, wie gesagt, ein jeder. Man muss dabei nur – im wahrs-

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ten Sinne des Wortes – im Auge behalten, dass man Kunstgeschichtskenntnisse nicht mit Kunstkenntnissen verwechselt, denn mit Kenntnissen: wann ist der Künstler geboren, wann hat er das Bildwerk gemacht und zu welchem (später festgelegten) Ismus muss man es zählen, mit dergleichen erfährt man noch lange nicht, ob es sich um ein gutes oder schlechtes, ein Allerwelts- oder Meisterwerk handelt. Und so sind noch einige Dinge beim Umgang mit der Kunst zu beachten, von denen uns in der Schule niemand erzählt. Während meines Studiums weilten wir 1967 zum Studentenaustausch im damaligen Leningrad (heute wieder St. Petersburg) und waren fast täglich in der Eremitage. Wir betraten diese nicht durch den Haupteingang, sondern durch den Eingang für die Mitarbeiter. Die Pförtner kannten uns schon beim Namen. Eines Tages feierten wir bei einer der uns betreuenden Germanistikstudentinnen zu Hause bei ihren Eltern, etwas außerhalb vom Zentrum Leningrads, und es war spät geworden. Vom »Starka Vodka« nicht mehr ganz bei Sinnen machte ich mich in der Nacht zu Fuß auf, um in unser Internat zu gelangen. Ich hatte die Entfernung völlig unterschätzt und vor allem nicht bedacht, dass des Nachts die Newa-Brücken oben waren. Man kam also nicht auf die andere Seite des Flusses, aber dort lag unser Quartier. Was tun? Auf halbem Wege lag die Eremitage, und der Pförtner ließ mich nicht nur ein, sondern ließ mich auch auf dem mit rotem Samt bezogenen Sofa, das gleich neben seiner Loge stand, schlafen. Es weckten mich die Meinen, als sie am späten Mor-

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gen zum üblichen Rundgang an dieser Pforte in der Eremitage erschienen. Ich schloss mich ihnen an – schlaftrunken – und brauchte eine Weile, bis ich entdeckte, warum die Frau unseres stellvertretenden Institutsleiters, gleichfalls vom Fach, damit nervte, dass die Bilder alle so furchtbar braun seien. Man wisse ja, dass die Russen die Patina der Bilder nicht entfernten, aber dass man sie derart eindrecken ließe, sei doch nicht zu verstehen, kommentierte sie in einem fort.1 So ging das durch mehrere Säle, bis ich merkte: Die gute Frau hatte vergessen, ihre ziemlich dunkle Sonnenbrille abzunehmen. Dass jemand eine falsche Brille auf der Nase hat, kann man in meinem Fache auf diese oder jene Art, tatsächlich und im übertragenen Sinne recht oft erleben – und dann hilft es auch nicht, wenn er oder sie zu den Fachleuten gehören. Zuweilen aber können einen dergleichen Hindernisse und die daraus resultierenden Irrtümer durchaus zu neuen Erkenntnissen verhelfen. Die Beziehungen zwischen Studenten und Lehrer waren zu meiner Zeit sehr eng. Es studierten Ende der Sechzigerjahre in Leipzig im Fachbereich Kunstgeschichte über fünf Studienjahre verteilt mitunter nur neun Studenten gegen und mit einem Lehrkörper, der aus elf Mann und einer – der eben erwähnternFrau bestand.2 Und so kam ich durch besagte Dame (nach meiner Volontärszeit bei Johannes Jahn am Museum der bildenden Künste) wieder und notgedrungen besonders intensiv mit den Niederländern in Berührung, über die sie eine Vorlesung hielt, indem sie Albrecht Dohmanns »Die altniederländische

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Malerei des 15. Jahrhunderts von van Eyck bis Bosch« vorlas. Ich war Hilfsassistent und hatte die Dias zu schieben. Was, nebenbei gesagt, noch den Vorteil besaß, während der Vorlesungen nicht einzuschlafen, denn dieses Studium, bei dem immer Dias geschoben wurden, fand im Dunklen statt. So blieb meine Aufmerksamkeit den Niederländern erhalten. Und eines Tages kam mir gewiss daher oder wiederum durch Zufall der Verdacht, dass der Kunstentwicklung im Osten Deutschlands, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Ähnliches und durchaus Vergleichbares widerfahren war wie den Niederländern des 17. Jahrhunderts. Denn spätestens zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618 machten die Spanier die Grenzen zu ihrer abtrünnigen Provinz Holland so dicht, wie 1961 Ulbricht die Grenze nach dem Westen. Und den Holländern blieb dreißig Jahre lang die Welt nur übers Meer offen, während ihnen das europäische Festland verschlossen blieb. So wie den Ostdeutschen nach dem Bau der Mauer – wenn überhaupt – die Welt nur noch über mediale Wege zugänglich war. Als ich dann diese Entdeckung etwas genauer betrachtete, war ich erstaunt darüber, welche Parallelitäten damit geschaffen wurden. Es blieb zum Beispiel der Kunst beider nichts anderes übrig, als einen eigenen, von der restlichen Kunstentwicklung Europas ein wenig separierten – und vor allem stilistisch sichtbaren – Weg zu gehen. Man kann dies, die Niederländer betreffend, heutzutage noch leibhaftig und unmittelbar nachvollziehen. Man braucht nur in Brüssel ins Königliche Museum der Schönen Künste zu gehen, um sich an der Farben- und Sinneslust eines Peter Paul Rubens

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oder Jacob Jordaens zu berauschen, dann begibt man sich nach Antwerpen und vertieft diesen Eindruck im dortigen gleichnamigen Museum. Danach fährt man ganz schnell die relativ kurze Strecke über die Grenze nach Amsterdam und geht, ohne sich aufzuhalten, ins Rijksmuseum. Der optische Schock, den man dabei erlebt, ist gewaltig. Wie mit einem großen Hammer schlägt es einem vor den Kopf, so dunkel und voller Düsternis sind die Bilder plötzlich – und das mit einer Vehemenz, dass es einem den Atem verschlägt. Und von dieser Düsternis besitzt auch die DDR-Kunst eine gehörige Portion. Sowie eine Vorliebe für das Porträt und das Genrehafte in beiden Entwicklungen nicht zu übersehen ist. Als ich das zum ersten Male leibhaftig erlebte, wurde mir klar, warum ich die Bilder der Holländer bis dahin für ebenso heiter und voller barocker Lebenslust gehalten hatte wie die der Anderen auf flämischer Seite. Von meinem grauen DDR-Alltag aus gesehen war die Düsternis in den Bildern der Holländer eben kaum zu bemerken gewesen. So ist das bei der Kunst. Es hängt immer und vor allem davon ab, wie man selbst geprägt wurde und von welchem Standpunkt aus man auf das Kunstwerk schaut. Und was man dann empfindet, muss noch lange nichts mit dem zu tun haben, was man sieht – oder was tatsächlich vorhanden ist! Ludwig XIV. von Frankreich soll vor Entsetzen aufgeschrien haben, als er zum ersten Male Gemälde aus Holland zu Gesicht bekam. Ich kann daher gut verstehen, wenn mancher Westeuropäer angesichts entsprechender Ostkunst gleichfalls wenig erfreut ist. Im Westen liebte man es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch ein wenig duftiger und luftiger, als man es im Osten

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zustande bringen konnte. Es liegt also meistens nicht an der Kunst, dass man sie nicht versteht, sondern an einem selbst. Besagte künstlerische Besonderheiten zu entdecken, das machte für mich die Ostgegenwartskunst so spannend, weil sie sich unter besonderen und vor allem beschwerlichen Bedingungen entwickeln musste. Ich meine hier nicht den Künstler, sondern die Kunst an sich oder a priori, und dort auch nicht das, was dieser oder jener damals glaubte, für Kunst halten zu müssen. – Stimmt! So genau wusste ich in jenen Tagen auch noch nicht, was Kunst eigentlich ist oder wenigstens sein könnte. Aber irgendwie wurden mir die besonderen Umstände bewusst, unter denen sich in der DDR die Kunst in ihrer Abgeschiedenheit entwickeln sollte und tatsächlich entwickelte – eingezwängt wie in einem rundum geschlossenen Topf, auf dem der Deckel ziemlich dicht saß. Ich hoffte gerade deshalb, der Kunst, die für mich damals in noch unerreichbar weiten Höhen dahinflog, schneller habhaft zu werden: Denn im Käfig lässt sich jeder Vogel leichter fangen … Gemessen an den umfangreichen staatlichen Bevormundungsversuchen konnte man leicht sehen, was als Kunst verordnet wurde und was sich diesen Verordnungen entzog und in seiner Entwicklung nicht unterkriegen ließ, sondern beständig nach Auswegen und Entfaltungen suchte, als würde es unabhängig vom Menschen existieren. Und das war umso bemerkenswer-

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ter nach 1961, als Auswege immer schwieriger wurden. – Denn zeitweise bestanden ja auch Barrieren nach Polen, der ČSSR oder Ungarn, die in Bezug auf die Kunst meist einen etwas freisinnigeren Weg gingen. Rumänien galt zeitweise quasi als westliches Ausland.3 Ich konnte jedenfalls – trotz oder gerade wegen dieser misslichen Umstände – immer deutlicher sehen, was es mit dem auf sich hatte, das wir Kunst nennen. Und das dieses in seiner Entwicklung durch nichts aufzuhalten war, nicht einmal durch die Künstler selbst. Zudem war auf so kleinem Raum wie der Region Leipzig so gut wie alles zu finden, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der bildenden Kunst stilistisch und formal geschah, von der gegenstandslosen bis zur fotorealistischen Kunst, von lasierend bis prima malend, von Informel bis Trompe-l'Œil usw. Und es gab im Osten sogar noch einen Faktor mehr, denn der Westen besaß keinen sozialistischen Realismus. – Offiziell wenigstens.4 Es gab also für einen Kunstwissenschaftler, dem die Frage: »Was ist das eigentlich: Kunst?« nicht aus dem Kopf ging, daher ganz zwangsläufig eine Fülle zu erleben, zu erfahren und zu erforschen. Und das vor allem, weil so historische Ereignisse wie die Teilung Deutschlands in vielfältiger Form den Zufall provozierten, der dann wiederum Dinge hervorbrachte, die unter normalen Umständen nicht geschehen wären. Um es kurz zu machen: Es wurde eine ergiebige, kurzweilige und mitunter sogar spannende berufliche Zeit voller Kunstge-

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schichte und Kunstgeschichten, die 1965 ihren von mir nicht beabsichtigten Anfang nahm. Und Einiges davon will ich hier unvernünftigerweise erzählen. Unvernünftigerweise deshalb, weil Erinnerungen, besonders im emotionalen Umfeld der Kunst, immer mit den Erinnerungen der Anderen kollidieren und man sich deshalb in der Regel nur Ärger einhandelt. Ich kann ohnehin nicht für jedes Detail garantieren. Auch will ich mich hier nicht erinnern, um der Wissenschaft einen Dienst zu erweisen*, sondern nur um für ein wenig Stoff zu sorgen für die Gespräche, die ich so liebe, die Gespräche in den Cafés, Büros und an den Küchentischen zu Hause (Abb. 1).

* Wer es doch noch ein wenig genauer wissen will, der bediene sich der Anmerkungen am Ende des Buches.

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2 »Die HGB fährt in die Zukunft …« Manches lässt sich schwer erinnern. Vor allem dann, wenn das Eigentliche unter dem Kleister der Geschichtsschreibung für den, der nicht dabei war, kaum noch zu erahnen ist. Die Gaudi war groß. Man bog sich vor feuchtfröhlichem Lachen. Kicherte beschwipst. Fiel um und hin. Stand wieder auf und versuchte es erneut. Manchem blieb die Luft weg, aber es störte ihn nicht. Irgendwie musste es doch gehen. So klein konnte ein Auto doch gar nicht sein. Noch war es Nacht, aber im Osten war sie bereits einen Tick heller als im Westen. Nicht mehr lange und man würde wieder einmal seine … die blaue Stunde erleben. Und am Rande der Stadt war sie am schönsten. In der Bar vom Ring-Café verloschen die Lichter. Gerti, die Bardame, machte sich auf den Nachhauseweg. Sie schüttelte nur müde den Kopf über das Treiben auf der anderen Straßenseite. »Diese Künstler«, murmelte sie vor sich hin. »So ein Leben würde ich auch gerne haben.« An der Ecke schaute sie noch einmal zurück. Es war ihr Abschiedsblick. Morgen um diese Zeit würde sie einige hundert Kilometer westwärts sein, auf der anderen Seite Deutschlands. – Auch Künstler wie Gerhard Richter, Georg Baselitz, Gotthard Graubner, Sigmar Polke oder Günther Uecker verließen in jenen Tagen die DDR. Sie dominierten späterhin die westdeutsche Kunstentwicklung; manche

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gar die globale Kunst der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. In den Fünfzigerjahren eben dieses Jahrhunderts residierte in Leipzig in der Bar des Ring-Cafés der Stammtisch eines Teils der jungen Assistenten und Dozenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) – heute eine berühmte Kunstanstalt, damals nur eine Fachhochschule für die auf Buchherstellung bezogenen angewandten Künste: 1764 gegen den Willen der Leipziger Stadtväter als »Zeichnungs-, Mahlerey- und Architektur-Academie« vom Sächsischen Königshof gegründet, um (man höre und staune) nicht die Kunst zu fördern, sondern um die Wirtschaft Leipzigs wieder in Gang zu bringen. Der Siebenjährige Krieg hatte unmittelbar zuvor sein Ende gefunden und Sachsen lag mal wieder am Boden. Von Dresden her setzte man deshalb ganz eigennützig alles daran, der Wirtschaftsmetropole Leipzig zuerst auf die Beine zu helfen. Damit man sie recht bald wieder melken konnte: Sachsens goldene Kuh! … Auf der anderen Straßenseite waren die, die schon im Auto saßen, wieder ausgestiegen und man versuchte das Einsteigen in einer anderen Reihenfolge. Vielleicht würde es dann gehen. Man war fest entschlossen, niemanden zurückzulassen … Um Neunzehnhundert war sie schon einmal weltberühmt gewesen, diese Schule, weil sie über die beste technische Fotoausrüstung und das dazugehörende Lehrerpotenzial verfügte. Die Lehrer waren nach dem Zweiten Weltkrieg längst nicht

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mehr vorhanden und das technische Material, das noch immer bedeutsam war, ließ der damalige Direktor Kurt Massloff von den Russen abtransportieren. Wahrscheinlich war diese Gerätschaft für einen Kommunisten wie ihn allzu bürgerlicher Plunder, den man in der neuen Zeit nicht mehr brauchte. Er markierte damit den Anfang einer Epoche der HGB, in der diese gleichfalls erneut zu Ruhm gelangte, allerdings zu keinem begehrenswerten, denn auch in Bezug auf die Kunst leistete man sich Ungeheuerliches: Massloffs Gehilfe und rechte Hand Kurt Magritz fügte mit nicht weniger Eifer das Seine zum verwerflichen Ruf der Schule hinzu und orakelte sogar öffentlich: »Der Formalismus bedeutet seinem Wesen nach in Wahrheit die Schändung der großen Kunsttraditionen und die Vernichtung der Kunst überhaupt … An die Stelle der historisch entwickelten Errungenschaften der Kunst treten die Formzertrümmerung, das Nichtskönnertum, der Dilettantismus, die Kultur des Hässlichen und Widerwärtigen.«5 – Kaum zu glauben, dass dergleichen nur sechs Jahre nach dem Nationalsozialismus wieder offiziell verkündet werden durfte und dann auch noch in der immer betont antifaschistischen DDR . Die Zeit der Hoffnung nach dem verlorenen Krieg währte nur kurz. Es kam der Kalte Krieg und mit ihm auf beiden Seiten ein gewaltsames Umrüsten in der Kunst. Denn nicht nur der Maler Karl Hofer wurde dabei von der Ostberliner Kunsthochschule gedrängt und ging zerknirscht nach Westberlin, wo ihm auch nichts Gutes geschah. Umgekehrt wurde der Bildhauer Gustav Seitz an der Westberliner Hochschule für bildende Künste entlassen, weil er Mitglied der Ostberliner Akademie der Künste

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war und damit »untragbar«. Im Osten aber fiel man über ihn her, weil er sich für den von den Faschisten verfemten Ernst Barlach engagierte. Und wer tat es allen voran? Natürlich Magritz! Der Philosoph Ernst Bloch schrieb daraufhin an Seitz: »Auf philosophischem Gebiet gibt es Parallelitäten zu diesem Magritz. […] Der gleiche freche Dilettantismus (das Wort ist fast zu vornehm), der gleiche mörderische Größenwahn. Sie nehmen Rache am Geist, den sie nicht haben und kennen. Sie verwandeln die Künstler- und Gelehrtenrepublik in einen Polizeistaat. […]«6 »Die Kristallnächte der Funktionäre«, kommentierte Alfred Kantorowicz7 die Fünfzigerjahre in der DDR, denn es herrschte wieder die alte Angst der Dreißigerjahre. Dabei besaßen die Künstler, wenn sie sich nicht generell verweigerten, durchaus von Anfang an Privilegien: »Die Arbeiter drängte man, die Produktion zu steigern, die Künstler, dies ihnen schmackhaft zu machen. Man gewährte den Künstlern einen hohen Lebensstandard und versprach ihn den Arbeitern.« (Bertolt Brecht, Buckower Elegien). Am Arbeiteraufstand 1953 haben sich die Intellektuellen der DDR daher auch nicht beteiligt, wenigstens nicht direkt. KuBa (Kurt Bartel, Sekretär des Schriftstellerverbandes und verhinderter Dichter, genannt »KuBa«) schrieb an die Arbeiter, als man sie niedergeknüppelt hatte, mit wahrlich »mörderischem Größenwahn«: »Da werdet ihr sehr viel und sehr gut mauern und künftig sehr klug handeln müssen, ehe euch diese Schmach vergessen wird …« 8 Brecht antwortete darauf mit einem Gedicht, das er aber nicht veröffentlichte:

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Die Lösung Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, daß das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch doppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes? Bertolt Brecht, Buckower Elegien9

Wer von den Emigranten auf dem Rückweg ins vermeintlich bessere Deutschland war, machte augenblicklich kehrt und lenkte seine Schritte westwärts. Und kein Wunder, dass die Anständigen, die noch oder bereits da waren – wenn man sie nicht nötigte oder gar zwang –, ganz schnell von alleine gingen, wie die Leipziger Bildhauerin Maria Becke-Rausch, der daraufhin die Stasi das zurückgelassene Œuvre »kristallnachtmäßig« kurz und klein schlug. In dieser Atmosphäre gelangte durch besonderen Eifer die HGB zu dem schlechten Ruf, der dafür sorgte, dass späterhin, bis in die Sechzigerjahre hinein, keiner mehr an dieser Schule studieren wollte, der etwas auf sich hielt. Vorausgesetzt, man wurde woanders genommen …

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Man muss hier kurz innehalten und diesen historischen Tatbestand ein wenig genießen. Zeigt sich doch mit ihm eine dieser paradoxen Merkwürdigkeiten, die die Geschichte immer wieder hervorbringt. Denn dass man sich nicht danach drängte, an dieser Schule zu studieren, führte dort zu einer Lockerung der Aufnahmebedingungen. Und in der Folge landeten daraufhin in Leipzig etliche derer, die an den anderen Kunsthochschulen abgelehnt worden waren. Und unter den Abgelehnten im Kunstbetrieb befinden sich ja oft nicht die schlechtesten, finden sich nicht selten die größeren Talente. In Leipzig sah man aus Mangel an Studenten nicht so genau hin, ob es sich um ein großes Talent oder nur um einen anderswo nicht willkommenen Rabauken handelte. Baldwin Zettl formulierte es einmal mir gegenüber so, nachdem er in Dresden abgelehnt worden war und deshalb nach Leipzig ging: »Was sollte ich in Dresden mit der Taube auf dem Dach, wenn man mir in Leipzig den Spatz hinterhertrug?« … Auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Bar des RingCafés hatte sich das Durcheinander noch nicht gelegt. Trotz der inzwischen unzähligen misslungenen Versuche. Keiner der Beteiligten gab auf. Irgendwie musste es doch gehen. Die Herren fluchten lauthals oder bogen sich vor Lachen. Die Damen kicherten und kreischten. Es begann langsam zu dämmern … … Den harten Kern des Stammtisches in der Bar des RingCafés bildeten Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Hans Mayer-Foreyt, Harry Blume und vor allem Heinz Wagner, der in den neuen Ringbauten gleich über der Bar seine

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Wohnung hatte. Aber auch andere Künstler, wie Günter Albert Schulz zum Beispiel, waren dort häufig zu Gast. – Das Museum der bildenden Künste zu Leipzig besitzt ein Gemälde von Harry Blume, darauf ist dieser harte Kern jener Tage zu sehen, ausgenommen Heinz Wagner (Abb. 2). Vielleicht hat ihn Harry Blume aus Rache weggelassen, denn eines Abends, als man wieder an der Bar saß und schon einiges getrunken hatte, kamen Blume und Wagner über irgendein Kunstthema so sehr in Streit, dass Wagner, als ihm die Argumente ausgingen und der Andere zu beleidigend wurde, diesen einfach mit einem gezielten Faustschlag niederstreckte, dass Blume vom Barhocker fiel. Man könnte deshalb glauben, dass Harry Blume aus diesem Grunde Wagner auf besagtem Bild nicht mit verewigte. Wahrscheinlicher ist jedoch ein anderer Grund, der sich aber mit wenigen Worten nicht beschreiben lässt. Heinz Wagner, er hatte nach dem Kriege am Bauhaus in Weimar studiert, war vierzig Jahre lang so etwas wie die gute Seele der HGB. Er war ein Tüftler und handwerklich über den Durchschnitt begabter Mann. Und ein Mensch, der seine neuen Schuhe, um keinen Neid zu erwecken, stets erst kunstvoll auf alt und getragen trimmte, bevor er damit ausging. Wer irgendein technisch-handwerkliches Problem bewältigen musste, gleich ob Mitglied des Lehrkörpers oder Student, egal ob auf dem Gebiet der Malerei oder ganz profaner, alltäglicher Natur, der ging zu Heinz Wagner. Als zum Beispiel Werner Tübke das Panorama in Frankenhausen in Angriff nahm, gab es spätestens, als die riesige, in einem Stück gewebte Leinwand aus Sibirien ankam und in Hängung gebracht werden musste,

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manches unerwartete Problem, aber es gab auch Heinz Wagner, der sie alle mit Bravour löste. Jedoch zur Eröffnung des Panoramas sorgte Tübke dafür, dass Wagner mit keiner Silbe Erwähnung fand. So erging es ihm eigentlich immer. Wenn die Studenten mal wieder die Schule auf den Kopf stellten, wer renkte alles wieder ein, ohne dass jemand exmatrikuliert wurde? Er. Aber gedankt hat es ihm niemand. Er war so sanft und mit einer schon fast albernen Harmoniebedürftigkeit beseelt (von jenem Faustschlag einmal abgesehen), dass er sogar an seinen Bildern so lange herumwerkelte, bis aber auch alles Leben, an dem man vielleicht Anstoß hätte nehmen können, daraus entfernt war. Ich habe einige seiner Bilder im Anfangsstadium gesehen. Es waren impressive, leidenschaftliche, mit großem Können kühn hingeworfene und meist vollendete Malereien. Aber es half kein Flehen und Betteln, einige Wochen später war von allem nichts mehr zu sehen. Wenn jemand wüsste, was bei dem Porträt von Georg »Schorsch« Mayer, dem einstigen Rektor der Universität, für ein großartiger Anfangsentwurf darunter verborgen liegt, der ließe ohne Bedenken das Darüber vom Restaurator entfernen. Aber es wäre vergebens, denn das Darunter ließe sich nicht mehr finden. Heinz Wagner hat eigenhändig mit Hilfe von Sandpapier immer wieder seine großen Entwürfe entsorgt, bis nur noch das übrig blieb, was jetzt zu sehen ist. Vielen Leuten gefällt es zwar auch so. Aber wenn sie wüssten … Wenn er nur einen dieser genialen Entwürfe einmal unberührt gelassen hätte, damit er in der Öffentlichkeit bekannt geworden wäre, es wäre ihm sicher anders ergangen, und seine Kollegen hätten ihm den Respekt gezollt, den er sich so sehr wünschte. Ich habe

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ihn manchmal deswegen sehr traurig erlebt. Wenn ich dann aber an die Art seines Todes denke, die in vollem Widerspruch zu seinem sonstigen Auftreten steht, dann wird dieser Mann sehr geheimnisvoll. Denn mit diesem grandiosen Abgang holte er sich den Respekt seiner Kollegen, den er zu Lebzeiten so gern gehabt hätte. … Auf der anderen Straßenseite hatte man es fast geschafft. Leider nur fast. Was immer man auch anstellte, einer blieb am Ende doch noch übrig. Und der wollte und der sollte mit. Nicht mehr lange, dann würde die Sonne aufgehen … Als die Amerikaner gingen und die Russen kamen, dauerte es nur kurze Zeit und die bürgerlichen Lehrkräfte an der HGB wurden ausgetauscht. Man könnte denken, dass das von Anfang an ganz in der Absicht und ausschließlichen Verantwortung der Russen lag, aber man kann es auch anders sehen, denn die Kulturoffiziere, die mit der Roten Armee in Deutschland einmarschierten, waren fast immer recht gebildete Juden, die nicht nur viel von der deutschen Kulturhistorie verstanden, sondern diese auch schätzten. Und vielleicht träumten sie gar davon, im eroberten Deutschland den Traum vom »Künstlerund Gelehrtenstaat« doch noch zu verwirklichen – der Bauhausboom unmittelbar nach dem Krieg in der sowjetisch besetzten Zone spricht sehr dafür. Es ist daher gut denkbar, dass anfangs nicht die Sowjets den Wechsel der Lehrkräfte betrieben, sondern die deutschen Kommunisten. Zum großen Halali der Formalismusdiskussion wurde zwar erst 1951 geblasen, aber die

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Vertreibung der bürgerlichen oder auch nur anders denkenden Professoren begann bereits früher. … Auf der anderen Straßenseite machte jemand den Vorschlag, die Türen vom Auto auszubauen, vielleicht würde es dadurch geräumiger. Aber die Damen meinten, sie würden dann herausfallen und kämen deshalb nicht mit … Als die Formalismusdiskussion ihren Anfang nahm, tummelten sich in der DDR an vorderster Front oft ebenso keine Russen, sondern Deutsche, auch wenn das nicht immer gleich zu erkennen war: Magritz zum Beispiel hatte sich für einige seiner besonders scharfen Artikel das russische Pseudonym »Orlow« zugelegt, so dass es den Anschein erweckten musste, als wären diese sowjetischen Ursprungs. Allerdings darf man nicht übersehen, dass Stalin spätestens mit Beginn des Kalten Krieges die liberalen, jüdischen Kulturoffiziere gegen Hardliner austauschte. Doch das war sicher nicht der ausschlaggebende Grund dafür, warum man sich in Leipzig besonders hervortat. Das, was dort geschah, war doch, wie es sich in den Erinnerungen der mir bekannten Zeitzeugen ausdrückte, sehr personengebunden. Und diese Personen taten es vielleicht gerade eben nicht aus tiefster politischer Überzeugung, sondern aus, wie es Bloch formulierte, »Größenwahn« und »Rache am Geist, den sie nicht« hatten. Von heute aus gesehen zeigt sich ganz deutlich, dass Leute wie Massloff und Magritz in Bezug auf die Kunst nichts Bedeutsames beisteuern konnten. In jedem Falle vermochten sie weniger als ihre jungen

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Dozenten und Assistenten und manche ihrer Studenten. Und vielleicht verbirgt sich auch darin – hinter der offensichtlichen Schwäche dieser Leute – einer jener wundersamen Geschichtsmomente und ein Grund dafür, dass einige der jungen Leute nicht gleichfalls das Weite suchten, sondern dablieben, die Folgsamen mimten und auf ihre Stunde warteten. … Im Moment waren sie zu acht – sechs männliche und zwei weibliche, nicht mehr ganz nüchterne Personen – dabei, an den Stadtrand von Leipzig, raus zum Kanal zu fahren, um ihren Rausch auszubaden und den Sonnenaufgang abzuwarten. Das Ganze gestaltete sich aber etwas schwierig. Zum einen weil sie ziemlich betrunken waren. Zum anderen, weil nur einer von ihnen bereits ein Auto besaß, Heinz Wagner. Dieses Auto aber war ein Trabant 500 Coupé, in dem, und das auch nicht so besonders bequem, gerade mal vier Erwachsene Platz fanden. Aber jetzt sollten da acht hinein? Und alle auf einmal. Wie konnte das gehen? Wie auch immer, es musste, denn sie wollten es. Natürlich: Plaste – Elaste hieß es doch neuerdings. Und kam das nicht von elastisch? Also noch mal! Und siehe da, endlich schlug die Beifahrertür zu und alle waren drinnen. Aus dem Fenster der Beifahrertür ragten zwar noch zwei Beine. Da musste man eben beim Fahren etwas Obacht geben. Die Straßenlage des »Trabis« war dadurch aber nicht gefährdet, denn gegenüber aus dem Fenster der Fahrertür ragten zum Ausgleich gleichfalls zwei Beine, und was für welche. Was sollte außerdem schon passieren, am Steuer saß ja der Heinz. Und der würde das schon alles regeln.

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