mosaik16 - united in diversity

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mosaik

united in diversity

Ausgabe 16 • Herbst 2015 • Salzburg • 0,00 Euro

Zeitschrift für Literatur und Kultur


Ausgabe 16 – Herbst 2015 Herausgeber: Josef Kirchner, Sarah Oswald Layout/Satz/Grafik/Illustration: Sarah Oswald Korrektorat: Roswitha Oswald mosaikzeitschrift.at fb.com/mosaik.zeitschrift schreib@mosaikzeitschrift.at issuu.com/mosaik.zeitschrift Auflage: 1000 Stück Erscheinungsweise: 4 Ausgaben/Jahr Erscheinungsort: Salzburg ISSN 2409-0220 Ermöglicht wird dieses Projekt durch die unentgoltene Mitarbeit aller Beteiligten – die anfallenden Druckkosten werden von verschiedenen Stellen der ÖH Salzburg sowie von den Kulturabteilungen von Stadt und Land Salzburg getragen. mosaik – Zeitschrift für Literatur und Kultur ist Teil des Kunstkollektivs Bureau du Grand Mot. bureaudugrandmot.wordpress.com

EINSENDESCHLUSS AUSGABE 17: 9. Dezember 2015 mosaik ist eine Zeitschrift für Literatur und Kultur und versteht sich als nicht-profitorientiertes Medium zur Veröffentlichung literarischer und nicht-literarischer Texte aller Art. Neben literarischen Texten sind ausdrücklich auch nichtliterarische Textsorten wie Essays, Kommentare oder Forschungsberichte und auch Rezensionen, Interviews sowie Veranstaltungsberichte erwünscht. Du willst ein Steinchen des mosaik werden? schreib@mosaikzeitschrift.at Weitere Einsendeschlüsse und Projekte findest du auf mosaikzeitschrift.at Formale Anforderungen: • maximal 1500 Wörter • maximal ein Text pro Autor/Autorin • Anonyme Veröffentlichungen sind möglich, der Autor/die Autorin muss uns jedoch bekannt sein • Einsendungen sind jederzeit möglich - die Texte werden für die jeweils nächste Ausgabe berücksichtigt

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Kultur


INHALT

Hannah Hofbauer INTRO

4

UNITED IN DIVERSITY

5

Sybille Ebner, Andrea Weiss,

Katharina Kral, Lütfiye Güzel,

Patricius d‘Suicidius,

Michael Wolf, Katrin Theiner,

Manuela Varga, Andreas Rentz,

Camena Fitz, Carla Hegerl

NEVERMIND

33

Matthias Engels, Dennis Mombauer

MIT OFFENEN AUGEN

20

KULTURSZENE

Peter.W., Marko Dinic, ´ Hydra,

Steffen Roye, Katie Grosser,

Lyrik von Jetzt, Alexandra Nobis,

Lina Mairinger, André Patten,

Katharina Ferner, Josef Kirchner,

Lisa M. Köstner, Miku Sophie Kümel

Lisa Viktoria Niederberger,

edition mosaik,

Zweifel zwischen Zwieback,

Labor L‘art, Advent-mosaik

ZWISCHEN ZWEI GENICKBISSEN

28

Simone Scharbert, Sigune Schnabel,

A. Kadir Özdemir, Martin Piekar,

Irena Habalik, Christoph Danne,

KREATIVRAUM

Andreas Schumacher

Peter.W.

40

56


INTRO

Auf die Zukunft. Ich trage schwarz und nur. Ich trage es ästhetisch und nur. Am besten

aber feine Bücher entstehen. Den Anfang macht

Trägst du es auch und nur, weil es dir gefällt.

Peter.W. (S. 52), der uns 12 Ausgaben lang mit

Du sollst mir nicht gefallen, gefalle mir.

den Schulterratten und den Perlen der Weltli-

(Martin Piekar, S.30)

teratur begleitet hat und nun mit Hanuschplatz eine neue Kolumne präsentiert (S. 40). Die Versu-

Joseph Schumpeter sprach von der „Schöpfe-

che von Marko Dinic´ werden abgelöst von seiner

rischen Zerstörung“: Man muss alte Strukturen

neuen Reihe Lehengrad. (S. 41)

einreißen um Innovationen zu schaffen, die Komfortzone verlassen um Abenteuer zu erleben.

4

Wir sind abenteuerlustig. Aber auch ein wenig

Alles beim Alten

nervös. Ob es euch wohl gefallen wird, das neue

Der Hauptteil des mosaik wird aber weiterhin

mosaik?

von den zahlreichen Einsendungen der Autorinnen und Autoren aus dem gesamten deutsch-

Logo, Design, Satz, Homepage. Alles neu macht

sprachigen Raum bestimmt. Inhaltliche Vorgabe

das mosaik. Vermutlich müssen wir gar nicht zu

gab es wie immer keine. Welches Thema in den

viel erklären. Vermutlich muss man generell gar

letzten Monaten am meisten beschäftig hat, ist

nicht so viel reden sondern einfach machen. Sich

wohl nicht schwer zu erraten und kann man auf

einen Kreativraum (S. 56) suchen und loslegen.

den kommenden Seiten lesen. ‚United in diversity‘ kann man als Leitspruch der Europäischen

Alles neu

Union, als politische Handlungsanweisung aber auch als Leitspruch des mosaik lesen. Wir sind

Im Oktober haben wir kurzerhand Lisa Viktoria

wieder einmal stolz auf die Vielfalt der Texte, die

Niederberger (S. 51) und Marko Dinic´ (S. 41)

uns erreicht haben.

eingepackt und uns auf Lesereise durch Bayern gemacht. Und die KulturKeule hat wieder inte-

Und wer auf den Geschmack gekommen ist: Es

ressante Stimmen nach Österreich geholt: Im

wird auch ein mosaik17 geben. Und es wird ein

Oktober das Wiener Satiremagazin Hydra (S. 42)

mosaik20 geben – das wird wieder (wie die 10.

und am 25. November u.a. Judith Keller, Niklas

Ausgabe) als Anthologie erscheinen. (S. 54). Und

Lem Niskate und Martin Fritz aus der Lyrik von

dann wäre noch das Advent-mosaik (S. 55) und

Jetzt-Anthologie (S. 44).

die freiTEXT-Reihe auf mosaikzeitschrift.at

Es tut sich also was. Eine größere Neuigkeit dür-

Auf die Zukunft.

fen wir auch voller Stolz vorstellen: In der editi-

Auf die Schöpferische Zerstörung.

on mosaik werden wir in den nächsten Jahren

Auf die Literatur.

ausgewählte Autor_innen mit bildenden Künstler_innen zusammenführen, damit daraus kleine

Euer – neues - mosaik


UNITED IN DIVERSITY österreich ist ein schönes land österreich ist ein schönes land. ein land der berge,

haben wir mittlerweile in sämtlichen größen, au-

ein land am strome – ein land, in dem man wun-

ßerdem könnten wir eine ganze krabbel.gruppe

derbare grammel.schmalz.brote essen, unglaub-

wochen.lang durchfüttern – und alles nur wegen

lich guten schilcher.sturm trinken und im bier.zelt

der flüchtlinge, die mit nichts als dem, was sie am

zu typisch österreichischer volks.musik schunkeln

leibe tragen, in unser land kommen.

oder schuh.plattln kann. herz, was willst du mehr?

die flüchtenden nehmen mir also auch kleidung

zugegeben, ein döner.kebab ist schon auch le-

weg, jawohl! zwar keine teuren marken.klamot-

cker, ein besuch beim goldenen m sehr beliebt

ten, sowas besitze ich nämlich nicht, aber meine

– und sowohl pizza als auch pasta sind aus der ös-

gesamte winter.jacken.kollektion der letzten vier-

terreichischen küche längst nicht mehr wegzuden-

zehn jahre. ebenso sämtliche mützen, die ich nicht

ken. allzu weit her ist es mit der typisch österrei-

mehr tragen mag, weil ich neue habe, natürlich

chischen hinterwäldlerischkeit also ohnehin nicht.

auch die meiner kinder, und nicht zu vergessen:

umso erstaunlicher ist es also, dass jene men-

die winter.stiefel! jedes jahr kaufe ich neue, ob-

schen, die aus kriegs.gebieten flüchten und in

wohl die alten noch gut genug wären – die sind

unser schönes land kommen, bei vielen einhei-

jetzt weg. war ja klar.

mischen große ängste auslösen. woran liegt das?

was mir noch weggenommen wird? ganz einfach:

an der fremden religion? oder daran, dass diese

zeit! ich habe viel weniger zeit für dinge wie her-

menschen eine andere sprache sprechen, ein

um.sitzen, nichts.tun oder fern.sehen. stattdessen

kopf.tuch tragen, dunklere haut haben? wenn

wasche ich fremde wäsche, ordne das lager im

man mit den kleinen leuten spricht, hört man oft

keller, kümmere mich um neue sach.spenden, be-

von der angst, dass die uns was wegnehmen, dass

treue ein privates spenden.konto und einen blog,

wir dann weniger haben, dass sie unsere traditio-

um noch mehr menschen zu finden, die mit.hel-

nen und werte zerstören. doch was steckt hinter

fen wollen, und spreche mit leuten, mit denen ich

diesen ängsten? nehmen uns die flüchtlinge wirk-

noch nie gesprochen habe. bis vor kurzem hatte

lich etwas weg?

ich so viel zeit fürs nichts.tun – und plötzlich ist

mir schon – ziemlich viel sogar. platz, zum bei-

mein leben ausgefüllt mit sinnvollen arbeiten und

spiel. vor der so genannten flüchtlings.krise hatte

netten bekanntschaften. fühlt sich komisch an.

ich massenhaft platz im keller, die regale waren

auch meinen kindern haben jene flüchtenden

teilweise sogar leer, fast ein wenig unheimlich –

menschen etwas weggenommen! es ist wirklich

eine zombie.apokalypse hätten wir so bestimmt

ein skandal, sogar die kleinsten der kleinen müs-

nicht überlebt. jetzt ist mein keller voll bis unter

sen auf dinge verzichten – etwa auf die vielen

die decke, überall stehen kisten voller kleidung, in

kuschel.tiere, die wir schon drei.mal übersiedelt

den regalen stapeln sich boxen mit müsli.riegeln

haben, und die dennoch ungeliebt und vergessen

neben duschgels und einweg.rasierern. socken

in einem dunklen sack ein trostloses dasein friste-

warten darauf, getragen zu werden, unter.wäsche

ten. bis sie in einen großen korb gepackt und in

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6

den keller getragen wurden – wo sie jetzt darauf

laden – all das würde nie passieren, kämen keine

warten, von liebe.vollen syrischen kinderhänden

fremden menschen in unser land.

gedrückt zu werden. oder auf die fünfte packung

außerdem hat die cousine eines bekannten der

farb.stifte, die nicht einmal mehr in die stifte.box

mutter einer freundin erzählt, dass wir am ende

passte – damit zeichnen jetzt kinder, die wir nicht

ausländer im eigenen land sein werden, dass jene

kennen, die aber freudestrahlend bilder voller

kriegs.gebeutelten menschen unsere kultur, unse-

regen.bogen und sonnen.strahlen zu papier brin-

re traditionen zerstören, weil wir österreicher (ohne

gen. und natürlich wurden auch meinen kindern

-innen) ja alle in bunter kleidung mit einem lächeln

kleidungs.stücke weggenommen – etwa der schi-

im gesicht durch die berge tanzen, wahl.weise in

anzug aus dem vor.vor.jahr, die hose, die nur mehr

dirndl oder leder.hose, und gern in lächelnde, un-

bis zur wade reicht, und der schal, den wir bei ei-

verhüllte gesichter blicken. dann haben mir diese

ner tombola gewonnen und nie getragen haben.

menschen also sogar mein faible für schwarze klei-

das schlimmste aber ist, dass diese menschen mir

dung und mützen weggenommen? immerhin bin

freund/innen weggenommen haben! ja, ehrlich!

ich österreicherin, und als österreicherin muss ich

die zahl meiner freund/innen auf den diversen so-

natürlich unsere werte und traditionen bewahren

zialen platt.formen hat sich drastisch verringert. all

– also weg mit den schwarzen klamotten, her mit

die lieben leutchen, die mir täglich so viel freude

unseren werten und traditionen.

bereiteten mit ihren katzen.bildern und weisen

doch was sind eigentlich unsere werte und tradi-

sprüchen, deren sinn sich mir ob mangelnder

tionen? eine kurze bild.recherche auf den face.

rechtschreib.kenntnisse nicht immer erschloss,

book.auftritten jener politiker (auch hier ohne

all die status.meldungen, die gern mit den wor-

-innen), die sich besonders um unser wohl.erge-

ten „ich hab ja eh nichts gegen ausländer, aber

hen und den fort.bestand unserer kultur sorgen,

…“ anfingen, und all die netten leute, die mich in

verschafft mir einen recht interessanten über.blick:

geheime gruppen hinzufügten, deren sinn es ist,

trinke viel wein und bier, am besten in einem

österreichs islamisierung zu verhindern und chem-

bier.zelt oder einer schummrigen diskothek, halte

trails mit in essig getränkten orgo.dingsbums zu

immer dein glas in die höhe und grinse, was das

bekämpfen – sie sind weg!

gebiss hergibt, trage dabei unbedingt leder.hosen

die meisten ergriffen von sich aus die flucht –

und trachten.jopperl, iss viel fleisch, am besten

manche musste ich aber auch ein wenig anstup-

rechts.drehendes huhn vom grill oder schweins.

sen, damit sie davonliefen. mittlerweile ist es fast

braten aus dem ofen, nicht zu vergessen: geh ins

schon ein wenig einsam auf den weiten fluren

bier.zelt, trag leder.hosen und schunkle im takt

meiner sozialen pinn.wände, und ich vermisse die

zum rainer.marsch.

täglichen netten plaudereien darüber, ob unser

das soll unser österreich sein? das sind die werte

boot schon voll sei oder warum blau gegenüber

und traditionen, die in gefahr sind, wenn men-

rot oder grün zu bevorzugen ist. vermutlich sind

schen aus fremden ländern in unser land kommen?

diese flüchtenden menschen auch schuld daran,

wer sorgt sich um all die wunderbaren schriftstel-

dass ich nachrichten bekomme, in denen ich als

ler (und -innen), die kunst.schaffenden, um jene,

links.linker gutmensch bezeichnet werde, in de-

die wissenschaft betreiben, wundersame dinge

nen man mir pest und cholera an den hals wünscht

erfinden, wer denkt an die menschen, die mit

und mich manche mit.menschen auf eine spezielle

oder ohne blas.instrumenten musik machen, die

führung durch diverse duschen und kammern ein-

in bier.zelten nie gespielt wird, oder an menschen


wie mich, die mit dirndl und leder.hose recht we-

zu dem machen, worauf wir stolz sein können: zu

nig anfangen können und ihre frei.zeit selten bis

einem österreich, das platz für alle bietet, egal ob

nie im bier.zelt verbringen? das bild unserer werte

in leder.hose oder kaftan, ob im anzug oder mit

und traditionen, das ich jetzt vor meinem inneren

hidschab. und danke an alle, die mir jene dinge

auge habe, stammt eher aus längst vergangenen

wegnehmen, die ich ohnehin nicht mehr brauche,

zeiten als aus einem österreich, dessen haupt.

und ihnen neues leben schenken – was kann es

stadt bereits zum sechsten mal als stadt mit der

schöneres geben?

höchsten lebensqualität weltweit ausgezeichnet

Sybille Ebner

wurde. kann es sein? nehmen uns die flüchtenden dieses verstaubte image hinterwäldlerischer schuhplattler weg? ewig schad. ruhet in frieden, ihr werte und traditionen aus vergangenen jahr.hunderten – und seid will.kommen, ihre werte und traditionen, die unser aller leben verändern, bereichern und

sinnwortspiel.wordpress.com

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I‘m helping/i‘ll help/ i‘m going to help Ich habe heute Flüchtlinge gesehen.

Zum ersten Mal nicht im Fernsehen, sondern live und in 3D. Sie waren müde, müde und traurig.

Menschen, die von Krieg, Vertreibung, Not und

Rastlos sein muss schon müde machen, ange-

Elend flüchten. Mit einem Baby. Sie standen

gafft werden wohl noch mehr.

2 m neben mir am Gleis und warteten zusammen mit einer Meute aus anderen Mitteleuropäern auf

Ich habe heute Flüchtige gesehen.

den Zug nach München. Aus welchem Land kom-

Und Angst in ihren Augen. Not. Verzweiflung.

men sie wohl? Sind sie über das Meer gekom-

Vertreibung. Leid. Elend. –wie inhaltsleer seid

men? Wen ließen sie zurück.

ihr geworden. Werdet ihr doch immer von jenen ausgesprochen, geschrieben und halb an-

Ich habe heute Flüchtende gesehen.

gedacht, die nie mit euch zu tun hatten. Nette


Familien, die darüber am Mittagstisch zwischen

gelsgleiches Geschöpfchen an mir vorüber. Sie

zwei Bissen Nudeln, oder Knödel oder Braten sit-

hatte es in den Zug geschafft. Mit Reservierung

zen und die Angst hastig hinunterschlucken, die

sogar.

Not in sich hineinfressen und aus den Krümeln Mauern bauen.

Ich habe heute Flüchtlinge gesehen. Sie waren wie „wir“. Rein äußerlich waren sie

Ich habe heute Flüchtlinge gesehen.

einfach etwas dunkler als „wir“. Aber sie müssen

Sie haben vielleicht den mare nostrum besiegt

nach Angst gerochen haben, im Bemühen nicht

und überlebt – nur um in Bozen unter alpinen Zi-

aufzufallen – sodass die polizistischen Spürhun-

tronenbäumen – zum ersten Mal überhaupt Win-

de das sofort bemerkt haben. Der Verbrauch an

termäntel zu brauchen und von der Polizei an der

blauen Plastikhandschuhen muss enorm gestie-

Weiterfahrt gehindert zu werden. Die Tickets in

gen sein.

den Händen.

Ihr müsst das Alles schon verstehen: schließlich

Und das Kind, es schrie wie am Spieß. Es begann

ist in „unserem“ Europa – united in diversity – für

mit seinem Geheul wie in einem gut durchdach-

solche kein Platz.

ten Stück als Vorbote des Unglücks. Später, im

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Andrea Weiss

ruhig dahingleitenden Zug, lief ein blondes, en-

Dichte grenzen Die Sonne steht so hoch, dass man sich tief in

war alles ganz normal. Die Gegend flog nur so

den Sitz drücken muss, um sie am oberen Rand

an uns vorbei. Ein Dorf, eine Stadt, ein Baum,

des Fensters kleben zu sehen. Neben den Schie-

ein Bahnhof, ein Hund, ein Haus, ein Wald, ein

nen schieb sich ein brauner Fluss durch die grü-

Bahnhof. Regen, Tunnel, Sonne, und plötzlich…!

nen Hügel. Links ein dunkler Nadelwald. Rechts

Die meisten bemerkten es erst gar nicht, redeten

ein kleines Dorf mit fünfhundertsechsunddrei-

mit dem Nachbarn über Zukunftspläne, wenn er

ßig sichtbaren Häusern, ich habe zwanzigmal

dieselbe Sprache sprach, oder telefonierten mit

nachgezählt. Am blitzblauen Himmel eine Bä-

den Daheimgebliebenen, um das freie W-lan bis

renwolke, eine Tigerwolke und ein Minarett.

zu Schluss auszunutzen. Ich selbst drückte mir

Der Zug ruckelt ein wenig, ist wohl über eine

schließlich auch nur die Nase an der Fenster-

Unregelmäßigkeit der Schienen gefahren. Na-

scheibe platt, weil ich allein da war, mein Han-

delwald und Dorf haben sich keinen Zentimeter

dy keinen Akku mehr hatte und die Schlage vor

weiterbewegt. Wie lange wir schon so fahren,

der nächsten Steckdose einfach zu lang war. So

ohne dass die Landschaft davon Notiz zu neh-

kam es, dass ich zu der Gruppe der ersten Ent-

men scheint, kann ich nicht genau sagen. Zuerst

decker gehörte, die ansonsten fast ausschließlich


aus Kindern bestand. Es ist demnach auch nicht weiter verwunderlich, dass es ein Kind war, das die Situation als erstes in Worte fasste: „Warum fährt die Landschaft nicht mehr weiter, Mama?“ Ja, warum? In allen im Zug vertretenen Sprachen hörte man diese Frage durch die Menge wandern. Was war geschehen? Warum fuhr der Zug, und die Landschaft nicht? Erste Unruhen mussten besänftigt werden. „Die Schaffnerin wird alles erklären!“, beruhigte man. Es dauerte lange, bis überhaupt jemand vom Zugpersonal zu finden war und die gewonnene Information knapp:

zum Abschied winken können! Wink ihnen zum

„Don’t worry! It won’t take long!“

Abschied, denn wir kommen nicht wieder! Wir

Inzwischen kommt gar niemand vom Zugperso-

fahren nach Deutschland.“ Ich müsste dringend

nal mehr vorbei. Nur die Frau mit dem Imbiss-

mal aufs Klo, doch seinen Sitzplatz zu verlassen

wagen drängelt sich manchmal noch durch die

heißt ihn aufgeben. Inzwischen sitzen fast nur

vollgestopften Gänge, denn die Küche liegt

noch junge Männer mit leeren Augen, aber noch

ganz hinten im Zug und die erste Klasse ganz

stark genug sich zu wehren. Die Frau mit dem

vorne. Die hoffnungsvolle Ruhe vom Anfang

Essenswagen schiebt sich durch die Menge. Ein

ist schon lange versickert. Wir haben keinen

Cola drei zehn. Eine Apfeltasche vier Euro. Ein

Grund zu hoffen, denn die Landschaft steht für

Mineralwasser zwei fünfzig. Weiter hinten bricht

uns grundlos still und Grundlosigkeit kann man

ein junges Mädchen zusammen. Meine Was-

nicht bekämpfen. Die Hoffnungslosigkeit raubt

serflasche ist auch schon seit gestern leer. Zwei

uns die Menschlichkeit. Der Vater in der gegen-

fünfzig für ein Mineralwasser! Zuhause habe ich

überliegenden Sitzreihe schlägt seinen Sohn

mich schon seit zwei Tagen nicht gemeldet. Akku

heute schon zum dritten Mal, weil dieser nicht

leer und keine Steckdose in erreichbarer Nähe.

aufhören will, gegen die Scheibe zu klopfen.

Oma wird vor Nervosität die ganze Zeit mein

Als wir vor fünf Tagen in Wien losfuhren hat er

Zimmer aufräumen und Mama das Essen anbren-

gelächelt. „Komm, mein Sohn!“ hat er gesagt:

nen lassen, weil sie so viel reden muss um nicht

„Lass uns an die Fensterscheiben klopfen, damit

verrückt zu werden. Papa wird gar nichts sagen,

die Leute zu uns herauf schauen und wir ihnen

aber jeden Abend heimlich ein Bonbon mehr essen. Dass heißt, wenn sie noch zuhause sind. Der Junge gegenüber klopft immer noch gegen die Fensterscheibe, obwohl sein Vater schon wieder ausholt. Ich drücke mich tief in den Sitz, sodass ich die Sonne gerade noch am oberen Rand des Fensters kleben sehen und fange an, die fünfhundertsechsunddreißig Häuser des kleinen Dorfes noch einmal nach zu zählen.

Katharina Kral

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gastarbeiter ein türke fegt zigarettenreste zusammen hier am bahnhof es gibt kalte asche zum frühstück ich habe irgendwas gedacht weiß aber nicht mehr was

Lütfiye Güzel

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ich war 5 jahre alt ich war 5 Jahre alt als ein in knoblachstinkender Flanelljacke alter Vampir mit künstlichem Gebiss mich mit dem Einkaufswagen entführte, anstatt ins Alice Wonderland mich in ein ordinäres Bordell verschleppte Ich war 5 Jahre alt und sah Onkel Gellu in seinem Korbsessel, wo er seinen Dalí- Schnurrbart zwirbelte, der wie Puszta-Pferde über die Lippen trampelte und in seiner erotischen Sprache über den Hexenschuss lispelte, der seine Lenden lähmte ich war fünf Jahre alt als mich in ihrem weiblichen Gekläffe Oma Mariana über dem Blutbrodelbottich balancierte und mich Neugeborenes in die gischtglühende Polenta fallen ließ, wo ich mein verkochtes Jungfernhäutchen verbrühte Ich war 5 Jahre alt als man mich durch den Boulevard der Massengräber mit der Limousine der Securitate, welche Chauffeur Ceaușescu mit dem Totenschädelkäppchen kutschierte, wo ich wie ein Ballkleid ein passendes schwarzes Loch aussuchen konnte, und ausprobieren


ich war 5 Jahre alt als die verkrüppelte, fletschende Hundemeute nach meinen Rosensaum schnappte und meine Puppe mir durch meinen Mund abtrieben, während sie die Skalpelle ihrer Fangzähne durch meine Gurgel stießen ich war 5 Jahre alt als Papa Emil, mich, die Pariser Dame, auf den Gipfel seiner Jugend jenseits der Hügel verführte und verzweifelt wieherte, wobei sich eine schwarze Krähe, groß wie eine Fliege, aus seiner keuchenden Geißelkehle stopfte ich war 5 Jahre alt eine piepsende junge Amsel-Antschel, die im Himmel nach den Regenwürmern ihrer jüdischen Großväter schaufelte, während die erwachsenen blonden Engel Blitze in ihren Händen klatschten ich war 5 Jahre alt und wusste nicht wohin, hatte keinen 5-Jahres-Plan nur mit meinem Rucksack mit Liebe Leidenschaft Leben, während er mich wie ein Poizeiknüppel in den Rücken peitschte und preschte: Hia, Pferdchen! Vorwärts! Ich war 5 Jahre alt und wurde geboren als entkorkte Weinflasche im Kuss eines beschwipsten Walzers der sich gegen die Zeit durchdrehte und auf mich die 5 jahre alt, rumänisches Waisenkind, war, mit Katzengoldregen in den sehnsüchtigen Sarkophag nagelte, der geschmuggelt im LKW zur Endstation zuraste

Patricius d‘Suicidius

vertriebener für einen Freund aus Bosnien nicht alle Menschen sind gleich und deswegen auch nicht lieb doch die Zuversicht kehrt ein und Du beginnst Worte zu falten in neuer Sprache hoffentlich verständlich für Andere …

Manuela Varga

11


humanismus

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Die Aufmerksamkeit der Medien wurde erst kurz

auch abzustreiten, dass ein Leben als Koch,

vor Prozessbeginn geweckt, als Martin Stefans

Autofahrer, Briefmarkensammler, Pferdereiter,

der illegalen Schleuserei bezichtigt worden ist.

Kühlschranköffner,

Bei diesem handelte es sich um einen ehemals

expressionistischer Gemälde, Saxophonist, An-

beim Lebensmittelhersteller „Fleisch für die

rufbeantworter, Hobby-Astronom, Abfalleimer

Bürger“ angestellten Koch, der die Abteilung

oder Kommunalpolitiker einen nicht gänzlich zu

„Innereien, Organe und sonstige Spezialitäten,

erfüllen vermag?

die zum Brechreiz anregen, wenn man zu viel

Letzten Endes soll er allein ein einsames Leben

über selbige sinniert“ leitete. Nachbarn und

geführt haben, bis zu dem Augenblick, als er an

Verwandte gaben an, dass es sich bei Herrn

seinem Arbeitsplatz mit Elisabeth Räumer be-

Stefans um eine besonders introvertierte und

kannt wurde, genauer: mit ihrem Gehirn. Wie

einsame Person gehandelt haben soll, die eine

erwähnt, war er in seiner Firma für Organe und

permanente Melancholie ausstrahlte und damit

Innereien zuständig. Dabei war es seine Haupt-

manche seiner Mitmenschen durch seinen blo-

aufgabe, diese zu verkochen und zu pulverisie-

ßen Anblick bereits zum Weinen gebracht, wenn

ren, um damit Suppen und diverse Eissorten zu

nicht gar in den Suizid getrieben haben soll; vor

würzen, wobei unter der Kundschaft die größte

mehreren Jahren ist selbst eine Anklage wegen

Nachfrage nach Schokoladeneis mit Blinddarm-

„Anstiftung zum Freitod“ angestrengt worden,

würzung bestand. Dass ihm dabei das Gehirn

die jedoch vom zuständigen Staatsanwalt wie-

einer Dame in die Finger kommen sollte, war

der fallengelassen wurde, nachdem sich Herr

mitnichten ein Zufall. Ein bedeutendes Problem

Stefans als „Melancholiker der nicht-böswilligen

der Politik stellte in den vergangenen Jahren

Art“ erwiesen hatte.

nämlich die Asylantenfrage und ihre verbrau-

Seine einzige Freude im Leben soll ein luxuriöser

cherfreundliche Lösung dar, da die Aufnahme-

Sportwagen in feuerroter Lackierung der Marke

bereitschaft der Bevölkerung aus nicht näher

Schnupsi gewesen sein, mit dem er seine Frei-

eruierbaren Gründen überstrapaziert worden

zeit beständig verbracht haben soll, sei es um

war. Der ursprüngliche Vorschlag, die Asylan-

mit ihm ziellos durch die wildromantische Wald-

ten in ihre nördliche Heimat, einer der ärmsten

landschaft bei Abenddämmerung und leiser Mu-

Regionen auf dem Planeten, abzuschieben, war

sik zu fahren oder um ihn nach der Kollision mit

auf Widerspruch des Verkehrsministers gesto-

einem Baum wieder in Gang zu setzen. Beson-

ßen, der betonte, die hierfür notwendigen Ver-

deres Vergnügen sollen ihm dabei das Anhalten

kehrsverbindungen in den Norden stünden nur

bei roten Ampeln und das Einparken rückwärts

freiwillig einfahrenden und mautzahlenden Aus-

bereitet haben; nach besonders vertraulichen In-

ländern zur Verfügung, während der Staat kein

formationen hielt er es für die größte Herausfor-

Anrecht hätte, von Personen, die zwangsabge-

derung im Leben, die gängigen Verkehrsregeln

schoben werden, eine Maut zu verlangen; der

zu beachten und sorgsam umzusetzen. Seine üb-

Schaden, der durch solche Asylantentranspor-

rigen Hobbys soll er nicht mit der gleichen Lei-

te für die Straßen entstünde, könnte durch die

denschaft angegangen sein. Wer vermag denn

Mautzahlungen nicht gedeckt werden und wür-

Fallschirmspringer,

Maler


de schließlich dem Staat zur Last fallen. Soweit

zuvor einem Menschen begegnet zu sein, mit

die Argumentation des Verkehrsministers.

dem er auch nur eines dieser Interessen ge-

Der Verzehrminister wiederum gab mit Verweis

teilt hätte. Da er es jedoch nicht lange ertragen

auf die gängige Volksmeinung, Asylanten stün-

konnte, ein regungsloses Gehirn vor sich haben,

den den Tieren näher als den Menschen, öffent-

fasste er den Plan, es in den Körper einer wun-

lich bekannt, es sei daher ethisch vertretbar, sie

derschönen jungen Frau mit einer besonders

gleichermaßen zu verspeisen. Auch wenn die

großen Oberweite zu transplantieren; in der

Bevölkerung hiervon nicht im Bilde war, wur-

Abteilung „Körperwelten“ seiner Firma wären

den Asylanten reihenweise aufgegriffen und in

ja auch genügend Außenhüllen zur Verfügung

Kantinen und Restaurants verfrachtet – oder in

gestanden. Weil jedoch Frau Räumer den man-

Nahrungsmittelfabriken. Bei Frau Räumer han-

gelnden Realismus einer solchen Transplantati-

delte es sich zufällig um eine Immigrantin, die

on beanstandet haben soll, wurde ihr Gehirn in

aufgrund politischer Verfolgung im Norden, die

seinen Sportwagen eingebaut.

auf die Veröffentlichung einer selbstverfassten

Vor Gericht bezeichnete Herr Stefans gemäß der

Kurzgeschichte über den Umgang ihrer Heimat

Boulevardzeitung BILLIG die nun folgende Zeit

mit Asylanten zurückzuführen war, ihre Familie in

als die wundervollste seines Lebens. Gemein-

Richtung unserer Republik verlassen musste, wo

sam mit seiner Geliebten genoss er es, ziellos

sie schließlich verhaftet wurde und der Würzung

durch die wildromantische Waldlandschaft bei

eines Erdbeer-Vanille-Eises hätte dienen sollen.

Abenddämmerung und leiser Musik zu fahren,

Letztlich landete ihr Gehirn in den Händen von

aber auch seine Herzallerliebste wieder in Gang

Herrn Stefans, der aufgrund einer Laune der

zu setzen, wenn er sie gegen einen Baum gefah-

Übernatur telepathischen Kontakt zu ihr aufzu-

ren hat, was unter Eheleuten bekanntlich keine

nehmen vermochte.

Seltenheit ist. Auch wechselte er aufgrund ge-

Nach seiner eigenen Aussage vor Gericht soll

steigerter Sensibilisierung für diskriminierte Min-

es sich um Liebe auf den ersten Blick gehandelt

derheiten seinen Arbeitsplatz und nahm eine

haben. Jenseits jeder körperlichen Anziehung,

Stelle bei einer anderen Abteilung an, in der

da es sich ja nur um ein widerwärtiges Gehirn

das Fleisch von Pädophilen verarbeitet wurde,

handelte, bildete sich ein unsichtbares Band

womit er sich die Sympathien der meisten Leser

zwischen den beiden Persönlichkeiten, ihren

beziehungsweise Hörer dieser Geschichte sicher

Gedanken wie auch ihren Gefühlen. Ihre Wel-

sein dürfte, so fragwürdig dies auch sein mag.

lenlänge entdeckten beide in ihrer gemeinsa-

Allein der Geschlechtsverkehr soll ausgeblieben

men Leidenschaft für das Kochen, Autofahren,

sein, da das Fortpflanzungsorgan von Herrn Ste-

Briefmarkensammeln, Pferdereiten, Kühlschran-

fans sich für den Auspuff von Frau Räumer als zu

köffnen, Fallschirmspringen, Malen expressio-

groß erwies. Aber wahre Liebe lebt bekanntlich

nistischer Gemälde, Saxophonspielen, Anrufe-

auch nicht von der Häufigkeit oder der Quali-

beantworten oder auch für das Engagement als

tät von Kopulationen - sondern vom abwechs-

Hobby-Astronom, Abfalleimer oder Kommunal-

lungsreichen und kreativen Umgang mit den

politiker. Vor Gericht betonte Herr Stefans, nie

Geschlechtsorganen. Beispielsweise lässt sich

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leicht ausmalen, wie Herr Stefans den Auspuff von Frau Räumer in den Mund nahm und leidenschaftlich lutschte. Oder wie Frau Räumer den Phallus von Herrn Stefans zärtlich überfuhr. Die Möglichkeiten sexueller Spiele zwischen Mensch und Maschine sind grenzenlos. Lange währte diese Zeit der Harmonie und Eintracht jedoch nicht, da das Gehirn im Auto einen gesteigerten Benzinverzehr erforderte, der bald

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astronomische Ausmaße annahm, so dass selbst

Die logische Konsequenz war die spannendste

die aus Kostengründen auf eine Mondkolonie

und nervenaufreibendste Verfolgungsjagd in der

exilierte Bundesregierung hiervon in Kenntnis

Geschichte der Massenmedien: Verfolgt von ein-

geriet. Die Folge der Gefräßigkeit des Autos

hundertneunundfünfzig Fernsehhelikoptern fuhr

war, dass der staatliche Vorrat an Treibstoffen

Herr Stefans mit Frau Räumer kreuz und quer

zur Neige ging, die Kosten für selbige dement-

durch sein Viertel, ohne der Polizei jedoch lang-

sprechend explodierten, was eine nationale Kri-

fristig entkommen zu können. An diesem Punkt

se mit sich brachte, da weite Bevölkerungskrei-

der Geschichte begann der Gerichtsprozess, von

se sich nicht mehr dazu imstande sahen, ihren

dem einleitend die Rede war. Dabei geriet auch

Trieb nach Freiheit durch Besitz und Gebrauch

der staatliche Umgang mit Asylanten an die Öf-

von Autos (bevorzugt der Marke „Schubbus“) zu

fentlichkeit, die jedoch an spannenden Verfol-

stillen. Es dauerte nicht lange, bis die Regierung

gungsjagden eher interessiert gewesen zu sein

dank der Hinweise von Nachbarn und Verwand-

schien. Schließlich endete der Prozess mit einer

ten und der permanenten Überwachung von

Verurteilung von Martin Stefans, der sich vom

Herrn Stefans auf seinen Wagen als Ursache der

Wirtschaftsminister verspeisen lassen musste

Wirtschaftskrise aufmerksam wurde.

(auf Zitronen-Ingwer-Eis). Elisabeth Räumer sollte zunächst in der Schrottpresse landen, wurde jedoch aufgrund öffentlichen Drucks schließlich per Luftverkehr in den Norden abgeschoben, wo sie in den Kreis ihrer Familie zurückkehrte - die sich besonders über den unverhofften Besitz eines luxuriösen Sportwagens freute, weil ihr das ewigen Reichtum und Wohlstand bescherte.

Andreas Rentz


heimatlied zu singen auf eine x-beliebige Melodie Wo meine Wiege stand Es ist genau dieses wort

ner lispelnden sekretärin ihr drehstuhl Das war

das du nicht sagen willst gegen das du dich

die schwammige wiese mit dem trübsinnigen

sträubst und das doch immer vorn auf der zunge

pony der park mit den enten im feuchten gras

liegt wie ein uferstein Ein ganz besonders gela-

dem verhassten verkehrsübungsplatz Das war

gerter ort weil höchstgradig unbestimmt nicht

der spielzeugladen mit den schlümpfen und dem

in planquadraten und quadratkilometern aus-

matchbox fuhrpark aus blech Das war mutters

zudrücken Da greifen lautverschiebungen nicht

bevorzugtes haushaltswarengeschäft mit den

und keine landmarken Höchstens die altbierlinie

uralten himbeerdrops Das war kaffee- und ziga-

könnte als referenz herangezogen werden aber

rettenkaufen und die erste aufgeregte ausland-

du trankst zur relevanten zeit noch höchstens

serfahrung 3 kilometer von zu haus wo sie vaters

cola Nicht einmal teilst du deine antwort mit

paßfoto mit den fahndungsplakaten verglichen

deinen eltern Mutter war von sonstwo vater von

da er einen bart und das haar lang trug dabei

woanders her Das war konkret zunächst das haus

fürchteten wir hochwasser mehr als den roten ter-

und der garten mit dem gekappten baum und

ror Das waren 20 sekunden vom pokalspiel der

der wellblechgarage die bude zwischen den ver-

viktoria in der sportschau am samstag o:1 gegen

wilderten sträuchern und der wimbledonrasen

einen bundesligaaufsteiger Das war die legende

der nachbarn nebenan Das waren karnevalswa-

von einem von uns in einem meisterschaftskampf

gen aus dem schlafzimmerfenster Das war die

und der haushohe sieg nach punkten Das war

engländersiedlung mit barbecue auf den balko-

eiskonfekt in der lichtburg Probier`s mal mit Ge-

nen bei minusgraden Das waren vaters heftchen

mütlichkeit Das war die grundschule im zeichen

unter der wintergarderobe im abstellraum Die

st.georgs die pingpongplatte das versiffte jungs-

ecke unweit des klärwerks am dreckigen fluss

klo und peinliches vorsingen Dor hör ek t’hüß vor

Die zuckerfabrik in der einen die litfaßsäule dann

versammelter mannschaft Das waren schulgot-

der supermarkt in der anderen richtung Das war

tesdienste die hoch aufragende gotische kirche

konkret die nachbarin mit der kittelschürze den

aus der du beim ersten besuch flüchtetest da du

kies penibelst zurück in die rinne fingernd und

sie für eine mondrakete hieltst Das war konkret

die fugen der wegplatten mit der zahnbürste

auch der wald mit den panzergräben und den

scheuernd rechts und links die alleinstehende

wildschweingittern in dem kaiser otto III. auf der

kettenrauchende und demente nachbarin die

durchreise das dämmrige licht der welt erblick-

irgendwann unterm balken hing Das war die

te Die klapse im grünen Das waren wandertage

tante mit ihrem salzlakritz Das war konkret groß-

Der tierpark mit 30 mitschülern vor dem zaun am

vaters kellerbüro mit dem cognac zwischen den

streichelzoo hinter dem gerade ein zicklein in ei-

akten und dem vollen aschenbecher das bakelit-

ner schleimigen und blutigen blase zur welt kam

telefon mit seinem überzug aus brokatimitat der

Das war das peinlich berührte fräulein Das wa-

marmortisch seine prothese das vorzimmer sei-

ren schulausflüge zum dom und zur eishalle Das

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war konkret das neubaugebiet am stadtrand mit seinen sandhaufen und rohbauten wo du spieltest und vertrieben wurdest Das war der elterliche hof eines schulfreunds mit der aus einem erdwall ragenden klaue eines kadavers Das war später der bahnhof mit der kreisstadt als nächstem und letztem halt vor der grenze Das war die weiterführende schule mit der raucherecke und dem feuchtbiotop des direktors in das wir beim

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sportfest die bälle schmissen Der fahrradschup-

sex in einem waldstück hinter einem ausflugsres-

pen Die ungeschickte hand in einem BH und die

taurant in hörweite eines pflügenden bauern Das

erste HB gestohlen aus mutters schachtel am

war with the lights out it`s less dangerous und

schwanenteich Das war dann alsbald die passa-

bemühter pogo im saal des bürgerhauses Das

ge mit dem roten pflaster Das war noch später

war die brücke zur autobahn ortsende Das war

der marktplatz parkplatz wenig einladend und

konkret das darüber hinaus- und das wieder zu-

dennoch die bänke der landjugend treffpunkt

rückgehen Das ist der neue kirchturm das ist der

Das war konkret toyota 1 am ersten tag von mut-

umgestaltete teich das ist das internat das neuer-

ter an der ecke mit der einfahrt zum jungenin-

dings auch mädchen nimmt Das ist der sanierte

ternat hinterm hügel geschrottet dann toyota 2

wohnblock Das ist das neue nagelstudio anstelle

das erste mal viertürig und mit anschnallgurten

der videothek in der wir das erste mal pornos lie-

Das war konkret das einzige hochhaus dubios

hen Das ist konkret der neue mieter in großvaters

hohe fluktuation der mieter endpunkt ortsaus-

altem haus Das ist die nun unbeteiligte zeugen-

gang ostwärt Das war ein leichtes beben Das

schaft des mantelteilens und Alle Blage sin op

war der nächtliche einsturz des kirchturms das

Drapp plötzlich wieder komplett erinnert Das

auto des küsters unter schutt das mit planen ver-

ist dieses wort das nach loden riecht oder omas

hängte offene schiff der fehlende fixpunkt wenn

rock Das nach fisch schmeckt oder korn Das ist

man über den hügel kam Das war das dasein als

grenzland 14 meter über normalnull vermessen

angehöriger einer religiösen minderheit Das war

und kartographiert von meines vaters einzigem

geschwänzter konfirmandenunterricht in einem

sohn Das war konkret und wird immer deutlicher

wartehäuschchen der 74 unweit der post Das

mit längerer belichtungszeit

war die tanzstunde im saal des alten hotels hinter der bahn Beim bemühten mambo mehrfach versehentlich die hand auf der flachen brust der partnerin I`ve had the time of my life Das war das parkhaus in der innenstadt in das ihr aus übermut mit dem traktor fuhrt Das war die leihbücherei an der knüppelbrücke wo lateinamerikanische lyrik in deiner tasche verschwand und samsa Das waren die ersten abstürze auf schulfeten und die silvesterparty mit freunden mit anschließendem sturz in den weihnachtsbaum das war hastiger

Matthias Engels


ertrinken Stück in einer Szene Gleichmäßige, kühle Helligkeit. Weiße Stellwände umgrenzen einen Teil der Bühne und formen einen rechteckigen Raum, wie ein Krankenzimmer oder eine Zelle. Der PATIENT sitzt an einem leeren Tisch und starrt zur Tür. Die Tür öffnet sich und ein SPEZIALIST tritt ein.

Spezialist

Ah, Sie sind wach, ausgezeichnet. (Er schließt die Tür hinter sich.) Wissen Sie, wo Sie sind? (Der PATIENT schüttelt den Kopf) Das macht nichts. Aber Sie erinnern sich, was passiert ist? (Der SPEZIALIST zieht einen Stuhl heran und setzt sich dem PATIENTEN gegenüber.) Bevor Sie herkamen, waren Sie in einem Theater, nicht wahr? Können Sie sich daran erinnern?

Patient

Ich … irgendwo hinter der Bühne, ja … das Theater war seltsam, völlig menschenleer und stumm. Ich weiß gar nicht, woher mir klar war, dass die weiß verputzten Wände und die Holzdielen zu einem Theater gehörten, die schummrig beleuchteten Korridore und Treppenfluchten … es muss wohl irgendeinen Hinweis gegeben haben, den ich unbewusst aufgeschnappt habe. (Der PATIENT sieht durch den SPEZIALISTEN hindurch, und sein Blick wird mit jedem Wort abwesender.) In diesem Teil des Gebäudes gab es keine Fenster, und ich wusste nicht, wo der Ausgang sein konnte, ob ich vorne oder hinten war, links oder rechts, oben oder unten. Ich irrte durch die Gänge, vorbei an Reihen von identischen Türen, deren Nummerierung immer weiter herabzuzählen schien, 7312, 7311, 7310.

Spezialist

Sie sind aber diesem Countdown nicht weiter gefolgt, sondern haben sich für einen anderen Weg entschieden, jenseits der langen Korridore.

Patient

Das stimmt … auf einigen Türen waren keine Nummern, sondern Bilder, und ich bin durch eine davon hindurchgegangen. Das Weiß der Stellwände hat sich grau verfärbt, mit schimmelartigen Flecken und hervorperlender Feuchtigkeit.

Spezialist

Und das Bild zeigte eine Taube.

Patient

Das Bild zeigte eine Taube. (Irgendwo in der Ferne ist ein Plätschern zu hören.) Aber dahinter war nur eine Treppe, die nach unten führte.

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Wasser beginnt, in tröpfelnden Rinnsalen die Stellwände herunterzulaufen. Am Boden formen sich Pfützen, die langsam größer werden.

Spezialist

Die wievielte Tür war das?

Patient

Mit einem Bild? Die fünfte. Über die Treppe floss Wasser: Es plätscherte schäumend hinab, und bei jedem Schritt spürte ich, wie die steinernen Stufen unter mir nachgaben, aufgeweicht von der stetigen Nässe.

Spezialist

Sie sind also die Treppe hinabgestiegen.

Patient

Ja … ich folgte der Strömung eine Etage tiefer, dann noch eine, bis ich knietief im Wasser stand. Es tropfte von der Decke, und da waren Muscheln auf einer algenüberwucherten

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Kommode, Muscheln mit Öffnungen. Wenn ich sie an mein Ohr hielt, konnte ich Stimmen hören, erst ein tonloses Wispern, dann Worte, Sätze, meinen eigenen Namen. Die Muscheln kannten mich, waren mit mir vertraut, als wären sie alte, im Schlick meiner Erinnerung versunkene Freunde. Je länger ich eine Muschel an mein Ohr hielt, desto klarer wurde die Stimme, klarer und bewusster, als würde sich eine Verbindung aufbauen, ein Kommunikationsfenster öffnen, durch das –

Spezialist

(unterbricht ihn) Aber die Muscheln waren nicht interessant.

Patient

Die Muscheln waren nicht interessant. Die Pfützen an den Stellwänden verbreitern sich zu Rinnsalen und laufen über den Boden. Ich habe die Muscheln liegengelassen und bin weitergewatet. Je mehr ich mich vom Fuß der Treppe entfernte, desto stärker wurde die Strömung, die ich unter der Oberfläche spüren konnte: ein Zug, der mich zurückzuzerren versuchte, zu der Kommode mit den Muscheln, als ob sie im Zentrum eines Strudels stehen würde. Aber ich ging weiter, unter herabprasselnden Vorhängen aus Wasser hindurch, die Wände bröckelnd und schlammbespritzt, mehr ein Tunnel als ein Korridor. Und dann, endlich, erreichte ich die Bühne. Immer mehr Wasser läuft zusammen und formt unter dem Tisch einen flachen See.

Spezialist

Wer stand auf der Bühne?


Patient

Eine Gestalt mit einer Maske … ein bizarres, triefendes Ding, behängt mit grünen Flechten, die Augenhöhlen lichtlose Untiefen. Ein Geräusch wie das Horn eines Schiffes erklang hinter der Maske, und ich stieg aus dem Wasser auf die Bühne, ging auf die Gestalt zu und blieb vor ihr stehen.

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Spezialist

Und dann nahmen Sie ihr die Maske ab.

Patient

Ja … und darunter war ein Schnabel, waren Federn, Angst, tumbe Augen. Wasserfäden liefen wie Tränen aus den Augen hervor und tropften auf die Brust herab, immer weiter, klipp-klapp.

Spezialist

(zu sich selbst) Am Hafen, zweiter Stock, ein altes Lagerhaus vielleicht. (zum PATIENTEN) Unsere Sitzung ist zu Ende, aber ich denke, wir können zufrieden sein. Der SPEZIALIST geht ab und löscht das Licht. Als das Licht wieder angeht, steht der PATIENT allein im Zentrum des Raumes. Stellwände und Tisch sind verschwunden, und der gesamte Bühnenboden ist mit nassem Sand bedeckt, in dem keinerlei Fußspuren sichtbar sind.

Patient

Das Wasser steigt zwischen den Zuschauerrängen, überflutet schnell die Sitzflächen und Rückenlehnen, schwappt dann auf das Holz der Bühne. Ich sehe mich um, aber der Eingang ist nicht mehr zu finden, auch die maskierte Gestalt nicht, nur Wasser ringsum. Ich stehe auf einer Insel, und mit jedem Atemzug wird diese Insel kleiner, bis es kein Land mehr gibt. Meine Taube ist verschwunden, die Muscheln sind zu weit weg … und das Wasser steigt … ENDE

Dennis Mombauer


MIT OFFENEN AUGEN nebel

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Am hellichten Tag, aus buchstäblich heiterem

Als würde der Nebel ein undeutliches Geräusch

Himmel, legt sich Nebel über die Straßen der

plötzlich deutlich machen, reckt Markus den Kopf

Stadt, über die stillen Vorgartenstraßen, über

und sieht doch nicht viel mehr als die Finger sei-

die breitgetretenen Einkaufsstraßen und über

ner erhobenen Hand vor den Pupillen und – wenn

jene Straßen, in die das lange und eindringlich

er die Augen wie ein Fastblinder daran entlang-

angekündigte Volksfest die Stadtbewohner ge-

führt – auch seine Arme. Er sieht Teile von sich, er

sogen hat. Auch Markus und Maria. Ließen sich

sieht sich irritiert und erschrocken um, als hätte

in das Gewimmel einverleiben, wer weiß, wen

der Nebel heimliche Gedanken aufgeklappt und

man diesmal alles treffen würde. Der Menschen-

als Neonreklame entflammt. Er sieht Maria neben

strom floss träge dahin, ein Strom, an dessen

sich nicht mehr, die er eben noch so fest im Arm

Ufern die Händler Netze gespannt hatten: Bier

hatte, wohl niemand mehr sieht die Freundin,

und Würste und Plastikrosen auf Stehtischen,

den Ehemann oder irgendjemanden neben sich,

Stände mit Silberschmuck und Trinkgläsern auf

am Würstchenstand, am Bierstand, am Stand mit

drapiertem Samt, Bücher mit Frakturschrift und

den indischen Gewürzen. Die Blicke verfangen

Schallplatten aus den Achtzigern auf Kunstrasen

sich im Trüben.

und Teppichen, Selbstgebackenes, Selbstge-

Die Musik erstirbt, mit vielen Schaltern ausge-

basteltes, und gab es nicht an der Ecke immer

knipst. Die Stimmen ersterben, das Bellen der

diesen Stand mit den indischen Gewürzen? Stel-

Hunde und der Polizeisirenen auch. Der Ne-

zenläufer und Feuerschlucker waren unterwegs,

bel steckt die Geräusche der ganzen Stadt, so

dort projizierte irgendwer einen Trickfilm an die

scheint es Markus, in seine Manteltaschen und

gegenüberliegende Hauswand, Erinnerungen an

gibt nichts wieder frei. Selbst sein Ruf nach Maria,

die Kindheit auf zerkratztem Zelluloid, und schau

so scheint es Markus, wird ihm direkt vom Mund

mal da, da jongliert jemand mit Piccoloflaschen!

weggeklaubt.

Auf dem Flachdach eines Supermarktes zersägte

Und der Nebel verschluckt den Geruch von Kaf-

eine Punkband ihre Gitarren. Lautsprecherboxen

fee und Würsten und Gewürzen, er absorbiert

pressten Techno zwischen die Hauswände, und in

den Bierdunst und den Zigarettenqualm und den

die Musik eingewoben wallte der Lärm einer Mö-

Schweiß. Er packt Markus’ Nase und klemmt sie

wenkolonie. Ein Basar. Ein Zirkus. Maria strahlte,

zu, und Markus glaubt trotzdem, Rauch zu rie-

sie wippte beim Gehen im Takt der Beats, und

chen, Feuer, aber das mag auch Einbildung sein.

Markus zog Maria noch enger an sich heran.

Und der Nebel atmet sich wie Watte. Watte quillt

Doch jetzt, unvermittelt: Nebel.

in Mund und Nase. Markus hat das Gefühl zu er-

Jemand muss eine Nebelmaschine aus dem The-

sticken und reißt an seinem Hemd, zwei Knöpfe

ater aufgestellt haben. Jemand muss einen Hebel

platzen ab, und eine Frage blitzt durch seinen

umgelegt haben. Nebel umfließt und umschließt

Kopf, die ihm sogleich sinnlos erscheint. Ob dies

die Menschen und die Stände und die Tische vor

nur ein Zeichen eigener Panik ist, oder ob jetzt

den Kneipen und nimmt sie aus der Welt, ganze

alle mit den Mündern schnappen, an Land ge-

Straßenzüge ummantelt er und nimmt sie aus der

worfene Fische, und nur fort wollen, nur fort, nur

Welt.

zurück?


Er sucht Halt und stößt gegen einen Stehtisch,

schluckt den Schmerz aufgeschlagener Knie und

er greift durch die Watte nach den Hauswänden

verbrannter Handflächen.

und spürt, wie etwas zu Boden geht, vielleicht

Und was bringt es, dass er schließlich eine Wand

eine Vase mit Plastikrosen? Er sucht Halt und

ertastet? Wenn er bei seinen Fluchtversuchen

bringt etwas Großes zum Einsturz, vielleicht den

nicht in Hofeinfahrten hineinfällt, durch die der

Gewürzstand, er ist überrascht über seine Kraft

Nebel in die Häuser dringt, tappt er mit fliegen-

und begreift doch sofort, dass auch andere – viel-

den Händen endlos in jene Richtung, in der er

leicht auch Maria? – unfreiwillig konzertiert dage-

sein Zuhause wähnt, und tastet sich doch immer

gengeprallt sein müssen. Er greift durch Watte

im Karree, im Kreis. Markus wagt nicht, die Wand

und in einen Würstchengrill und spürt schließlich

loszulassen, seine einzige Sicherheit, die Wand,

keinen Boden mehr unter den Füßen. Markus hat

ist das einzig Feste, was er neben seinem Körper

das Gefühl zu schweben, aus der Welt genom-

noch hat (und bei seinem Körper kann sich Mar-

men zu werden, von einer großen Hand wie ein

kus nicht mehr sicher sein).

Bauer vom Schachbrett genommen zu werden. Er

Von den Wänden zu lassen bedeutet, aufs offene

rudert mit den Armen und trifft dabei andere –

Meer hinauszuschwimmen.

vielleicht sogar Maria? - und wird niedergeschla-

So kriecht und tastet er, so prallt er mit anderen

gen - vielleicht sogar von Maria?

– mit Fremden? mit Maria? – zusammen, wird ab-

Weiter. Er stolpert über Kniende und Kriechende.

gedrängt und drängt zurück. So sieht er graue

Immer weiter. Bloß weiter. Schließlich ist offenbar

Watte und schmeckt Watte und riecht Watte und

jeder auf den Knien und auf allen Vieren: Evolu-

fühlt und hört und atmet Watte. Watte. Watte.

tion im Rückwärtsgang. Weiter, planlos: Markus

Watte. Und der Nebel rülpst und hält seine Man-

prallt auf weitere Hindernisse und kann nicht un-

teltaschen auf wie einen Sack, in dem man junge

terscheiden, ob er auf Menschen oder Material

Katzen zum Fluss trägt und versenkt.

prallt. Billardkugeln, denkt er. Tiere in viel zu engen Käfigen, denkt er. Wie in viel zu engen Käfigen klettern wir übereinander im Nebel, der seine Hände aufhält und, so kommt es Markus vor, alle in seine Manteltaschen steckt wie in einen Sack, in dem man junge Katzen zum Fluss trägt und versenkt. Er wechselt die Richtung und macht sich in die Hosen, weil er die Hauswände nicht findet, die doch eben noch den ganzen Menschenfluss kanalisiert haben und nicht abhanden gekommen sein können, doch nicht auch noch sie – – Alles fühlt sich wie Watte an, das Straßenpflaster, die Hindernisse, und dass Markus sich verletzt hat, spürt er wie durch Watte: der Nebel ver-

Steffen Roye

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gegenstrom

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Meine Finger gleiten durch das Wasser wie ein

kurz vor dem Bersten. Mit jedem Zug bezwinge

scharfes Messer durch weiche Butter. Mit jedem

ich den Gegenstrom etwas mehr und jeder Zug

Zug versuche ich mich davon zu entfernen. Auf-

bringt mich näher an die Abzweigung vom Weg,

zutauchen hält mich nur auf und ich presche so

näher an das, was jenseits dessen liegt: mein Ziel.

lange nach vorn, bis meine Lunge sich wie eine

Hinter meinen geschlossenen Augenlidern ex-

tickende Zeitbombe kurz vor der Explosion an-

plodieren tausend Farben und Bilder entstehen,

fühlt. Meine Augen sind geschlossen, mein Blick

neu und jung und frisch wie ich es einst gewesen

nach innen gerichtet, auf das Vorwärtskommen.

bin und wie ich es wieder sein könnte. Vor mir

Meine Gedanken schweifen zurück, zurück an

liegt ein Weg, unbefleckt, unbelaufen, einladend

den Anfang. An die Zeit der weit entfernten Träu-

und ganz mein, genauso wie die Kraft, die mich

me und unerreichbaren Sterne. Als jeder Tag so

antreibt und jeden Zug durchs Wasser leichter,

schwer und das ganze Dasein doch so leicht war.

unbefangener, befreiter werden lässt.

Als es nur wenige, ganz existenzielle Fragen gab

Der Strom verschwindet.

und die Antworten auf andere Dinge weniger

Ich tauche auf und ein Schatten fällt über mich.

wichtig nicht hätten sein können.

Die kalte Luft schmerzt beinahe auf der Haut.

Ich verschmelze mit dem Wasser und will alles

Meine Lunge brennt. Meine Zehenspitzen be-

hinter mir lassen.

rühren den rauen Boden. Er steht über mir, die

Der ständige Lauf der Dinge überwältigt mich.

Sonne direkt hinter ihm, und schüttelt die Was-

Läuft doch, also muss auch alles gut sein, sagt

sertropfen von seinem Arm ab. Ich muss blinzeln

mein Mann immer. Ist doch alles genauso ge-

und doch kann ich das Lächeln auf seinem Ge-

kommen, wie du dir immer erträumt hast, sa-

sicht sehen. „Wir wollen in einer halben Stunde

gen meine Freunde immer. Euch Frauen geht

los“, sagt mein Mann und seine Stimme klingt

es heutzutage viel besser als uns damals, sagt

so, als käme sie von weit weg. Als wäre ich noch

meine Mutter immer. Doch meine Füße weigern

unter Wasser. „Du weißt doch, deine Mutter mag

sich, mich weiter im Kreis zu tragen. Tagein, tag-

es nicht, wenn wir unpünktlich sind. Kommst du

aus rinnt die Zeit, die mir noch bleibt, wie Sand-

aus dem Pool?“

körner durch meine Finger. Ich will meine Ketten

Sackgasse. Ich nicke.

lösen, will abspringen von dem Rad, nicht weiter

Ohne Gegenstromanlage ist unser Pool auch

oben, nicht wieder unten sein, sondern meinen

nur Wasser in einem vierzig Kubikmeter großen

eigenen Weg finden. Nicht länger Gefangene in

Käfig.

meinem eigenen Leben sein, eine Konsequenz meiner eigenen Vergangenheit und all meiner bisherigen Entscheidungen und des bereits zurückgelegten Weges, sondern Freiheit erlangen. Nicht das erreichen, was ich schon sehe. Neue Träume träumen, andere Sterne finden. Meine Arme, meine Beine, sie drücken mich nach vorn und mein Herz ist wie meine Lungen

Katie Grosser


10 Jahre Wir wachen morgens auf und stellen fest, dass

dann während des Studiums scheitern würden.

neben uns jemand liegt. Ich flüstere mir zu, dass

Und ich erzähle mir, dass beides nicht der Fall

das mein Mann ist. Leise schlüpfen wir aus dem

war. Mit Freude höre ich von Mamas neuem Haus,

Bett und schleichen aus dem Zimmer, wir wollen

den guten Noten, dem Frohsinn unserer kleinen

ihn ja nicht wecken, denn das fahle Morgenlicht,

Geschwister, davon, dass ich bereits zweifache

das sich durch das Fenster schiebt, lässt glauben,

Tante bin und ich die Männer meiner Schwestern

dass es noch sehr früh ist. Beim Hinausschleichen

gerne habe. Meine ältere Schwester ist wie ich

stelle ich fest, dass das nicht unser Zimmer ist,

von mir erfahre, verheiratet und macht Karriere

ich erkenne zwar einige unserer Möbel, aber der

und meine jüngere Schwester hat einen Freund,

Raum ist mir fremd. Wir stehen in einem geräu-

den sie heiraten wird und mit dem sie schon zwei

migen Vorraum, vor mir sehe ich im Halbdunkel

Kinder hat. Unser Vater ist älter geworden, und

Türen, bei denen ich nicht weiß wohin sie gehen

in vielerlei Hinsicht entspannter, erzähle ich mir,

werden und eine Treppe ins Erdgeschoss. Ich be-

außer beim Autofahren, da schafft er es noch im-

deute mir, mir hinunter zu folgen. Wir kommen in

mer sich über andere aufzuregen, als hinge sein

einem schönen Wohnzimmer im Erdgeschoss an.

Leben davon ab. Wir stimmen einander zu, dass

Das erste Mal sehe ich mich selbst. Ich sehe nicht

wir froh sind, dass unser Vater noch bei guter

aus wie ich. Wir sind gleich groß aber ich sehe

Gesundheit ist, sein Herz, sein Magen und seine

irgendwie anders aus. Älter, aber nicht alt. Ich

Migräneanfälle haben uns schon immer Sorgen

scheine eine gute Faltencreme zu haben. Auch

bereitet. Dann erzähle ich mir von meiner Ar-

ich betrachte mein jüngeres Ich genau. Ich sehe

beit, dass wir sie gerne machen und uns freuen

noch so jung aus, denke ich, so unerfahren.

tagtäglich was Neues zu lernen. Wir weinen, als

Wie alt ich wohl bin, frage ich mich.

ich mir von der Geburt unseres ersten Kindes er-

Ich stelle uns Kaffee auf, das würde ein langer,

zähle. Typisch ich, wir weinen schnell. Wir wei-

komplizierter Tag werden.

nen noch immer, als ich erfahre, dass nicht mehr

Wir sitzen in der Küche und nippen an unserem

alle meine Omas und Uromas am Leben sind.

Kaffee. Ich habe ihn genauso gemacht wie ich

Aber es wird besser. „Wir sind seit fünf Jahren

ihn mache, stark und Übelkeit erregend. Schließ-

glücklich verheiratet, es ist gekommen, wie wir

lich frage ich mich, wie es unseren kleinen Ge-

es uns erträumt haben. Weißt du noch, als wir

schwistern geht. Ich frage zurück, wie alt sie denn

uns zu unserem 18ten Geburtstag im Rausch

gerade sind. „Ein und zwei Jahre“, antworte ich.

das Hochzeitskleid unserer Mutter angezogen

„Bei mir sind sie 11 und 12“. Ein Lächeln huscht

haben? Ich hab es zur Hochzeit getragen. Und

über unsere Gesichter, dann starren wir uns wie-

ja ich hab noch reingepasst!“ Wir lachen bei der

der an. „Also bin ich 29?!“, sage ich schließlich.

Erinnerung. Dann bin ich dran, mir zu erzählen.

Ich nicke.

Ich erzähle mir von dem neuen Schuljahr, davon,

Ich erzähle mir wie aufgeregt wir bei der Auf-

dass mein Bruder jetzt laufen und meine Schwes-

nahmeprüfung des Studiums waren, dass uns

ter schon zählen kann. Ich beichte meine Angst

schlecht war und wir uns sicher waren, dass wir

vor der Zukunft, dem Studium und eigentlich der

entweder schon bei der Aufnahmeprüfung oder

ganzen Welt. Weißt du, da sind so viele Was und

23


Wenns und so viele Fragezeichen, die mir die

Hand halten möchte und mir Zuversicht schen-

Sicht auf meine Ziele und Träume vernebeln.“

ken will. Und, dass ich mich, jung, zweifelnd und

Ich nicke zur Antwort, denn ich erinnere mich an

unerfahren, oft gebraucht hätte, zum Reflektie-

mich und ich weiß, dass mir trotz der Jahre, die

ren und Mut geben. Als Beweis, dass ich mich

verstrichen sind noch ein paar Was und Wenns

nicht verloren habe in all den Jahren.

und Fragezeichen geblieben sind. Ich sage mir,

Lina Mairinger

dass ich, wenn ich zurückdenke, mir so oft die

24

ich sagte klaus Auf dem Weg vom Altenheim zu meiner Woh-

bis es irgendwann hieß, mein Pass sei abgelau-

nung habe ich mich daran gehalten, was mein

fen. Mit dem alten Ausweis und meinen ganzen

Großvater erzählt hat. Wie jedes Mal hat er mir

Namen, der Wolke Dieter und meinem Ruck-

die Bilder in seinem Fotoalbum gezeigt und ge-

sack Wolfgang, ging ich zum Rathaus und stand

sagt: Gegen das Verschwinden helfen nur Na-

vor verschlossenen Türen. Neben mir stand ein

men, keine Grabsteine. Als ich an der Ampel

junger Mann mit einer großen Einkaufstüte. Er

stand, das Altenheim in meinem Rücken, habe

sah mich fragend an und sagte: „Das kann doch

ich angefangen, die Dinge zu benennen: die

nicht sein.“ Ein paar Autos fuhren vorbei. Dann

Passantin neben mir nannte ich Sophie, den par-

kam ein Fahrradfahrer und schrie: „Ihr Idioten,

kenden Mercedes Konstantin, das grüne Männ-

es ist Sonntag!“ Der Mann und ich schauten uns

chen an der Ampel Katharina. Nach ein paar

an. Er zuckte die Schultern und ich sagte „Klaus“

Stunden in der Stadt wünschte ich mir mehr Na-

und er sagte „Nein“.

men und nannte irgendwann jeden blauen Plastiksack Sabine. So lebte ich mit meinen Namen

André Patten


studie eines mädchens mit mausgrauem haar und gelben schuhen So stand sie da. Mit dem Rücken an die kahle

Je nach dem an welchem Ort und zu welcher

Wand gelehnt; mit geschlossenen Augen; sich

Zeit, schlüpft sie in diese oder jene Rolle, ohne

selbst umarmend; daneben ein altes Radio. Es

eigentlich zu wollen und ohne davon viel in

war nicht an. Soeben den Stecker heraus gezo-

Kenntnis zu nehmen. Sie dreht sich.

gen. Die ON/OFF Taste kaputt. Draußen Vö-

Ihr Gesicht bleibt verschwommen.

gel. Und Autos. Das Geräusch von Vögeln und

Unter Wasser im Bade vernimmt sie den Nach-

Autos. Das Fenster offen. Der Vorhang fast un-

richtensprecher des Fernsehapparats ihrer Nach-

merklich flatternd. Weiß und alt. So wie das Ra-

barn ein Stockwerk tiefer. Als sie auftaucht, spürt

dio. Vielleicht etwas älter. Das Radio jedoch rot.

sie nur den Blick der blauen Fliesenwand stumm

Niemand kam zur Tür hinein. Auch nicht Blond-

auf sie starren.

schopf oder Herr Gustav.

Radfahren mit geschlossenen Augen. In einen

Da nahm sie Anlauf und sprang schwungvoll aus

See fallen und ertrinken und am nächsten Mor-

dem offenen Fenster; schrie ganz laut und fiel.

gen im nassen Gras von der Sonne trocknen las-

Auf weiches Gras.

sen.

Die Wohnung war eine Erdgeschosswohnung

Na sieh mal, wie sie träumt. Mit offenen Augen.

und das Mädchen schrie, weil alles so war, wie

Vor lauter Farben sieht sie nichts mehr. Dafür

es war. Und weil alles auch anders war, weil es

hört sie immer noch so gut wie eine Eule.

anders war. Tante Bertas Papagei starb übrigens

Als der Kaffeesud langsam die Spüle hinunter

letzten Sonntag.

rinnt, steht sie da und singt.

Und dann kaufte sie sich ein neues Radio. Die weißen Unterhemden lagen neben den weißen Unterhöschen, darunter die weißen Socken und Strümpfe. Dazwischen jedoch versteckte sich die rote Sparbüchse, auf welcher in großen schwarzen Lettern ihr Name stand. Die Buchstaben stehen immer noch dort. Sie müssen schon müde sein. Wie können sie es nur so lange aushalten. Wenn das Mädchen lange steht, muss es sich nach einer Weile setzten. Oder tanzen und all die verhärteten Körperpartien wieder weich schütteln.

Lisa M. Köstner

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meine freundin alter ego

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Deswegen komm ich so gerne zu dir... der Kern

aller Mietparteien gleich hinter ihrem einzigen

ist immer aus Schokolade.

Fenster auftürmt. Dann grinst sie und verdreht

Schwer und langsam schweift mein Blick zu ihr

die Augen. Über Eck hat sie eine Hängematte

zurück, die Augen tun ein bisschen weh dabei.

aufgespannt, um die ich sie sehr beneide. Den

Ich verstehe nicht. Sie schmunzelt mit Krümeln

ganzen Tag baumelt sie da mit den Füßen. Das

an den Lippen herüber, streckt den Arm aus,

Zimmer ist natürlich winzig und das Hochbett

hält mir den halben Keks unter die Nase. Ach-

morsch, weshalb hier kein Mann über Nacht

so. Ja. Natürlich weiß ich, dass da Schokolade

bleiben darf. Sie ernährt sich von Tiefkühlpizza

in der Mitte ist. Ich hab das selbst gebacken. Sie

und beschwert sich gern, dass am Ende des Gel-

will mich füttern, aber ich drehe gezwungen lä-

des noch so viel Monat übrig bleibt. Aber in an-

chelnd den Kopf weg. Iss du mal. Gleich: willst

deren Worten, denn so einen abgedroschenen

du abnehmen? Ich ziehe es vor, nicht zu antwor-

Spruch würde sie niemals benutzen. Dass ich

ten und schaue zu, wie sie den ersten Keks mit

Kuchen backe, einfach so, findet sie lustig. Dass

der Rechten zum Mund hebt und sich schon mit

hätte sie früher nicht gedacht, sagt sie dann. Ich

der Linken einen neuen aus dem Glas fischt. Ich

bin mir nie sicher, ob sie mich lobt oder belei-

dachte, sie würde jetzt seltener kommen. Dass es

digt. Sie könne einfach nicht kochen, fügt sie an,

ihr zu weit wäre und die Anbindung zu schlecht,

wenn andere dabei sind, und lacht hell, meistens

bei unserem Umzug hatte sie das mehrfach er-

drei Mal: hahaha. Ihr Gesicht ist wie mit flüch-

wähnt. Aber manchmal klingelt sie jetzt spät in

tigen Pinselstrichen umrissen, ihre Haare sind

der Nacht, dann sitzen wir gemeinsam auf dem

nachlässig rot gefärbt und irgendwo hinten am

Sofa im Mondschein und trinken Vanillemilch aus

Kopf lose verknotet, ihr schöner Mund ist im-

einer Tasse. Am Anfang war sie meist weg, wenn

mer ein bisschen ironisch verzogen. Die grünen

ich aufwachte, jetzt bleibt sie gern mehrere Tage

schmalen Augen sind umkränzt von tuschever-

und sitzt zu jeder Mahlzeit mit am Tisch. Georg

klebten Wimpern. Das meiste davon ist ihr egal.

beschwert sich nicht und gelegentlich könnte

Mittlerweile steht sie alle paar Tage vor der Tür

man meinen, er würde sie kaum bemerken. Nur

und bleibt, bis wir das Haus verlassen und sie

ich sehe seinen Seitenblick, hie und da schaut er

gezwungen ist, zu gehen. Doch jetzt ist Freitag

ihr nach, wie sie sich eine Strähne aus dem Ge-

Nachmittag und sie wird wohl bis Montag blei-

sicht streicht oder in ihren Ärmel niest. Die Lust

ben. Wir sitzen unter Linden im Garten und sie

daran, den Blick zu interpretieren, ist mir ver-

isst alle Kekse auf. Was machst du grad so? Ich

gangen. Sie wohnt in einer Bruchbude in einem

frage das und sie kaut den letzten Keks lange

zweiten Hinterhof, ein dunkles Berliner Zimmer

hin und her, wiegt den Kopf dabei, lehnt sich in

im Erdgeschoss, drinnen herrscht Außentempe-

ihrem Stuhl zurück, etwas weg von mir. Vielleicht

ratur. Es ist sehr zentral. Sie erzählt gern davon,

zieh ich auch bald um. Ganz weg aus der Stadt.

dass es immer laut ist und dass sich die Müllecke

Oder aus dem Land vielleicht, irgendwohin, wo’s


entspannter ist. Sie sieht mich an, wartet meine Reaktion ab, ich nicke sehr langsam. Lateinamerika, vielleicht. Ich zucke die Schultern, sie blinzelt und setzt nach: oder Osteuropa. Budapest oder Prag. Da ist jetzt richtig was los. Ich sage, die Tschechen hörten das gar nicht gern, wenn man sie als Osteuropäer bezeichne, auf der Karte seien sie ganz klar in der Mitte. Hm, macht sie, und schmollt ein bisschen. Sie ist fürchterlich hübsch. Neben ihr fühle ich mich stets bemüht, verkleidet.Sie trägt diesen grobmaschigen alten Pullover und es sieht perfekt aus. Kurz schaue ich

ihr entzückt nach. Und wann wird geheiratet?

an mir herunter. Eine Jogginghose und ein altes

Wieder dieser Ton, ich ziehe die Brauen hoch.

T-Shirt aus Georgs Kleiderschrank. Ach. Eigent-

Sie benutzt solche Fragen wie Waffen. Ich räume

lich gefällt es mir so. Eine Wespe surrt um unsere

die Teller zusammen und räuspere mich. Nicht

Köpfe, das Mädchen mir gegenüber kneift kurz

jedenfalls, bevor ich zu Ende studiert habe. Sie

die Augen zu und verkrampft, ich bleibe ganz

lacht leise, schaut mich groß an, grinst weit, ob

entspannt. Die Wespe setzt sich auf den Teller,

ich nicht selbst über diesen Satz lachen müsste?

pickt sich einen Kekskrümel, der beinah so groß

Ich habe die Hände voll mit Geschirr, schiebe

ist, wie sie selbst, und schleppt ihn mit den ro-

den Stuhl mit dem Hintern zurück und sehe auf

tierenden Flügelchen summend davon. Ich sehe

sie hinunter. Naja. Es ist nicht besonders cool oder ‚anders‘. Aber solche Dinge beginnen, weißt du, mir egal zu sein. Damit drehe ich mich um, durchquere die kleine Wiese und stolziere auf die Terrassentür zu. In der Glasfront gespiegelt sehe ich meine alte Freundin. Sie ist auch aufgestanden, mit hängenden Schultern, die Ärmel des Pullovers hängen bis über ihre Finger, der Haarknoten baumelt lose, sie sieht mir mit großen Augen nach wie ein verlassenes Kind. Ich lächle ein bisschen traurig, schaue kurz über die Schulter und nicke sie herein, bevor ich voran in die Küche gehe.

Miku Sophie Kümel

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ZWISCHEN ZWEI GENICKBISSEN mauern Als ich in deinem Schatten saß, lag noch Schnee auf den Bergen. Von den Grashalmen zitterte der Tau auf deine Hand. Du flochtest Geduldsfäden in dein Haar, und aus deinem Mund sprangen Grillen. Keine streifte mich in jener Vormärzsonne, als ich meine Finger zwischen Halmen verbarg. Unsere Lippen hielten einander nicht Wort. Am Abend schlich das Schweigen

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als Raubtier aus den Büschen. Zwischen zwei Genickbissen liebten wir uns manchmal oder wir stiegen unter rauchigem Himmel auf Mauern, die von innen

abrieb die luft jetzt aus flüssigem ocker dicht hinter der hand sitzt etwas unklares schwer erkennbar eine berührung oder der versuch vielleicht ein chiffre der annäherung mein mund trägt heute quittenpelz in dunkelgelb auf meinen lippen oder deinen reibe ich wort für wort ab ins farblose zersetzt uns so langsam die zeit

Simone Scharbert

an die Schädeldecke stießen.

Sigune Schnabel


durchbohre mich „durchbohre mich nicht mit einer nadel, wie

den ist kalt, und deine füße spürst du bald nicht

man es in deiner heiÿmat mit schmetterlingen

mehr. steh auf! das ist doch nicht das ende der

macht...“, murmelte die kleine und war stolz auf

welt? wie sagt man: es geht immer irgendwie

sich, dass sie die schöne arie kaputtgesungen

weiter!“ aber natürlich tat ich nichts dergleichen,

hatte. sie war so in sich versunken gewesen, dass

wer glaubt denn noch an diesen unsinn?)

sie weder die vögel gesehen hatte, die unter ei-

fräulein maimond war auf dem heimweg. sie hat-

nem dachbalken sich vor dem sturm zu retten

te ihre arbeit getan, ihre kollegen hatten nichts

versuchten (aber der kalte wind erwischte sie

gemerkt. sie war nicht besonders gut gewesen

auch dort, riss ihnen einige federn vom vogel-

und nicht besonders schlecht, sie hatte funktio-

leib und hinterließ winzige, blutige krater),noch

niert. jetzt saß sie in der straßenbahn, die ober-

nahm sie von den hölzernen hunden hinter ih-

lichter funktioniersten indes nicht so gut wie sie,

rem rücken notiz. sie allein waren zeugen des

das licht ging in sekundenschnelle an und aus

mordes geworden, hatten aus wallnussholzau-

und gab den takt ihres herzschlages vor. „nun,

gen beobachtet, wie der mann das blutige herz

warum die aktentasche?“, dachte sie, das blut

in sein aktenkoffer einschloss und geräuschlos

hatte bestimmt seine unterlagen beschmutzt,

das zimmer verließ.

ganz klebrig müssen sie von dem ganzen herz-

fräulein maimond lag mit dem rücken, die arme

blut geworden sein. er war einsam gewesen,

weit von sich gestreckt, auf dem boden.

aber auch sie war einsam gewesen, ihre hände

„jetzt musst du ohne leben.“, sprach sie zu sich

eiskalt, hatten ihn in der dunkelheit ertastet, je-

selbst, während sie ihre augen von den holzhun-

doch...mut gehörte dazu.

den abwandte.

„das mit dem herzen ist etwas kompliziert“,

aber kann man denn ohne herz leben?, fragt ihr.

hatte er noch nachgehakt, „es wird dir weh tun,

wen kümmert‘s? es wird ja eh keiner merken:

wenn es nachher schiefgeht, sehr weh, von der

nicht die kleine am fenster, sie hat ja nicht mal

wurzel aus, so ein schmerz, den du nicht mal so

das vogelpärchen wahrgenommen, nicht ihre

abschütteln kannst.“

freunde, der verwitwete vermieter oder frau ve-

sie hatte nicht nachgedacht, das denken fiel ihr

nus, die fette schlampe mit den morgengrauen

immer so schwer, wenn ihr schoß brannte und

augen. nur er und die holzhunde.

der duft von zuhause, ein starkes sedativum, auf

es war ihr peinlich, wie die holzhunde aus neu-

sie einwirkte. zähflüssige gedanken, wer brauch-

gierigen augen beobachtet hatten, während er

te sie?

ihr das herz herausriss. fräulein maimond hatte

das fräulein lächelte matt, wie süss, dass er sei-

es verlernt zu weinen. „schade“, sagte sie, „ich

ne versprechen eingehalten hatte, das loch an

hätte jetzt gerne geweint, wenigstens in kurzen

ihrer linken brust brannte an den rändern, wie

zügen. es gibt niemanden, dem ich das sagen

löcher, die man mit dem brennenden ende einer

könnte, dass ich allein bin, allein gelassen wur-

zigarette in ein stück unnützes papier aufdrückt.

de, aber es ist gut das zu wissen - für mich selbst.

es hatte eine woche gedauert, bis das fräulein

als ich fräulein maimond so da liegen sah, wollte

wieder atmen konnte. die verrußten ränder ihres

ich zu ihr rufen, sie anschreien: „steh auf, der bo-

herzens hatten rotpulsierende stränge ausgebil-

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det und das loch auf die größe einer kastanie reduziert. nun konnte das herz wieder schlagen

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und das blut durch die adern treiben. hin und

Ich bin kein ElitePartner, wusstest du,

wieder fielen ein paar tropfen durch eine un-

Dass Ameisen Mikrowellenstrahlung sehen

dichte stelle und hinterließen eine blutige spur

Und überleben. Wenn ich dich

auf den weißen blusen des fräuleins. das bild er-

Zerstückelte und in die Mikrowelle steckte

innerte sie an rosenblätter auf frischgefallenem

Würdest du es nicht ausnutzen

schnee. nun atmete sie, an ihrem leben gab es

Mir an die Wäsche zu gehen? Ich bin

keine zweifel. fräulein maimond öffnete das fens-

Derart prätentiös unelitär, dass ich gerne

ter, sie stand nämlich genau da, wo die kleine

Saufe und Freunden dann sage, wie sehr

zuvor gestanden hatte. „wie schnell eine woche

Ich sie liebe. Ich streite gern, auch nüchtern.

vergangen ist“, dachte sie. „so schnell werden

Ich will am Valentinstag zurückgelassen

auch die kommenden wochen vergehen. und

Dieses Gedicht schreiben und mich

wenn wieder.....falls überhaupt natürlich, aber

Ungeliebt fühlen. Ich baue nämlich nicht

wenn, dann wird er nichts mehr von meiner ju-

Auf die Zukunft. Ich trage schwarz und nur.

gend haben.“

Ich trage es ästhetisch und nur. Am besten

als das fräulein das fenster wieder schloss, hatte

Trägst du es auch und nur, weil es dir gefällt.

sie eine antwort gefunden, auf die sie keine fra-

Du sollst mir nicht gefallen, gefalle mir.

ge gestellt hatte: nicht nur katzen, sondern auch

Wenn du einen Mann vergewaltigst, dann

menschen hatten mehrere leben. vielleicht war

Ausdrücklich und lang, er könnte ein

ein neues besser als das vergangene, vielleicht

Potential Rapist sein. Besser ist es.

waren sie alle für die katz.

Denn wenn wir Hobbys tauschen, hast du

A. Kadir Özdemir

Mir am besten eins verschwiegen, behalts Für dich. Beziehungsstatus sollst du nicht Teilen, du sollst ihn leiden. Leide mit mir Einen. Verkupplung ist nur die Ausrede, Wenn man nicht mehr voneinander loskommt. Für Trotzficken hab ich keine Zeit übrig. Wer will schon Krötenlecken statt Der Partnerin. Und im Horoskop finde ich nur Weitere Gründe gegen Online-Dating. Wenn ich meine Ängste teile, möchte ich, Dass du dich mit mir fürchtest. Autophobie: die Angst alleine Auf sich selbst gestellt zu sein. Liebe ist eine. Die Wahrheit ist immer eine andere.

Martin Piekar


paarweise Lilka liebt Nedo, einen Feuerschlucker, einen Rothaarigen mit den Haaren bis zu den Schultern, er betet Antonia an, eine Seiltänzerin mit dem straffen Hals und der Spur vom Karbunkel, Antonia steht auf grünen Tee, trägt Haiku den Affen vor, sie schwärmt für einen von den Rändern, der mit der Tradition bricht und die Teller zum Boden jongliert, er liebt sich selbst und ein silbernes Pferd, namens Kors. Von der Böschung her steigt das Föhnige, bringt Geruch nach Raps und Hanf, die Tiere in den Käfigen, die Babys, schauen stumm zu, Ginka mag es grau, ihr Auserwählter heißt Graumann, er würde es bunt treiben mit einer, welche die Haare haargenau ins Pinkviolett kämmt, ihr Name Kunegunde, man nennt sie auch mucha, die Fliege, sie fliegt nicht, von Jugend auf ist sie in einen Waldschloßherr vernarrt. Der Herr wirft die Augen auf die Mädchen aus der Rotlichtbranche. Weiße Schneebällchen werden gestreut, das Eckige fällt vom Acker ab, die Tiere haben genug vom Stummsein, sie heulen, die Kinder sind erwachsen und steigen in die Arena. Milka, die weder Süßes noch Saures verträgt, ist scharf auf Adamo, der sich Al’Dan nennt, er giert nach Peruana, obwohl ihm Penelope lieber wäre. Penelope, die ihre Vorzeigestickereien verworfen hat, wartet auf die Umschulung durch Wang. Nur manchmal, wenn ihr die Sinne rumorieren, läuft sie dem Briönen nach. Er kommt von Norden, der große Narr mit den Beerenaugen zwischen zwei Narben, eine launige Mütze hat er parat, zum Schnellfangen, was ihn nicht schnell loslässt. Am Abend sitzen alle in ihren rollenden Wagen, Hand in Hand in Träumen vereint.

Irena Habalik

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selbst ein automatenkaffee an der autobahnraststätte würfelzucker 2er-pack wäre mit dir ein date

Christoph Danne

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Inserat Ein nettes Gespräch im Expresszug nach Ahlen. Diskurs über Lotto. Sie nannten die Zahlen. Die Zahlen, mit denen Sie wöchentlich spielten, obwohl Sie von Lotto im Grunde nichts hielten. Sie fuhren bis Münster. Mir fehlte der Mut. Sie winkten durchs Fenster. Ich schwenkte den Hut. Ich fuhr noch am selbigen Abend zurück, durchsuchte halb Münster und hatte – kein Glück. Ich möchte Sie wiedersehn. CHIFFRE 49. Vielleicht wird’s ja doch noch was. Würde mich freun.

Andreas Schumacher


NEVERMIND All about me and you and I ist ganz Ohr, ganz

ten lassen lonesome tonight an Theke kann er

Auge, meines, aber weiß nicht (er) sitzt, also ich,

jump in a lake, and sail away dream your dreams.

sitzt by the way (oder vertauscht) by the way sitzt

That’s Beck‘s, he says und ich misch ihn nicht ein,

(there). Macht sich keine Reime hier und jetzt

soll lieber so trust in me, just in me, kriegt eyes

(ja ja) draus, kann nicht, hat nur eine Sicht, die

wide shut und schüttet glasige aufs Hemd. So

auf Keeper (bar nicht goal). Sitzt also da nur und

now now, keeper wird (so not goal) in, Taschentü-

umgekehrt in Environment Bar, detail Theke, drü-

cher Taschentücher Taschentücher honey? Leben

ber TV. Sitzt allein listening to and me writing to

ist möglich, mein seins verlängert. So, well True

reach, nein nein, (¿wonderwall anyway?) davon

Romance Mädchen dazu, Girl meets Boy (haut

später. Er allein erst mal (sweet and tender) ein

ab mit Anekdoten, just lie), playing with hair (as

Bier, Jever in front gestellt. Zu früh geöffnet, den-

usaul, nice and polite) und er Hey und sie Band

ke ich, soll er denken, weil ich (er/¿wer nicht?)

und er Hey und sie Laut und er Hey und ich Jude

weiß, dass/um den Grasgeruch beim Opening

und er Hey und beide out of sight. Everything in

(stoned) Night nur bei Jever, nur beim kalten,

it‘s right place, guess nose to nose meine Figur

nur kurz nach dem Öffnen, manchmal sieht (aber

macht eine gute, kissed a girl, seh nichts, das Pu-

nicht) er, nicht his infernal Majesty, ja Band. Nicht

blikum das Publikum das Publikum likes it come

sein, da mein erstes, aber klar großes Konzert

on. Vierte Wand, Mauer muss weg, jetzt runter,

(lustig, rum (und) gemacht, alles). Present tense

logisch will wenigstens wissen, was er läuft, will,

please, tuschelt Publikum und ich, nicht er hört ja

wenn nicht schwarz auf weiß, teichoskopisch

nur noch Band Band (die spielen aber auch laut,

(lost/last/least yeah yeah yeahs). Also and so ich

die postmodernen Arschlöcher). Ich (al)so/dage-

ich (while outside Hitchcok passes by) Publikum,

gen ganz Gegenwart, you can take him anywhe-

¿can you see the real me? and auditory sind

re. Muss, ja soll ja (avail)able sein sein, schreibt

echt zu Gange, sind worth to be ignored, soll-

sich nicht umsonst (/vergebens, talent, observa-

ten sich zusammen und/oder Zimmer nehmen,

tion, prudence never pays), will ja auch gefallen,

wenigstens schämen und ich mit immerhin und

will sagen ja blond kreischen: Read me Baby

noch controlling controlling. Parkett guckt noch

one more time, Leck die Tonerschwärze vom

mal und/oder again stellt sich neben/vor, (mixt)

Asphalt meiner Seele, will fragen ¿Do you like

Skinny Bitch, fummel fummel an Haaren und Auf-

my tight sweater? Back to him and anything not

merksamkeit (take take take). And Auditory (kost

noticing but band and me, ganz present, ganz

ja nix) you ask Hey, ich Musik laut, you ask Hey,

lässig looking after him, denn ich gucke nicht

ich Musik lauter you ask Hey, ich keine Frage, you

zu, sondern nach, wie Publikann mich, ihn, sich

call Hey, ich Musik lauter, you call Hey, ich Musik

später alles stellen, in their mind (vor) (swimming

lauter, you call Hey ich noch was zu tun und du

in the caribbean, Duden, Langenscheid) oder

Dr. No and I in deed. Mein er, das ich gone with

gleich beschweren, aber Schluss mit Eitelsein,

them, Uschi Andress or the wind, zumindest jetzt

life is live. Nur now wird kein Schuh draus, lacks

alle weg, zumindest beide, alle probably or slee-

a reason(able man), not impressing them much,

ping with one another (in a submarine, fighter

stop whispering so that’s your story, city, home,

plain/braless) together (far beyond my talent or

your hood, your thoughts, your heart, your life,

will). So war er nicht so schizo, polyamourös, war

your plot? Dachte auch wäre mehr in, er denkt,

monogam geplant, kindergerecht und gelähmt

ich hätte mehr Phantasie, würde ihn nicht war-

hätte er da sitting waiting wishing bis immerhin

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all mine, mir ein Ende eine Lösung hat er mir er-

(w)he(re) is my mind, jetzt trägt mein Stern einen

spart, gibst du wieder Worte ja selfish again. Hey

Namen, is back to the bars, you have to praise us

again and me silent and you Hey and me thin-

like you should. And Auditory schnaubt, stampft,

king and you Hey and me in doubt and you Hey

screams now I see your true colours and hit the

and every you and every Hey let‘s have a mouth-

road Jackie, when I turn turn turn ist (him/I) of

ful of shall we do it in the road, (better) on the

us left the other vor der Theke oder ich remain

desk, the keyboard or printer. Disciplin now at

unread, the band stops playing, not a single one

least and after all finish it and you agree and be-

more time, more page after 3 loney lonely that

vor du wieder Hey, als gäbs kein day after tomor-

is me.

rowoahwoah Niveau halten deus ex Lothar ärgert sich machina. Er oder ich, you say and me Hey,

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Michael Wolf

wind, kind, blind, rind Polly, so möchte sie genannt werden, habe ich

Mund zu unterbrechen und dass Schließfrüch-

in einem Forum für Allergiker kennengelernt. Erst

te aller Art mein Tod seien. Come as you are,

schrieb ich mir mit Ellen, die unter kreisrundem

schrieb sie und heute treffen wir uns.

Haarausfall und einer pelzigen Zunge litt und

Im Treppenhaus zu ihrer Wohnung zieht es. Kal-

gerade dabei war, einer Unverträglichkeit gegen

te Luft fährt in meine Hosenbeine und umgreift

Zitrusfrüchte und vielleicht auch gegen ein neues

meine Knöchel. Es riecht nach Gummi. Die Wän-

Waschmittel auf die Schliche zu kommen, aber

de sind mit Farbe und Dreck beschmiert. Hure,

auf ihrem Profil-Bild hatte sie dieses typische

große und kleine Hakenkreuze, dazwischen Nazis

Verena-Gesicht; schmales Kinn, pädagogisches

raus. Bis zu ihrer Wohnung im vierten Stock lie-

Lächeln, durchsichtige Zahnkanten, massenwei-

gen die Nazis sieben zu fünf in Führung.

se Wirbel am Haaransatz, und so sehr ich mich

Als ich vor Pollys Wohnung ankomme, ist die Tür

auch bemühte, es fühlte sich einfach falsch an, sie

auf. C. Loch steht auf einem Messingschild. Ich

nicht Verena zu nennen. Irgendwann schrieb sie,

trete ein und sehe gerade noch, dass es Polly ist,

ich solle doch an einer Pekannuss ersticken, ich

die nichts sagt, mir den Rücken zukehrt und ins

sei geisteskrank und seitdem hat sie nicht mehr

Innere der Wohnung huscht. Ein übergroßes, wei-

geantwortet. Gestern schrieb mir Polly und er-

ßes Shirt weht um ihren Oberkörper und legt die

zählte von Nährstoffmangel, Brust-Migräne, einer

sehr dünne Rückseite zweier weißer Oberschen-

abgebrochenen Darmsanierung und ihrer Liebe

kel frei. Ihr Hinterkopf wölbt sich zu einer straff-

zu Nirvana. Ich beichtete ihr, dass mein Schnäu-

gebundenen Knotenkontur und verschwindet in

zer alleine dafür dient, die Blätterkrokanthaut in

einem anderen Raum. Mein Blick wandert hinter

meinem Gesicht zumindest zwischen Nase und

ihr her, durch den leeren, dreieckigen Flur, in dem


ich stehe. Umzugskartons stapeln sich an einer

Ärmeln verschwinden. IND bleibt stehen. Wind,

Wand. Ich kann nicht erkennen, ob sie ein- oder

Kind, Blind, Rind tätowiert mein Kopf auf ihren

auszieht. Es riecht nach Streichhölzern. Neben

Arm. Die Wörter schleudern durch meine Ge-

mir lehnt ein gerahmtes Bild von Kurt Cobain.

danken. Ich warte ab und tue so, als würde ich

Er spielt Gitarre in einer popelgrünen Strickjacke

nachdenken.

und sieht traurig aus. Ich streife meine Schuhe ab,

Ich blicke mich um und schreite die wenigen Mö-

folge ihr. Etwas Spitzes sticht in meinen Fuß.

bel ab. Im leeren Regal lehnen ein paar Bücher

Im Wohn/Schlafzimmer stehen wir uns stumm ge-

gegen eine staubige Öllampe in der Ecke steht.

genüber. Der Geruch nach blühender Bodenpo-

Daneben lassen zwei Diddl-Mäuse ihre Beine

litur steigt hoch. Dazu der Qualm eines Räucher-

baumeln. Ich streiche über die mir zugewandten

stäbchens, das sich groß macht und gegen die

Buchrücken und, als würde meine Bewegung sie

vertäfelte Dachschräge stemmt. Ich atme hörbar

zu mir holen, taucht sie hinter mir auf, berührt erst

ein. Scheinbar denkt sie dadurch, dass es stinkt.

meinen Rücken, sucht dann nach meiner Hand

Sie tritt schnell ans Fenster, öffnet es. Eine Wolke,

und wandert weiter zum Reißverschluss meiner

die aussieht wie ein angebissenes Brot, schiebt

Hose. Ich sehe die Tätowierung unter meinem

sich durch die Dämmerung. Polly starrt mich an,

Gürtel verschwinden. Ich lese VERM, dann VER.

kaut etwas, schluckt hörbar. Die straffgebunde-

VERM. VER. VERM. VER. VERM. VER. Dann ein-

nen, weißblonden Haare lassen ihr Gesicht noch

mal VERMI. Ihre Bewegungen sind langsam und

schmaler aussehen, als auf dem Bild im Internet.

fest, ihre Stirn gegen meinen Rücken gepresst.

Ihr Hals ist sehr schlank, ihre Schläfen leicht ein-

Wind, Kind, Blind, Rind denke ich und nachdem

gesenkt, ihre Wangenknochen spitz. Ihr Körper

ich gekommen bin, dreht sie sich um und greift

eine dürre Röhre. Weil der dilettantische Stoff-

nach etwas im Regal. Ich mische mich gerne ein,

wechsel ihr jegliche Nährstoffe verweigere, kann

Spencer, sagt sie und verlässt den Raum.

man in dem Online-Profil über sie lesen.

Ich höre das Rauschen eines Wasserhahns, denke

Forever?

Spencer? und bewege mich benommen vorbei

Sie schaut mich mit einem Gesichtsausdruck an,

an einem ungefüllten Setzkasten rüber zu einem

bei dem ich mir einbilde, zu wissen, wie sie als

leeren CD-Ständer, auf dem Taschentücher lie-

Kind ausgesehen hat.

gen. Mein Körper fühlt sich nach Sommer und

Nein. Heute.

Winter an. Ich bilde mir ein, dass mein Bart jetzt

Ich meine deinen Arm, sage ich spuckelos und

nach Räucherstäbchen riecht, dabei ist es das

zeige auf die verzerrten Buchstaben zwischen El-

Räucherstäbchen, das nach Räucherstäbchen

lenbogen und Handgelenk. EVER.

riecht. Mir ist heiß, muss ständig schlucken. Die

Sie zieht den Ärmel hoch, streckt ihre Hand aus.

Diddl-Mäuse schauen mich unfreundlich an. Ich

N taucht davor, MIND dahinter auf. Die Buchsta-

kann plötzlich nicht mehr denken. Es ist, als wür-

ben sind pechschwarz, frisch gestochen. Verste-

de mein Gehirn mich aussperren. Ich höre leise

he, sage ich, ohne zu verstehen und zwirble mei-

Gitarrenmusik. Polly summt dazu. Kommst Du?

nen Schnäuzer, unter dem es brennt.

ruft sie mit hoher Stimme.

Der Wind greift die Baumwolle ihres Shirts, legt

Ich folge den Geräuschen, gehe benommen zu-

ihr linkes Schlüsselbein frei. Sie verschränkt ihre

rück in den Flur. Meine Beine sind schwer, die

dürren Arme wie einen Gürtel um sich und lässt

Füße wie ausgefranst. Die Badezimmertür ist an-

ihre schwarzlackierten Nägel in den übergroßen

gelehnt. Wasser donnert mit hartem Strahl in die

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Badewanne. Polly ist plötzlich in Bewegung und wirkt dadurch ganz anders. Ich höre Kurt Cobains Stimme, betrete das Bad. Der Duft nach süßem

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Erdbeer-Deo verklebt meine Nase. Polly steht

Polly wartet, bis meine Arme und Beine kramp-

auf einem gelben Badezimmervorleger, in ihrer

fen. Rote Stellen bedecken meinen Brustkorb,

Hand einen Stapel Zeitschriften. Sie sieht mich

trockene Hautspäne stellten sich auf. Ich liege im

an. Ich schaffe einen schnellen Blick in den Spie-

Wasser, die Luft bleibt weg. Harndrang. Meine

gel. Mein Gesicht sieht aus wie immer. Nicht ist

Lungenflügel flattern, meine Rippen fächern sich

geschwollen, nichts verrutscht.

auf. Wasser rauscht von ihrem Körper, als sie sich

Warum Nevermind?

schwungvoll erhebt und nach einem weißen Shirt

Damit ich nicht vergesse, dass alles halb so wild

greift, das sie über ihren nassen Körper zieht.

ist. Ist es nicht so? Es ist alles halb so wild, oder

Meine Augen versuchen, den Blick scharf zu

Spencer?

stellen, beschauen ihre blassen Beine. An ihrem

Sie legt die Zeitschriften neben das Klo, zieht

Oberschenkel rinnen Wassertropfen nach unten.

sich das Shirt über den Kopf und lässt es in ei-

Mittendrinn ein rotbrauner Fleck, der von einem

nem Wäschekorb verschwinden. Sie steigt zuerst

Rinnsal abgespült wird. Ich sehe die papierartige

mit dem rechten, dann mit dem linken Bein in

Nussschale im Badewasser verschwinden.

die volle Wanne. Ihre Brüste schwimmen auf der

Meine Pupillen zittern, meine Zunge groß wie

klaren Wasseroberfläche. Sie stellt den Hahn ab,

eine Toastscheibe. Polly öffnet die herzförmige

blickt mich auffordernd an. Ich streife mein Shirt

Schachtel, greift hinein, wirft eine Handvoll Erd-

ab, öffne meine Hose. Die Bewegung des Stoffs

nüsse in ihren Mund und lässt behutsam ein Stück

lässt meinen Körper jucken. Dann stehe ich nackt

Papier ins Wasser gleiten. Dann spüre ich ihre

vor ihr, sehe sie an. Wassertropfen kriechen wie

Fingernägel in meiner Haut. Meine Knie schla-

Tiere über ihre Schultern. Cobain singt.

gen hart gegen die Wannenwände. Schwung-

I‘ll take advantage while

voll dreht sie mich auf den Bauch. Das Wasser

You hang me out to dry

schwappt über den Wannenrand. Mein Rücken

But I can‘t see you every night, free

wird kalt, Haare stellen sich auf, Waden und Füße

Ich steige in die Badewanne zwischen ihre Bei-

erst in der Luft, dann wieder im Wasser. Ich trei-

ne. Das heiße Wasser nimmt mir die Luft. Mein

be mit offenen Augen, sehe Erdnüsse auf der

Hals ist eng. Husten muss ich, sehe, wie sie sich

Wasseroberfläche; meine Haare sind ein schwim-

mit den schwarzen Nägeln durchs Haar fährt. Ir-

mender Kranz. Ich schlucke laues Wasser, denke

gendwas Kleines fällt ins Wasser, verschwindet

nichts, denke Wind, Kind, Blind, Rind. Mir fällt

zwischen uns. Polly greift mein Haar im Nacken,

das Shirt mit dem schwimmenden Baby ein, das

drückt ihr Gesicht gegen meins, küsst meine

ich bei meiner Drehung an ihrem nassen Körper

Nase, leckt mit ihrer Zunge über meinen Schnäu-

habe haften sehen. Der Geldschein welkt sich an

zer, schnalzt gegen meine Lippen. Ihre Spucke

mir vorbei. Er wabert den Wannenrand entlang.

brennt an meinem Zahnfleisch. Auf dem Wan-

Bleibt kleben. Das Wasser spült ihre Stimme aus

nenrand steht eine herzförmige Schachtel. Als

meinen Ohren.

Polly sieht, dass ich sie anschaue, nimmt sie mein

Ist gleich vorbei, Spencer. Nevermind.

Gesicht zwischen ihre Hände, flüstert. Halb so wild, Spencer. Halb so wild.

Katrin Theiner


geschichten | aus dem schwarzen buch kaffee mandel nougat wie ein kleines zuckerosterei die weißen, langen die pfote vom hund fühlt sich an wie ... mein finger es ist, als ob 2 weiße schimmel durch eine gelb-grüne allee von bäumen reiten wie wenn der hund mich verstehen würde wie wenn er sich in mich hineinfühlen könnte katzen fressen einen auf ich habe einmal gesehen, wie er sich den fuß verstaucht hat also, der hund, jetzt wo sind die langen? probier jetzt! hab ich ja schon die musst du probieren! zuerst hab ich geglaubt, dass da eine klorolle steht. jetzt geht es wieder. der hund ist der einzige, der sich bewegt... wie ein standbild letztes mal hab ich mir gedacht, er hat mit mir geredet und du meinst ... schräg, ja. »warum hast du das getan?«, hat er immer gesagt. was hast du getan? LSD genommen. das erste mal, ja. wirklich das erste mal. sollen wir ihm ein kleines geben? ja, der kann das vertragen. sicher? gleich von anfang an?

37


ich habe gesagt, er muss rausfahren – ich brauch schokolade. da hat es diese aktion gegeben: für drei milka-produkte hat man eine plüschkuh bekommen. trip nation trap trip trap nation venice venture hat jetzt jeder schon probiert? wie sie das so machen. wie sie einen so zum saufen mitnehmen und ihm dann erzählen, dass derzeit den menschen ihre organe rausgeschnitten werden die organmafia also und dann geben sie ihm k.o.-tropfen und er wacht auf,

38

nackt, in einer badewanne voll eis und die wände alles voller blut, und ein schlauch kommt aus seinem bauch raus... im kinderplantschbecken mit bier, sind sie gesessen. und gelacht haben sie. ganz laut und mit offenen mündern, sodass es aussah, als ob sich die hälse ihrer zähne verrenkten... ich hab ein ganz gutes erwischt, ein kleines. das bekomm ich sicher nicht noch einmal, oder? können wir es jetzt nicht einmal tag werden lassen? ja, irgendwas mit speed. das ist das kissen, das übertrieben kuschelige kissen. kannst du dich noch erinnern? als wir die eine ecke produziert haben? da hat er sich so fest reingekuschelt, dass die nähte aufgeplatzt sind... ich hab geglaubt, da sind lippen im aschenbecher nein, das ist gar nicht das kissen vom letzten mal. menschenfeind, ist das nicht irreversibel? wonach schmeckt’s? nein, viel zu weiß, die schokolade.


womöglich ist noch eine nuss im dunkel drin. ich trau mich in keins mehr reinbeißen, weil die alle so scheußlich waren. das ist die sünde. und mit einem wimpernschlag wird es hell und du bist überfordert mit deinem gartenhäuschen weil du es von vorher noch gewöhnt bist, von der party. wenn er könnte, würde er auf drei beinen raushinken. aber das kann er nicht, der arme hund. alle viere. hat er noch. noch immer.

Camena Fitz

Carla Hegerl

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KULTURSZENE hanuschplatz Here Comes The Sun Bin ich sexuell erregt, muss ich niesen! Ein gewagtes Geständnis, möchte man meinen, gerade zu Beginn meines kleinen Aufsatzes. Ein

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neurologisches Phänomen, aber keineswegs

Ich sprach mal mit einem Freund über meine

Freibrief mich zu ohrfeigen und als Perversling

Aversion gegen Pornofilme, im Speziellen das

zu beschimpfen, sollte mir mal in aller Öffentlich-

lächerliche und irritierende Gestöhne das mit ih-

keit ein flüchtiges Hatschi entfleuchen. Denn der

nen einhergeht. Obwohl er selbst kein Kostver-

Umkehrschluss ich sei obligaterweise auch jedes

ächter ist, pflichtete er mir in diesem Punkt bei

Mal sexuell erregt wenn ich niese, ist durchaus

und erzählte, dass er diesem Problem mit dem

ein falscher. Auch anderes reizt meine Nüstern!

Kauf eines entsprechenden Filmchens ungari-

Ist das Wetter günstig und steht die Sonne im

scher Herkunft beigekommen wäre. In erwähn-

richtigen Winkel, kann dies auch durchaus eine

ter Produktion habe man einfach den störenden

entsprechende Reaktion herbeiführen. Nun mag

O-Ton weggelassen und sich wieder auf das We-

man mit Fug und Recht behaupten, die Sonne

sentliche konzentriert; den reinen, schmutzigen

sei ein „Heißes Teil“, aber die Worte „geil“ und

Lustgewinn. Wer nun glaubt, ich würde an die-

„sexy“ drängen sich einem bei ihr dann doch

ser Stelle schlüpfrige Details auspacken, der irrt!

nicht auf! Als Objekt der Begierde mag sie nichts

Denn die für mich eigentlich interessante Pointe

taugen, dafür ist der direkte Umgang mit ihr -

war diese: Als der Film nach Deutschland expor-

selbst in entsprechenden Fantasien - einfach zu

tiert werden sollte, waren die Inspizienten dort

heikel. Auch fehlt das Intime, scheint sie doch

der irren Auffassung, er bedürfe nochmals einer

auf uns alle gleichermaßen drauf, ohne Unter-

kleinen Überarbeitung für das schon „etwas Her-

schied von Religion und Hauttyp. Sie dafür Hure

bere“ gewohnte, deutsche Publikum. Also syn-

zu schimpfen ist so böswillig wie lächerlich! Sie

chronisierten sie das fehlende Stöhnen nach!

hat mehr was von einer Diva: Wir sollen uns in

Ob die Damen-Herren Synchronstöhner aller Lä-

ihrem Glanze sonnen! Darüber hinaus sind wir

cherlichkeit zum Trotz auch noch method acting

ihr vollkommen gleich. Wenn ihr irgendwann

betrieben haben weiß ich nicht! Was ich aller-

einfiele, sie sei nun des Lebens überdrüssig, sie

dings weiß, ist, warum da Stroh liegt: Damit ich‘s

hätte unseretwegen keine Skrupel sich das Licht

beim nächsten Mal niesen auf Heuschnupfen

auszublasen. Das wäre allerdings ein One Night-

schieben kann! Warum ich eine Maske aufhabe?

Stand! Allein und Verlassen im Darkroom der

Hab Heuschnupfen! Warum der Jazztrompeter

sich unser Universum nennt. Jetzt bloß nicht das

Dizzy Gilespie beim Stromkasten steht? Das seht

Schwarzlicht anmachen, gerade in der Gegend

ihr wenn das Licht ausgeht! Hatschi! Gesundheit!

um Uranus herum könnte es hässlich werden aber genug der schlechten Wortwitze!

Peter.W.


Lehengrad Von Lärm und guter Nachbarschaft Von meinem Nicht-Balkon aus schlendert die

Nachbar noch der Ketzerei bezichtigt werden

Schumacherstraße den ganzen Tag im wohltem-

konnte. Oder man reißt sich am Riemen, klopft

perierten Rhythmus des Busfahrplans, der alle

an des Nachbars Tür und schenkt ihm in guter

zehn bis zwanzig Minuten eines der vielen fah-

Absicht eine CD mit alten Balkanischen Sevdalin-

renden Monstren der Linie 8 durch die Straße

kas oder John-Coltrane-Platten oder das neuste

jagt und mir und meinen Nachbarn zumindest

Slayer-Album oder Belgrader Altstadtmusik. Das

für wenige Sekunden die Geräuschkulisse eines

kann er dann den ganzen Tag rauf und runter

Flusses vorgaukelt – wenn man nicht hinschaut.

spielen, davon habe ich schließlich auch was. Zu

Dazu noch die vielen Autos der Viertelbewohner,

guter Letzt lädt man sich gegenseitig zum Mit-

die Gemüter einzelner Passanten, die hier und da

tagessen ein, dann zu den Wohnzimmer-Fußball-

mal einen leisen Fluch in der jeweiligen Diaspo-

turnieren. Am Ende passe ich auf seinen jüngsten

rasprache einem an den Kopf werfen, das rege

auf, während er mit seiner Frau das erste Mal seit

Kommen-und-Gehen im Zwischenraum Stadtbi-

langer Zeit alleine sein kann. Irgendwo habe ich

bliothek/Interspar. Und doch: Nichts im Vergleich

einen entscheidenden Fehler gemacht.

zum Nachbarn, wenn er wieder einmal Fußball

Marko Dinic´

mit seinem jüngsten im Wohnzimmer spielt, während ich versuche, in Ruhe zu lesen/schreiben/ telefonieren/wichsen/schlafen. In einem Moment – meist wenn das Fußballturnier vorbei ist und sie die Turbovolk-Scheiße für den Rest des Tages 1

aus ihrem Fernseher laufen lassen – sehnt man sich wieder nach dem Mittelalter, wo der gute

1 Turbovolk

ist ein Produkt der 90er und inszeniert sich selbst als wahre Balkanische Volksmusik, gleicht jedoch eher der Paarung einer Kreissäge mit einem Käfig voll wildgewordener Paviane, die das, was sie gemeinsam produzieren, als Musik verkaufen. Am Ende hat man ein Produkt, das so klingt, als hätte Blümchen mit Tarkan gemeinsam ein Synthie-Pop-Monster des schlechten Geschmacks gezeugt. Dass man damit Millionen verdient, liegt auf der Hand: je degenerierter der Typ hinter dem Synthesizer, je kürzer der Rock der Sängerin, desto mehr klingeln die Kassen. Der Todeskreislauf dieser „Musik“richtung ließ sich auch durch großartige Balkan-Bands wie Azra, EKV, Darkwood Dub oder Haustor nicht unterbrechen. Turbovolk ist leider auch heute noch die populärste Musik auf dem Balkan und in der Diaspora.

KULTURKEULE Literatur für Salzburg. Hierfür arbeiten wir eng mit der KulturKeule zusammen. Auf den nächsten Seiten finden sich zunächst eine von der Wiener Satirezeitschrift Hydra gestaltete Doppelseite – die Hydra war im Oktober zu Gast im Atelier du Bureau – und im Anschluss Texte aus der Anthologie Lyrik von Jetzt 3 – Babelsprech, welche im November vorgestellt wird.

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lyrik von jetzt 3 Die wichtigsten Stimmen der jungen deutsch-

u.a. mit Marko Dinic´ (S. 41), Martin Fritz (mosaik3,

sprachigen Lyrik in einem Band. Autorinnen und

12, 15), Irmgard Fuchs (vgl. S. 48), jopa jotakin

Autoren unter 35 aus Deutschland, Österreich,

(mosaik15, S. 9), Frieda Paris (mosaik9, S. 8) Mar-

der Schweiz und Liechtenstein.

tin Piekar (mosaik15, S. 8), Rick Reuther (mosa-

Die Anthologie versammelt 84 junge Lyrikerin-

ik12, 15), Tobias Roth (mosaik7, 8, 9, 13, 15), Alke

nen und Lyriker aus einem geografischen Raum

Stachler (mosaik15, S. 12), Gerd Sulzenbacher

von Flensburg bis Bozen, von Basel bis Wien.

(mosaik15, S. 22)

Die Herausgeber und Kuratoren Max Czollek (Deutschland), Michael Fehr (Schweiz) und

Lyrik von Jetzt 3. Hg. von Max Czollek, Michael

Robert Prosser (Österreich) haben sich der Über-

Fehr und Robert Prosser. Wallstein, ca. 300 S., €

schreitung nationaler Grenzen verschrieben.

€19,50.

Lyrik von Jetzt 3. Babelsprech ist ein erster Versuch,

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neue LyrikerInnen aus dem gesamten deutsch-

Buchpräsentation im Rahmen der KulturKeule

sprachigen Raum einer interessierten Öffent-

am Mittwoch, 25.11., 20.00 Uhr, academy Bar.

lichkeit vorzustellen.

Näheres: bureaudugrandmot.wordpress.com

KONI Schon bevor die Stromrechnung kam, war Koni sicher, dass er aufpassen musste. Nun, da die Rechnung vor ihm lag, war es eindeutig, dass das Verschwinden seiner Katze mit dem Staat zu tun hatte. Mit einer trägen Geste zündete er die Rechnung an und warf sie in das Treppenhaus, wo sie nach kurzem erlosch. Er hätte gerne um Hilfe gerufen, aber alles deutete darauf hin, dass alle involviert waren. Als Koni die Katze am nächsten Tag wieder vor seiner Haustüre sitzen sah, konnte er ihr nicht mehr trauen. Er ignorierte ihr Miauen, die Tränen rannen ihm hell über das Gesicht.

Judith Keller


(alles was ich liebe) ist transspezieistisch (alles was ich liebe) ist transspezieistisch punycode is an instance dustbunnies sind ein integres beispiel of a general encoding syntax es kennt nur niemand dustponies weil sie keine uniform resource locator kennen spezies sind generell nie eines fast wie domain name system und desoxyribonukleinsäure ist pony dieses integre hobby poly~ dies jedoch weiß fast nur eine

45

postfurry

Martin Fritz

WAS ZUM () gestern sattestes verblasst. jetzt kreislauf im reinen ruin wechselt namen wie verkleidungen scharfrichter als schiedsrichter retten die welt zum austoben/ fügen/ aussterben wahl zerstört sinn unsere sinne das angebot wächst die tritte sind schemen sind tritte herein

Niklas L. Niskate


der zirkel

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Das neue Schuljahr an der Nordschule beginnt

Hand von meiner Schulter und hielt sie, wie um

für die 16-jährige Amanda (oder einfach nur

mich zu beruhigen, einen kurzen Moment in der

Mandy) Mayer alles andere als gut. Nachdem

Luft, während er mit einem leichten Lächeln sag-

ihre beste – und auch einzige – Freundin Lisa das

te: „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.

Schuljahr im Ausland verbringt und Mandys An-

Ich tu dir nichts…“

näherungsversuche an ihre anderen Klassenka-

Mein Herz klopfte noch immer so laut, dass ich

meraden kläglich scheitern, stellt sie sich inner-

ihn beinahe nicht verstanden hätte.

lich schon auf ein langes und einsames Jahr ein.

Ich befeuchtete meine Lippen und schluckte.

Als sich rund um Chris, den wahrscheinlich heiß-

Dann erwiderte ich so selbstbewusst wie mög-

esten und auf jeden Fall arrogantesten Typen

lich: „Ich…ich habe keine Angst.“ Aber ich be-

der Schule, seltsame Vorfälle häufen und Mandy

merkte selbst, dass meine Stimme zitterte. Ich

die einzige ist, der es aufzufallen scheint, offen-

wollte nur noch hier raus…

bart ihr Chris, dass sie magische Fähigkeiten besitzt und nimmt sie als siebtes Mitglied in seinen Zirkel auf. Doch Cassandra, die Anführerin des Zirkels, scheint ein dunkles Geheimnis zu haben und nicht zu sein, wer sie zu sein vorgibt. Alexandra C. Nobis (vgl. mosaik3, S. 7) verarbeitet in Magiebegabt die Salzburger Umgebung leger-witzig in einer Jugenderzählung. Was sich als naive Liebesgeschichte tarnt, offenbart sich als spannend und selbstironisch unkitschig. Da legte er mir plötzlich die Hand auf die rechte Schulter. Mein Herz begann zu rasen und ich schaute unwillkürlich auf seine Hand, bevor ich meinen Blick schnell wieder auf sein Gesicht heftete. Meine Lippen waren trocken und mein Atem ging schnell, als ich abwartete, was er wohl als Nächstes tun würde. Chris starrte mich noch einige Sekunden mit unergründlicher Miene an, um gleich darauf

Alexandra Christina Nobis: Magiebegabt.

die Stirn zu runzeln. Dann nahm er plötzlich die

369 S., € 12,90 (eBook: € 3,99)


Problem schwiegersohn Wenn Anatolij Petrowitsch gewusst hätte, wel-

niemals für seine Frau duelliert, abgesehen da-

che Schwierigkeiten ihm ein kleiner Urlaub be-

von, dass er vermutlich verloren hätte und keine

scheren würde, wäre er wohl einfach in Moskau

Lust hatte, als romantischer Held in einem Stra-

geblieben. So bringt ihn ein fälschlicherweise als

ßengraben zu verbluten, während seinem Riva-

Dienstreise ausgewiesener Auslandsaufenthalt

len dem vergnüglichen Leben mit seiner Frau

ins Visier der russischen Ermittler. Aber da ist ja

nichts mehr im Wege stand. Für seine Tochter

auch noch Tatjana, die in Ungnade geratene uk-

würde er vielleicht eine Ausnahme machen, aber

rainische Journalistin, die sein Leben nachhaltig

er hoffte dennoch, das Problem Schwiegersohn

verändert, seine Tochter, die einen Nichtsnutz

auf andere Weise lösen zu können.

ehelichen will, und Michail, der auch ganz andere Probleme hat. Ein Schulterklopfen von Präsident Putin hilft da nicht viel. Die junge, in Salzburg geborene Autorin Katharina J. Ferner (vgl. mosaik13, S.18) und Gewinnerin von Wir lesen uns die Münder wund 2009 verarbeitet in ihrem Erstlingswerk ihr Russisch-Studium auf kreativ-unterhaltsame Weise im neuen Verlag Wortreich: Er war überrascht, dass sich seine Tochter eine solche Feier mitten in der Stadt überhaupt leisten konnte. So etwas musste doch ein Vermögen kosten und er hatte sich, als ungebetener Gast, finanziell nicht beteiligt. Von der Familie des Möchtegern-Bräutigams wusste Anatolij nur wenig. Elisaweta hatte über die Verhältnisse immer gern geschwiegen. Es dauerte fast ein Jahr,

Katharina Johanna Ferner: Wie Anatolij Petro-

bis er aus ihr herausbekommen hatte, dass ihr

witsch Moskau den Rücken kehrte und beina-

Verlobter auf Arbeitssuche sei und Schriftsteller,

he eine Revolution auslöste. Verlag Wortreich,

als würden solche Menschen heute noch ge-

2015. 160 S., € 20,60.

braucht. Anatolij Petrowitsch fand, dass Puschkin als russischer Literat völlig ausreichte. Und selbst

Buchpräsentation am 13.11., 19.00 Uhr in der

diesen fand er höchst unvernünftig. Er hätte sich

Galerie M. Ferner, Bergstraße 11a, 5020 Sbg.

47


sonderbare, schwer AUSzumalende zeichen Das neue Literaturprogramm von Kremayr & Scheriau Überfüllte Lager, überforderte Politiker, Probleme

[…] ‘Wir haben nämlich eine Moral, nicht wie der

mit der beauftragten Sicherheitsfirma. Flüchtlin-

Russe. Wir sind die Guten, Frau Elisabeth, die

ge am Budapester Ostbahnhof, die sich zu Fuß

Guten.’ […] ‘Auf was sollen wir denn stolz sein’,

auf den Weg in Richtung Westen machen. Skru-

meinte Blum. Der Kellner schlug das dreckige

pellose Schlepper, zahllose Tote im Mittelmeer

Tischtuch zusammen, darunter kam das abge-

und in einem ungarischen Kühltransporter ohne

nutzte Holz der Biertische zum Vorschein. ‘Wir

Luftzufuhr an einer österreichischen Autobahn.

haben uns nicht an unsere Vorschriften gehalten.’

Das ist keine Zusammenfassung der Ereignisse

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der letzten Monate, das sind Details aus Eine

Blum muss sich schließlich zwischen Moral und

Handvoll Rosinen von Daniel Zipfel, einem Ro-

System entscheiden und vertraut auf seine per-

man, der erschreckend viele Parallelen zur aktu-

sönlichen Bekanntschaften, wohingegen er ei-

ellen Entwicklung aufweist: Der Fremdenpolizist

nem zunehmend unmenschlichen Gesetzesap-

Ludwig Blum erlebt in Traiskirchen 2003 den all-

parat immer weniger Vertrauen entgegenbringt.

täglichen Wahn des Systems. Nicht nur dieses,

Dem unbarmherzigen Realismus des Buches ist

sondern insbesondere sein persönlicher Glaube

es geschuldet, dass es keine platten Figuren,

an die Bürokratie zerbricht als Folge der stei-

keine Trennung zwischen “bösen Polizisten” und

genden Migration aus Syrien und anderen ara-

“bemitleidenswerten Migranten” gibt – Zipfel

bischen Ländern.

gesteht allen Personen einen breiten Charakter zu – niemand ist eine Schablone. Das ist gut –

Der Willy zog die Schatulle mit seinem eigenen Verdienstzeichen hervor, strich mit zittrigen Fin-

stürzt Blum jedoch ins Verderben.

gerkuppen darüber. ‘Die werden schauen in St.

Rastlos authentisch

Pölten, die Bürokraten dort wissen ja gar nicht,

Was dem Erstlingswerk des jungen Autors an

wie das war, an der Grenze.’ Er wandte sich zu

mancher Stelle an sprachlicher Finesse und er-

Elisabeth. ‘Die wissen nämlich nicht, wie das war

zählerischem Tiefgang fehlt, macht es durch die

mit den armen Tschechoslowaken, die damals

rastlose Erzählung und deren Authentizität wett.

gekommen sind, den Russen im Genick.’ Über

Dass es gut recherchiert ist, merkt man auf jeder

Blums Bierglas hinweg streckte er ihr den Zeige-

Seite. Das kommt nicht von ungefähr, arbeitet

finger entgegen, hob seine Stimme und spuckte

Zipfel doch hauptberuflich als Jurist in der Asyl-

dabei auf Blums Wange. ‘Eine moralische Ver-

rechtsberatung.

pflichtung haben wir gehabt! Denn niemals darf

Es handelt sich trotz der Thematik weder um ein

der Dienst über die Moral gestellt werden! Wir

Themenbuch einer Nische, interessant für Akti-

sind zuallererst nämlich Menschen, junge Frau.’

vistInnen, noch um ein zufällig nur aufgrund der


thematischen Aktualität in den Fokus gerücktes

SMS oder E-Mail. Alles, was dadurch entsteht,

belletristisches Werk, sondern um ein beach-

kommt von innen heraus. Kreativität, die sich in

tenswertes Debut nicht nur des Autors, sondern

hunderten handgeschriebenen Notizen, Foto-

auch um den Beginn der Literarurschiene im bis-

graphien, Zeichnungen wiederfindet. Erwartbare

lang auf Sachbücher konzentrierten Verlag Kre-

Reaktionen von digitalen Entzugserscheinungen

mayr & Scheriau.

bis zu ersten Selbstgesprächen werden schnell

Die „österreichische Tradition der Musikalität in

überwunden – der Fokus verlagert sich auf die

der Sprache“ fortzuführen und „junge Stimmen“

Details des Alltags, die den Reflexionsprozess

zu fördern ist das erklärte Ziel – glücklicherwei-

von der Autorin auf den Leser/die Leserin über-

se tappen sie nicht in die Sachbuchverlagsfalle,

tragen.

sich auf gesellschaftskritische literarische Texte zu beschränken. Dies fällt insbesondere bei den

Das wahrscheinlich zugänglichste Buch im lite-

anderen drei Neuerscheinungen auf.

rarischen Quartett des Verlages ist jedoch der

Marianne Jungmaier zeichnet in Das Torten-

Kurzprosaband von Irmgard Fuchs: Die in Salz-

protokoll beispielsweise ein zartes und emp-

burg geborene entwickelt in Wir zerschneiden

findsames Portrait einer Frau, deren lebenslang

die Schwerkraft gleich einen ganzen Kosmos

gehütetes Geheimnis nach ihrem Tod langsam

von Figuren – wie dies auch die Umschlagge-

enthüllt werden kann – doch in der kühlen Fa-

staltung suggeriert – in neun unterschiedlichen

milienstruktur muss dafür erst emotionaler Raum

Erzählungen. Unterschiedlich in Länge, Stil und

geschaffen werden. Ein auf den ersten Blick bra-

leider auch Qualität. In der zentral positionier-

ver Roman, der jedoch durch die präzise und be-

ten Kürzesttextsammlung Einhundertsechzehn

klemmende Darstellung in den Bann zieht.

Abbildungen meiner selbst, interstellar stellt sie

„nicht minder als mein ganzes Herz“ Ganz anders die Herangehensweise von Ianina

den direkten Bezug zu sich selber her. Wenn sie sich in einem Wort beschreiben muss, sagt sie: wuselig. Wenn man das Buch in einem Wort beschreiben muss, sage ich: wuselig.

Ilitcheva (die wir von der Jenny-KulturKeule im Jänner dieses Jahres kennen), die sich in einem

Was, wenn die Kathastrophe nicht aus Wasser,

bemerkenswerten Experiment in soziale Isolati-

sondern aus Schlagobers gemacht wäre. Eine

on begibt: 183 Tage lang kein Kontakt zu Be-

Schlagobersflut, die über die Stadt überraschend

kannten oder Freunden, ein halbes Jahr keine

hereinstürzt, sich in jeden Spalt drängt und alle

49


wuselig Ähnlich schwierig gestaltet es sich, verbindende Elemente der vier gleichzeitig erschienenen Bücher zu finden. So unterschiedlich die Zugänge, die Formate, die Genres sind, so handelt es sich doch jeweils um frische, neue Stimmen österreichischer AutorInnen – auch wenn es nicht von jeder der Erstling ist und, wenn der eine oder die andere vielleicht nicht mehr als „Jungautor“ durchgeht, so überzeugt die Lockerheit, mit der an die Sprache herangegangen wird. Das schließt auch die Reflexion des Schreibprozesses und die Selbstfindung als AutorIn mit ein – oder wie Irmgard Fuchs es in einem Interview formulierte: Ich glaube ein bisschen, dass ich womöglich

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nach wie vor nicht schreibe, sondern immer noch Fluchtwege und Schlüssellöcher verklebt. Autos

herauszufinden versuche, was man mit diesen

werden anfangs wie bei Glatteis über die Stra-

sonderbaren, schwer auszumalenden Zeichen

ßen rutschen, bald aber schon im immer schnel-

eigentlich alles machen kann.

ler steigenden Schlagobers versinken und ein

Josef Kirchner

Entkommen wird unmöglich sein. Denn je mehr man versucht, sich zu befreien, umso fester wird das Schlagobers werden, bis es endlich, zu Butter geworden, alles Leben in sich ersticken wird.

• Irmgard Fuchs: Wir zerschneiden die

Verbindende Elemente der Erzählungen sind ab-

Schwerkraft. Kremayr & Scheriau, 2015.

strakt und allgemein: Wie es der Titel suggeriert

208 S., €19,90.

sind die Protagonisten aus verschiedenen Grün-

• Marianne Jungmaier: Das Tortenprotokoll.

den nicht mehr geerdet, schweben teilweise völ-

Kremayr & Scheriau, 2015. 208 S., €19,90.

lig losgelöst in der Gesellschaft – eine mit Geld

• Ianina Ilitcheva: 183 Tage.

nicht zu bezahlende Freiheit. Doch irgendetwas

Kremayr & Scheriau, 2015. 256 S., €29,90.

hat ihnen immer den Boden unter den Füßen

• Daniel Zipfel: Eine Handvoll Rosinen.

weggerissen. Es sind Momentaufnahmen der

Kremayr & Scheriau, 2015. 240 S., €19,90.

Schwerelosigkeit nach dem letzten Bodenkontakt aber noch vor dem Aufprall. Die Poetik passt

20.11., 19:30, Literaturhaus: Lesung mit

dazu, wählt die Stimmungslage und Erzählsitua-

Irmgard Fuchs, Marianne Jungmaier und

tion in jeder Miniatur anders und offenbart die li-

Ianina Ilitcheva

terarische Vielseitigkeit der Autorin: schräg, grotesk, absurd, ironisch, komisch (2x), träumerisch

3.12., 19:30, Literaturhaus: Lesung und

– das ist der Wörterpool, bitte sich zu bedienen.

Diskussion mit Livia Klingl und Daniel Zipfel


Sogar die Vögel flüchten Lisa-Viktoria Niederberger wurde früh genug geboren, um irgendetwas vom Mauerfall mitbekommen zu haben. Jedoch war ihr ihr Plüschdinosaurier eindeutig wichtiger und näher. Ihre schulische Sozialisation in Oberösterreich war vielfältig. Dörflich, erzkatholisch bis hin zu freigeistig. Daraus ergab sich eine überraschende Wissensbreite ohne nennenswerte Folgeschä-

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den. Inzwischen ist sie in Salzburg zwischen Studium und Barkeepern, Kunst und Profanem, Belletristik und Bier, angekommen. Kurz: beim Spagat zwischen Hochgeistigem und Alltäglichen. Dies Alles führt zwangsläufig zu guten Geschichten, die aufgeschrieben und gelesen werden müssen. Die Vögel blicken mich an, der Wind zerzaust mir meine Haare. Angenehm kalt ist er, er riecht nach Herbst. Im Herbst stirbt alles. Sogar die Vögel flüchten. Ich starre die Amseln an, wische mir den Rotz vom Kinn und wünsche mir zu fliegen...

Nach der Kurzprosa-Anthologie mosaikX im vergangenen Jahr ist dies nun die erste selbstständige Publikation der Gewinnerin des Wir lesen uns die Münder wund-Lesewettbewerbs des mark.freizeit.kultur. Aber sicher nicht die letzte! Lisa Viktoria Niederberger: Na, ned heid! Verlag Neues Leben, 2015. € 5


edition mosaik

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Drei Strips. Einführung, Fortführung, Poin-

Über drei Jahre lang begleiteten die Perlen der

te. Bleistift auf weißem Papier. Ratten, die auf

Weltliteratur, eigenwillige Zusammenfassungen

Schultern sitzen.

und Stellungnahmen zu literarischen Klassikern

Was so einfach klingt birgt großes literarisches

von eben diesen Schulterratten, die regulären

Potenzial. Der Autor, Musiker und bildende

Ausgaben des mosaik. Jetzt, wenn die Comic-

Künstler Peter.W. schafft mit seiner anarchistisch

reihe ihr (vorläufiges?) Ende findet, wollen wir

reduzierten Comicreihe einen Kosmos von Cha-

noch einmal zurückblicken auf die Entwicklung

rakteren und literarischen Referenzen - sympa-

von vorsichtigen Skizzen bis hin zu vollendeten

thisch, aber doch irgendwie grausig.

Storylines.

Die edition mosaik ist ein Aufeinandertreffen

Wir könnten uns keinen besseren Einstieg in

von KünstlerInnen in ihren jeweiligen Ausdrucks-

die edition mosaik vorstellen als mit den „mit

formen zur Sichtbarmachung der Vielfalt moder-

feinem Bleistiftstrich gezeichneten Schultersit-

ner Literatur. Das kleine Format ergänzt damit

zern“. Dafür mussten wir das zugrunde liegende

die kontinuierliche Arbeit des mosaik und soll

Konzept aber gleich einmal umkehren: Grund-

gleichzeitig Ansporn und Wegmarke sein.

sätzlich werden in dieser neuen Reihe bildende Künstler auf literarische Werke reagieren um ge-

Eine neue Reihe literarischer Publikationen mit

meinsam ein Gesamtkunstwerk zu formen. Da es

Dilletantismus und Reduktion zu eröffnen ist

sich, wie Peter es formuliert, bei Comics um eine

nicht unbedingt der gewohnte Weg. Doch mit

„Zwischenwelt zwischen bildender Kunst und Li-

den Schulterratten von Peter.W. wird aufgezeigt,

teratur“ handelt, wird diesmal literarisch auf die

wie breit sich die moderne Literatur streut. Und

Strips reagiert: Stefan B. Findeisl findet einen

auch wenn Comics und Graphic Novels in unse-

ganz persönlichen Zugang zu Anarchie und lin-

ren Breiten noch nicht kanonisiert sind, so wei-

ken Schultern:

sen die Schulterratten eine unverkennbare literarische Qualität auf.

Nichts. Blick nach links. Immer noch nichts. Seit ich vor Jahren zum ersten Mal davon gehört

Das zeigt sich in der pointierten Erzählweise

habe, wollte ich auch eine haben. Ich habe al-

ebenso, wie in den selbstironisch vorgebrach-

les probiert, aber die Stelle blieb leer. Warum es

ten Wortspielen. Wenn die jugendlichen Rat-

bei mir die linke Schulter sein sollte, weiß ich gar

ten Beat und Box untertitelt werden oder die

nicht mehr. Irgendwie hielt ich es für passend.

Ameise plötzlich Esperanto spricht, dann lässt

Wegen des anarchischen Grundgefühls das sie

Peter.W. ein Feingefühl für Sprachen und deren

mir vermittelten. Vielleicht bin ich die Sache

Wirkung auf den Leser erkennen. Denn ja: Auch

auch falsch angegangen. Mein erster Versuch,

wenn der Zeichner den überraschend auftreten-

sie anzulocken, war mit Käse. Ich dachte mir

den Autor als „alten Erzfeind“ einführt, so steht

wohl, was bei Mäusen klappt, sollte wohl bei

hinter den Schulterratten auf jeden Fall (auch)

Ratten ebenso funktionieren und deshalb rannte

ein Schriftsteller.

ich wochenlang mit einem Stück Käse auf mei-


ner Schulter herum. Die schrägen Blicke und das Getuschel, wenn ich an jemandem vorüberging, waren leicht zu ertragen, freute ich mich doch schon auf die wunderbare Gesellschaft, die mir zuteil werden würde. Ein mit feinem Bleistiftstrich gezeichneter Schultersitzer, der mich mit Witz und Ironie erfreuen würde. Ergänzt werden die Bücher durch ein Gespräch der beiden Künstler miteinander, das sich in Auszügen in der Printversion findet, in voller Länge

edition mosaik 1.1

Schulterratten - Peter.W.

online zum Nachhören sein wird: Mit einer Annäherung Also du hast über Ratten gesagt: eigener

von Stefan B. Findeisl.

Charakter, Rebellentum, sympathisch - aber

Herausgegeben

doch irgendwie grausig. Entsprechen diese

von Josef Kirchner und Sarah Oswald.

Eigenschaften auch den Comicstrips? In gewisser Weise schon. Das wunderbare bei

76 Seiten, € 5, limitierte Auflage.

den Schulterratten ist: Sie sprechen sich immer

ISBN 978-3-200-04377-0

so von der Seite an, weil sie sich immer Schulter an Schulter nebeneinander befinden. Die Idee

Erhältlich u.a. in der Buchhandlung

war ja auch, dass ich einerseits etwas Konkretes

Neues Leben oder schreib@mosaikzeitschrift.at

haben wollte, also die Ratten, die gezeigt werden – aber auf der anderen Seite auch etwas

Release und Lesung:

Abstraktes, das ihnen eine Bühne gibt. Du siehst

10.12.2015 | 20.00 | Atelier du Bureau

nie die Halter von den Tieren, es stehen immer die Ratten im Vordergrund. Das gibt dem Ganzen eine ganz eigene Perspektive. So als würden Sie sagen wo’s langgeht!

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zweifel zwischen zwieback

wanzig

mosaik wird erwachsen. 20 Ausgaben werden es im kommenden Herbst sein. Wir wollen die Gelegenheit wieder nutzen und uns erneut an ein größeres Projekt wagen. Zur zwanzigsten Ausgabe laden wir zu einem Kurzprosa-Band ein. Wir sprengen die engen längenmäßigen Grenzen des mosaik – du darfst dich in deinen Gedanken, deiner Erzählung, deinem

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Text austoben. Kreativ oder klassisch, kritisierend oder komisch, verrückt oder ganz normal: Wir wollen deine Literatur. Alles, was zwischen zwei Buchdeckel passt. Nur eines soll euch alle einen:

Zweifel zwischen Zwieback Dich hat die Muse bei diesem „Thema“ noch nicht geküsst? Zweifle nicht. Lass nichts zwischen dich und Ausgabe zwanzig kommen. Zwacke dir ein Stück Zwieback ab und beginn zu schreiben. Und tu dir keinen Zwang an: der Zweifel zwischen Zwieback ist ein weites Feld, durchaus auslegbar. Du suchst Inspiration? X, die Kurzprosa-AntholoWir suchen unveröffentlichte Prosatexte aller Art

gie und zehnte Ausgabe des mosaik ist 2014 er-

zwischen 1500 und 5000 Wörtern. Eine Jury aus

schienen und noch in Restexemplaren erhältlich,

AutorInnen und Menschen aus dem Literaturbe-

zB in der Buchhandlung Neues Leben.

trieb trifft im Anschluss unabhängig von uns und anonym die Auswahl.

X – Kurzprosa. Herausgegeben von Josef

schreib@mosaikzeitschrift.at

Kirchner und Sarah Oswald.

Verlag Neues Leben, 2014. € 9,90

Einsendeschluss: 3.3.2016


Labor L‘art ist das Netlabel des Bureau du Grand Mot und wurde 2014 gegründet. Seine Schwerpunkte sind Musik, Klangkunst, Literatur, Hörspiel und Film, unabhängig von Nationalität, Profession und Genre. Der spezielle Fokus liegt auf der Förderung von Underground, experimentellen und transdisziplinären Projekten; zur Unterstützung gehaltvoller, nichtkommerzieller Kunst und kultureller Vielfalt. Das zielorientierte Arbeiten an einem „Produkt“ steht weniger im Vordergrund,

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als die Ermöglichung prozessorientierter und nonlinearer Arbeitsweisen. Die KünstlerInnen behalten dabei auch nach der Veröffentlichung die Kontrolle über ihr eigenes Werk. 2014/15 sind zahlreiche Musikveröffentlichungen erschienen, für 2016 wollen wir uns in Zusammenarbeit mit dem mosaik auch zunehmend dem Bereich Literatur und Hörspiel widmen. Du hast ein literarisches Projekt, das du gerne

advent mosaik

einlesen/-sprechen/-singen möchtest?

24 Tage | 24 Türchen | 24 AutorInnen | 24 mal

schreib@mosaikzeitschrift.at

Literatur. Dein perfekter Weg durch die Vorweihnachtszeit. Heuer schon wieder keine Schokola-

Mehr unter: laborlart.at

de. Dafür gute Literatur, quer durch. Jeden Tag darfst du auf mosaikzeitschrift.at ein weiteres „Türchen“ aufmachen und Punsch dazu trinken und Schokolade dazu essen. Damit das funktioniert, brauchen wir aber auch Türchen-Material. Schick uns deine Texte aller Art: schreib@mosaikzeitschrift.at Einsendeschluss: 25.November 2015


KREATIVRAUM peter.w. Kreativraum ist eine neue Reihe mit Fokus auf die Orte, an denen Kunst geschaffen wird – und die Personen, die ebendiese Räume nutzen.

Künstlerisch arbeite ich am liebsten hier im Atelier du Bureau. Zuhause wartet einfach zu viel Ablenkung, sei es nur, dass die Wäsche gemacht werden muss. Das lenkt mich dann so dermaßen von dem ab, was ich eigentlich machen will. Wenn ich da bin, schreibe ich manchmal, aber ich mache auch gerne Musik hier, weil ich hier ordentlich aufdrehen kann, ohne, dass sich jemand beschwert. Zuhause, in meinen eigenen

Ich habe zuhause kein Internet – will auch keines

vier Wänden, hab ich es auch gerne ruhig.

haben – das würde das Arbeiten zwar begünsti-

Da es ein Gemeinschaftsraum ist, achte ich dar-

gen, aber bei mir wechseln die Phasen, in denen

auf, dass es für uns alle angenehm ist, aber ich

ich Input brauche mit denen, in welchen es ein-

mache meist auch minimale Veränderungen, da-

fach aus mir herausfließt. Es muss dann fast aus

mit es für mich passt. Teilweise arbeiten wir auch

mir herausfließen, weil ich mich sonst auf nichts

gemeinsam hier – aber nicht so häufig, wie ich

anderes mehr konzentrieren kann.

gerne möchte. Die meiste Ruhe zum Arbeiten, die wenigs-

Peter.W. alias Wolfwetz alias Peter Wetzelsber-

te Ablenkung, habe ich, wenn ich in der Nacht

ger macht Literatur (siehe S. 42), Glitch-Musik

arbeite. Zwischendrin schaue ich gerne Serien,

und Comics (siehe S. 52). Selber bezeichnet er

weil es eine gute Möglichkeit ist, mein Hirn aus-

sich als Genialer Dilletant. Er ist Namensgeber

zuschalten und gleichzeitig ein bisserl Inspiration

des Bureau du Grand Mot. Sein Lieblingsfetisch

zu tanken.

sind Halbglatzen.


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