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Siedler als Brandstifter

einem tödlichen Anschlag auf zwei Israelis in der palästinensischen Kleinstadt Huwara setzten Siedler Häuser und Autos in Brand. Die Vorgeschichte

Von Riad Othman

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Als ich von 2012 bis 2015 das medico-Büro für Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete leitete, fuhr ich immer wieder in einem Auto mit israelischem Kennzeichen durch Huwara, auch mit meiner Familie. Der Ort ist nicht für seine Ausflugsziele bekannt und auf den ersten Blick lässt nichts vermuten, dass er schon vor Jahrhunderten urkundlich erwähnt wurde.

Eine meist staubige Straße, die von Autowerkstätten, -wäschereien und Geschäften gesäumt ist, führt durch das Städtchen. Aber es ist nicht irgendeine Durchgangsstraße, sondern ein Abschnitt der historischen Handelsund Verkehrsroute 60, die vor der israelischen Staatsgründung das Mandatsgebiet Palästina und davor diese Region des Osmanischen Reiches von Norden nach Süden durchzog.

Bis zur zweiten Intifada führte die Route 60 für alle, auch die Siedler:innen, mitten durch die palästinensischen Städte Nablus, Ramallah, Bethlehem und Hebron. Mit der eskalierenden Gewalt jener Jahre ab dem Herbst 2000 wurden die sehr viel älteren Pläne zur infrastrukturellen Segregation von jüdischer und palästinensischer Bevölkerung in den besetzten Gebieten beschleunigt umgesetzt. Neben Mauern und

Zäunen wurden auch Umgehungsstraßen gebaut, die die Siedler:innen heutzutage nutzen. In Huwara allerdings wurde diese Trennung nicht vollzogen. Die Siedler:innen nutzen wie alle anderen auch die Hauptstraße durch den Ort, und das bis heute. Zu meiner Zeit waren Israelis aus den umliegenden Siedlungen häufig dabei zu sehen, wie sie ihre Autos in Huwara waschen oder reparieren ließen. Sie nutzten die viel billigeren Preise für solche Dienstleistungen bei den Palästinenser:innen. Sie kauften zum Teil auch in den palästinensischen Läden ein, die ebenfalls billiger sind als die in Israel oder den Siedlungen.

Routine an der Oberfläche, Gewalt darunter

Von wenigen Zwischenfällen abgesehen, konnte man hier während meiner Jahre vor Ort den Eindruck einer Routine gewinnen, eines eingespielten Ablaufs, der auf der Anerkennung gegenseitigen wirtschaftlichen Nutzens beruhte. Benjamin Netanjahu pries diesen Zustand dem Ausland gegenüber als Allheilmittel gegen Terror und Sicherheitsrisiken, als seine Vision zur Konfliktlösung: eine pax oeconomica ohne Rechte für Palästinenser:innen.

Wer genau hinsah, den konnte die trügerische Ereignislosigkeit dieser Jahre nicht beruhigen. Die gegenseitige Ablehnung in der Stadt äußerte sich nur selten in Gewalt, aber die Beziehungen waren eben rein instrumenteller Natur.

Die Gewalterfahrungen der palästinensischen Community reichen weit zurück. Während der Al Aqsa Intifada der 2000er-Jahre wurden auch in Huwara Menschen getötet oder starben am gleichnamigen Checkpoint. Vor allem aber geriet die Kleinstadt als Vorort von Nablus immer wieder mit ins Visier der israelischen Armee, die in dieser Zeit Kollektivbestrafungen gegen die Bevölkerung der benachbarten Stadt durchführte und sie von der Außenwelt abriegelte.

Dann herrschten auch in Huwara wochenlange Ausgangssperren und es war schwer, den Ort zu verlassen, geschweige denn mit einem Fahrzeug. Doch das schien lange her, vor allem für die jüngere Generation.

Risse in der Routine Huwaras zeigten sich schon vor etwa einem Jahr. Siedler hatten schon im Januar 2022 randaliert und damit die Freilassung eines jüdischen Extremisten aus der radikalen Siedlung Yitzhar aus israelischer Haft „gefeiert“. Erneut augenfällig wurden die zunehmenden Spannungen spätestens im Mai letzten Jahres, als im Verlauf des damaligen „Flaggenstreits“ Siedler in Begleitung der israelischen Armee und unter deren Schutz nach Huwara kamen, Palästinenser:innen angriffen und palästinensische Fahnen entfernten. Inzwischen ist das Zeigen der palästinensischen Flagge an öffentlichen Orten in Israel verboten. Damals wurde noch darum gestritten und die Siedler fühlten sich ermutigt, in Huwara ihr eigenes Flaggenverbot durchzusetzen – in einer palästinensischen Gemeinde in besetztem Gebiet, die nominell unter palästinensischer Verwaltung steht.

Der Bau einer Umgehungsstraße für Siedler:innen, wie er schon früher um andere palästinensische Ortschaften erfolgt ist, soll in Huwara nun nachgeholt werden. Seit die Konkretisierung dieser Pläne Form angenommen hat, ist der Druck auf die Community durch gewaltbereite Siedler und die Armee merklich angewachsen. Das Land für den Bau dieser Straße soll den palästinensischen Ortschaften Huwara und Beita abgepresst werden. Doch nicht erst die erwartete Zwangsenteignung bedroht nach den pogromartigen Ausschreitungen mit all den niedergebrannten Häusern und Läden die Existenzgrundlage derjenigen in Huwara, deren Geschäfte den Überfall überlebt haben: Für sie hat die Armee bereits jetzt eine vorübergehende (verlängerbare) Zwangsschließung angeordnet.

Eine Geschichte der Gewalt

2022 war für Palästinenser:innen im Westjordanland das tödlichste Jahr, seit die Vereinten Nationen 2005 mit der systematischen Zählung palästinensischer Todesopfer begonnen haben. Insgesamt wurden dort im vergangenen Jahr 154 Palästinenser:innen getötet, davon mehr als ein Drittel in der Region Dschenin, dicht gefolgt von Nablus. Schon vor Monaten drang die israelische Armee wiederholt in die Nachbarstadt des kleinen Huwara ein. Ihre militärischen Operationen hatten ein Ausmaß, wie Nablus sie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen hat, darunter nächtliche Razzien und Schießereien am helllichten Tag. Offiziell galten diese Einsätze der militanten palästinensischen Gruppe „Höhle der Löwen“ in Nablus. Allerdings kam es dabei immer wieder zu zivilen Opfern, wie beispielsweise am 22. Februar, als die hochgerüstete Besatzungsmacht bei einem Einsatz im geschäftigen und dicht bevölkerten kommerziellen Zentrum einer der größten palästinensischen Städte elf Palästinenser erschoss und über 100 Personen verletzte.

Nur vier Tage später schlug ein palästinensischer Attentäter in Huwara zu und tötete zwei Brüder aus der nahe gelegenen Siedlung Har Bracha. Am Abend nach dem Anschlag strömten Dutzende gewalttätige Siedler nach Huwara, um Rache zu nehmen. Sie steckten Häuser und Autos in Brand, verletzten etwa 100 palästinensische Bewohner:innen des Ortes und töteten einen Menschen. In mindestens einem Haus befand sich zum Zeitpunkt der Brandlegung noch eine Familie, die zum Glück rechtzeitig evakuiert werden konnte. Die israelische Armee, die ansonsten bei Siedlergewalt nicht eingreift, geleitete die palästinensische Familie aus ihrem Zuhause.

Die Situation ist angespannt wie seit Langem nicht mehr, und das nicht nur, weil nun in Israel mit Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir zwei Kahanisten in Schlüsselpositionen der Regierung sitzen. Sie berufen sich auf den ursprünglich aus New York stammenden rechtsextremen Rabbi Meir Kahane, der Gründer der anti-arabischen Kach-Partei, die einstmals wegen ihres offen rassistischen Programms nicht mehr zu den Wahlen zugelassen wurde. Auch die geplante Entmachtung des Obersten Gerichtshofs, die seit Wochen Massendemonstrationen in Israel auslöst, lässt auf nichts Gutes hoffen, auch wenn jener ohnehin kein Hüter der arabischen Minderheitenrechte in Israel und unter der Besatzung ist. Das Vorgehen gegenüber den Palästinenser:innen unter Militärrecht dürfte jedenfalls nun noch härter ausfallen.

Es war eine Frage der Zeit, dass das Siedlungsprojekt sich irgendwann auch auf die Verfasstheit Israels auswirken würde. In einem Gebiet, das der israelische Staat längst als Einheit begreift, wird es Demokratie langfristig nur auf beiden Seiten der Grünen Linie oder nirgends geben, für alle oder für niemanden. Diese Erkenntnis hat sich bei der Mehrheit der Demonstrant:innen in Israel noch nicht durchge- setzt, die Thematisierung der Besatzung bleibt bisher aus. Mit diesem großen blinden Fleck sehnt sich der Protest vor allem zurück zu einem Status quo, der bereits vor dem Regierungswechsel unhaltbar war.

Riad Othman verfolgt das Geschehen in Israel und Palästina von Berlin aus und steht in ständigem Austausch mit unserem Büro und den Partnerorganisationen in der Region.

Neben Huwara wurden umliegende palästinensische Dörfer angegriffen, darunter Orte wie Burin, wo medico seit Jahren – gerade auch wegen der Siedlergewalt – palästinensische Bauern- und Hirtenfamilien in den vollständig von Israel kontrollierten C-Gebieten unterstützt. Die Union of Agricultural Work Committees hat mit Mitteln medicos und des Auswärtigen Amtes die Familien nicht nur mit Saatgut, Setzlingen oder dem Bau von Wasserleitungen unterstützt, sondern auch deren Vernetzung untereinander gefördert, damit sich die Dörfer im Fall von Angriffen gegenseitig beistehen. U. a. wurden Löschmittel verteilt, um Feuer nach Brandstiftungen und Wildbrände eindämmen zu können.

Spendenstichwort: Israel/Palästina