kinki magazin - #30

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nr. 30 oktober /november 2010 chf 6.00.– (schweiz) eur 4.00.– (deutschland) eur 4.50.– (österreich)


DAS PARFUM

FÜHLEN, TEILEN, TRÄUMEN A U F W O M A N I T Y. C O M


auftakt passion is always in fashion.

Lieber Leser. Jüngst beklagte sich eine grosse Wochenzeitung in einer gut gemachten Reportage, dass die jungen Menschen dieser Tage kein tiefschürfendes Interesse mehr an der enthusiastischen Ausübung eines Berufs hätten – und stellte damit die Berufung einer gesamten Generation infrage. So einfach scheint uns dieser Blick auf die Dinge wohl nicht zu sein, ist die Aussage doch deutlich zu kurz gegriffen. Vielmehr steckt wohl in jedem die Frage nach der Erfüllung in einer bestimmten oder zahlreichen unbestimmten Tätigkeiten – Orientierung, ick hör dir trapsen! Oder um es anders zu sagen: es ist nicht eine Frage der fehlenden Hingabe, sondern doch eher in welche Dinge und Taten wir unsere Leidenschaft am gewinnbringendsten investieren wollen. Jedes Ziel scheint dann erreichbar, wenn Motivation in hoher Güte und ausreichendem Masse vorhanden ist. Muss richtig sein, schliesslich hältst du auch schon die dreissigste Ausgabe in deinen Händen. Na dann werfen wir uns doch am besten gleich mit vollem Körpereinsatz ins Leiden schaffende Thema rein. Berufen fühlen können wir uns noch später. Deine hingabevolle und sinnentleerte kinki Redaktion

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[ LI FE A F T E R S K ATE]


2010

We A cti v i s t S T R E T C H A R M S T R O N G S HO T B Y C HE RY L D U N N www. we s c. co m




inhalt

standard

Auftakt 03 Inhalt 10 Neuzeit 12 Klagemauer 20 Maske 78 Abo / Impressum 108 Kopfkino 110 Henry & Paul 114

report

Wortlaut: Daniel Wirtberg 30 Von Nymphen und Satyrn 32 ‹Gott im Himmel, dann mach es doch selbst!› 36 The story told 42 Standleitung 46 Querschläger: Valentin Landmann 56 Herr Mainhardt, der Dollar und das Glück 58 Consollection 106

musik

Verhör 62 Lieblingslieder 64 Interview: Spoek Mathambo 66 Interview: Is tropical 70 Out of step 72 Vorspiel: Maps & Atlases 76 Interview: The Divine Comedy 80

80 32 Eine göttliche Lektüre

Dass Neil Hannon, Mastermind der Band The Divine Comedy, ein verschrobener Kauz ist, hat er uns in seinen Videos bisher nicht verheimlicht. Sehr wohl aber seine Meinung zu Fussball, Facebook und Fegefeuer …

Klar, Sex ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens, auch wenn die körperliche Liebe immer noch oft als schönste Nebensache der Welt abgetan wird. Dass diese Verniedlichung bei manchen Menschen ganz und gar nicht zuzutreffen mag, wissen wir alle spätestens, seit Tiger Woods, David Duchovny und Co. in den Medien ihre Sexsucht gestanden. Unser Autor Peter Rösch wagte sich an ein Treffen der anonymen ‹Sexaholics›, jenen Menschen, die einfach nicht genug körperliche Liebe bekommen können und von ihren Leidenschaften im wahrsten Sinne des Wortes getrieben werden.

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mode

‹Strike a pose!› von Rachel de Joode 82 Vertreter: Overkneeboots 88 Narumi Shibori 90 Die besondere Sorte Mann 92

kunst

Der $ 5 000 Schuss

‹Loving me. Loving you.› von Viviane Sassen 22 ‹Der $ 5 000 Schuss› von Nicolas Silberfaden 48 ‹Hashem ...› von Martha Boxley 96 Obsession durchs Objektiv 102 Schauplatz: Galeria Zé dos Bois 112

Jeder kennt sie aus dem Fernsehen, fast jeder verschmäht ihre Arbeit als menschenverachtend und frech, und dennoch sehen wir alle uns tagtäglich die Früchte ihres Schaffens an: die Rede ist von der ‹Spezies› der Paparazzi. Der Fotograf Nicolas Silberfaden drehte nun den Spiess um und folgte mit seiner Linse für einmal nicht den Gejagten, sondern den Jägern selbst.

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kinki inhalt

Von Nymphen und Satyrn

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36 ‹Gott im Himmel, dann mach es doch selbst!› Was genau sieht Gott, wenn er vom Himmel herabblickt? Gutes und Schlechtes wahrscheinlich. Und hoffentlich auch Leonard Knights Lebenswerk, seinen ‹Salvation Mountain›, den er zu Ehren des Herrn mitten in den Weiten der kalifornischen Wüste errichtet hat. Liliane Lerch und Julian Salinas besuchten Knight am Fusse des Denkmals.

zugabe

Rachel de Joode

Viviane Sassen

‹Meine künstlerische Intention ist es, menschliche Existenz anhand von Skulptur, Installation, Performance und Still Life- sowie Mise-enscène-Fotografie zu entschlüsseln.› Nicht weniger als das fordert die Amsterdamer Fotografin Rachel de Joode von ihren künstlerischen Arbeiten. Wie vielschichtig und gattungsübergreifend Rachels performative Arbeiten und deren Dokumentation sind, bewies sie bereits in diversen Ausstellungen, Buch- und Magazinkontributionen. Als perfekte Mischung zwischen einer Modestrecke und deren künstlerischer Abstraktion zeigen sich auch die wunderschönen Fotografien in der Fotostrecke ‹Strike a pose!›, welche Rachel für diese Ausgabe produzierte. – S. 82

Ein leidenschaftlicheres Cover als jenes, das uns die Amsterdamer Fotografin Viviane Sassen für diese Ausgabe beschert hat, konnten wir uns eigentlich nicht wünschen. Und obwohl die 38-Jährige den meisten unter euch mittlerweile dank ihrer eindrücklichen und unverwechselbaren Fotostrecken in Magazinen wie Dazed & Confused, i-D, Purple, Another Magazine oder Fantastic Man ein Begriff sein dürfte, entdeckten wir in ‹Loving me. Loving you.› ganz neue Facetten der Mode- und Kunstfotografin, die sich in ihren Bildern vor allem mit dem Begriff des ‹Anderen› auseinandersetzt. Sei es auf ethnischer Ebene, in Bezug auf körperliche Fähigkeiten oder Genderfragen. Viviane pendelte in den letzten Jahren vor allem zwischen Afrika und den Niederlanden, arbeitete für illustre Auftraggeber wie Miu Miu, Louis Vuitton oder Stella McCartney, und stellte ihre Werke in Australien, den USA und verschiedensten Ländern Europas aus. – S. 22

Martha Boxley

Marius von Holleben

‹Leidenschaft fühle ich vor allem, wenn ich etwas Aussergewöhnliches produziere›, erklärt die Londoner Fotografin Martha Boxley. ‹Ich bin immer ganz aufgeregt, wenn ich Bilder zum ersten Mal sehe, sei es in Form von Polaroids, auf Film oder Negativen. Ausserdem ist die Leidenschaft der Leute, die ich fotografiere, ein wichtiger Inhalt meiner Bilder. Ohne Leidenschaft wäre das Leben ohne Inhalt.› Die jüdische Fotografin hat ein befreundetes Pärchen mit ihrer Kamera besucht und dabei ein intimes und einfühlsames Porträt einer romantischen Beziehung zweier nicht-orthodoxer Juden festgehalten. Die Grenzen zwischen Tradition, Religion und ihrer Liebe begannen dabei langsam zu verwischen ... – S. 96

‹Ich will Journalist werden›, sagte Marius und seine Deutschlehrerin verzog das Gesicht. Das war vor neun Jahren. Seitdem arbeitete der heute 24-Jährige als Hausmeister in Freiburg, studierte in Basel Soziologie und in Helsinki Kommunikation. Er probierte viel und ackerte hart, doch die Früchte seiner Arbeit blieben klein und sauer. Da merkte er: Monokultur bringt es nicht, und begann sich selbst fortan als Multitalent zu verstehen. Seither ist Marius freier Autor, angehender Werbetexter und aufstrebender Designer. Für kinki flog Marius von Holleben nach Liberia und traf dort seinen alten Schulfreund Johannes Mainhardt. – S. 58

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ich bin zu blöd um genug wasser zu kochen für eine GANZE tasse tee. das kann ja heiter werden... dschieses | wenn man denkt es kann nicht noch schlimmer werden, sieht man plötzlich fotos von dieser nacht und man merkt: doch es kann noch schlimmer werden. nickname | die mauer ist zu klein, die klagen zu gross... kläger | bauchschmerzen wegen überdosis gummibärchen birdphöni | schnee hat die tolle eigenschaft, den ganzen mist, der im letzten halben jahr produziert wurde, zu überdecken. jim | in barcelona ohne geld in den taschen an topshop vorbeizulaufen Iwannagoback | oh mein gott! wer hat webcams erfunden! wegen diesem blöden idiot sitze ich jetzt frustriert im büro, weil ich nicht nur die frisch gezuckerten berge durchs fenster sehen kann, sondern auch noch frisch preparierte pisten mittels webcam. Vielen dank auch!! es ist ja nicht so, dass ich fast sterben würde oder? ichwillskifahren | Zu viel Vintage, zu wenig Geld! Ach London... ninainLondon | woll-hand-schuhe-knie-socken-winter-jacken-schal-zeit. kurz: jetzt. lola | Was nervt dich? - Baustelle Sauchälti - Jetläg vom letschte Weekend - De Mike Shiva - Quizshows - Am Morgä ufstah - Kater - Und das hüt ersch Zischtig isch Züri Bueb | das macbook nicht wollen ausschalten - es öffnet mir doch sooo viele neue und faszinierende türen. und morgen früh heissts dann wiedr - hallo AUGENRINGE! damn ringelsocke | während dem ich das hier schreibe, ertönt aus meinem pc ein komisches geräusch......NEIIIIN! futsch | sehr hübsche Journalisten. Ich habe während dem Interview nur so tolle sachen wie ‹äh, also..., ja, mhmm, keine ahnung, also das weiss ich jetzt leider grad nicht,...› gesagt. ODfu | ok.. wie viele kilometer sitze ich entfernt von zu hause?- 800. und wieso verfolgen mich dann immernoch die gleichen üblen gedanken wie dort?hele | heutzutage brauchen die menschen keinen winterspeck mehr. die eiszeit ist vorbeiiiii... Aber mein Körper will das nicht kapieren!! mamuut | wenn ich mal wieder einen besonders lustigen Scherz vom Stapel lasse, und ich nicht merke, dass der Chef im Moment überhaupt nicht zum Scherzen aufgelegt ist. Wie kann man bloss so blöd sein!! Warum halte ich nich einfach mein blödes Maul. Leo | Die empörten Blicke anderer Mütter, wenn ich mit meiner kleinen schwester beim spielplatz auftauche. (‹Brigitte, schau Teenager-mutter, *flüsterflüster*›) junossake | 1.‹gehts dir gut?› 2.‹jaja› *lassmichsofortinruhe* 1.‹ich denke aber, es geht dir nicht so gut› 2. *SEIRUUUUUUUUHIIG* ‹mir gehts ganz prächtig, danke› 1. ‹das würdest du aber auch sagen, wenn es nicht so wäre, hab ich recht?› 2. *ohmeingottichmussihntöten* 1. ‹hey?› 2. ‹schluchz, wein, schluck, zitter› *ESGEHTMIRDOCHGUT!* warumkannichmeinegefühlenichtverbergenMENSCH | kinki neuzeit

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Loving me. Loving you. Photography: Viviane Sassen kinki kunst

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wortlaut das 10 minuten interview

Daniel Wirtberg: ‹Damit du in einem Ballon abheben kannst, musst du Gewicht abwerfen.› Interview kinki magazine: Der Festival-Start von ‹Song of Tomorrow› in Locarno war wohl eine grosse Überraschung? Daniel Wirtberg: Ich plante etwas Grosses mit dem Film, weil er anders ist als alles, was ich bisher realisiert habe. Dass es gleich ein grosses A-Festival wie Locarno sein würde, überraschte mich aber schon ziemlich. Was macht den Film in deinen Augen speziell? Die Geschichte ist sehr schräg und wurde mit Handkameras gedreht, was den Film fast dokumentarisch erscheinen lässt. Die beiden Hauptdarsteller sind Laienschauspieler und hatten viel Raum für Improvisationen. Viele Leute empfanden den Film als sehr lebensnah und echt. Andere waren vom Stil eher gelangweilt, weil er wie ein Amateur-Film daherkommt.

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en 27-jährigen Daniel Wirtberg aus Schweden hatte ich vor zwei Jahren an einem KurzfilmFestival in der Nähe von Barcelona kennengelernt, wo sein Kurzfilm ‹Kärleksbarn› im Programm lief. Jetzt, nur zwei Jahre später, entdecke ich seinen Namen im Programm ‹Filmmakers of the Present Competition› des Internationalen Filmfestivals Locarno. 1946 gegründet, gehört Locarno zu den 13 besten Filmfestivals weltweit, die jedes Jahr neue Talente entdecken und prämieren. ‹Song of Tomorrow› (im Original ‹Framtidens melodi›) heisst der Film von Jonas Bergergård und Jonas Holmström, und ist der erste Spielfilm, den Daniel kinki wortlaut

Der Film wurde mit einem Kurzfilm-Budget produziert. Warum das? Die beiden Regisseure realisierten bereits Kurzfilme zusammen und gewannen einen wichtigen Preis am Göteborg International Film Festival. Das Preisgeld war als Subvention für einen neuen Kurzfilm gedacht. Doch dann wurde das Projekt immer grösser und schlussendlich wurde daraus der erste Spielfilm von Jonas und Jonas.

Wirtberg produziert hat. Der Film porträtiert zwei gesellschaftliche Aussenseiter: Stig Manner kauft und verkauft Dinge auf Flohmärkten und managt sein Leben von Tag zu Tag, während sein Freund Janos als Wandersänger frei von allen Zwängen der Gesellschaft zu leben versucht. Stig ernennt sich kurzerhand zu Janos neuem Manager, der ihn als neues Talent gross rausbringen will. Ich traf Daniel in Locarno unweit der Piazza Grande bei einem Birra und wollte wissen, wie man es in diesem zarten Alter in das Programm eines A-Festivals schafft und ob er seine Leidenschaft für den Film eher als Regisseur oder als Produzent ausleben kann.

Du arbeitest selbst als Regisseur. Wie kam es dazu, dass du jetzt auch Filme produzierst? Ich produzierte alle meine Filme selbst. Eines Tages habe ich begriffen: Ich bin ja auch ein Produzent. So habe ich begonnen, Projekte meiner Freunde als Produzent zu unterstützen. Eins führte zum anderen und dann habe ich die Produktionsfirma Daemon Film gegründet. 30

Was bedeutet Leidenschaft für dich? Die Leidenschaft liegt für mich im Filmemachen. Wenn ich merke, dass ein Projekt Potential hat, entwickle ich eine grosse Leidenschaft dafür. Dann ist sie von Anfang an da, egal ob ich als Regisseur oder Produzent daran arbeite. Es geht mir nicht um verkaufte Tickets, ich muss es einfach tun. So geht es auch den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite. Eine Testfrage, die ich uns allen stelle, lautet: Würdest du das alles machen, auch wenn du nichts dabei verdienst? Das Wort Leidenschaft beinhaltet auch ‹Leiden›. Wie verhält es sich als Filmemacher mit dieser Mischung? Bis vor Kurzem realisierte ich nur Kurzfilme, doch jetzt merke ich, dass mein Lebensziel das Filmemachen ist. Ich weiss, dass ich dafür auch Opfer bringen muss. Damit du in einem Ballon abheben kannst, musst du auch Gewicht abwerfen. Ich habe mich gegen einen gut bezahlten Job, Freizeit mit Freunden und Familie entschieden ... Was ist dein Ziel? Ich will mich als Regisseur weiterentwickeln und grössere Projekte umsetzen. Gleichzeitig möchte ich weiterhin auch als Produzent in Filme involviert werden. Es ist schön, Regisseuren zu helfen, Filme auf die Leinwand zu bringen. In Locarno zu sein, war ein grosser Traum und zeigt mir, was noch alles möglich ist. Es ist der Anfang einer grossen Entdeckungsreise. Text und Interview: Cathrin Michael Foto: Benjamin Goss


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Von Nymphen und Satyrn

Wenn sich alles nur noch um das Eine dreht und nicht mehr der Kopf, sondern der Schritt die Entscheidungen f채llt, nehmen viele Sexs체chtige Hilfe in Anspruch. kinki report

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Sex ist die schönste Nebensache der Welt und das Sahnehäubchen auf jeder Liebesbeziehung. Doch manchmal verwandelt sich das grösste Vergnügen schnell in das grösste Leiden und die schönste Nebensache wird zur quälenden Hauptsache. Ein Besuch bei den Anonymen Sexaholikern. Text: Peter Rösch, Illustration: Frank Höhne

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atzteil für Satzteil rollen die Wörter mit kleinen Pausen den Bildschirm herab wie Verse. ‹Hallo, mein Name ist Tim* und ich bin sexsüchtig. Dies ist mein zweites Meeting und ich weiss immer noch nicht, ob ich tief in meinem Innern überhaupt geheilt werden möchte, obgleich ich schon so oft versucht habe aufzuhören. Ich muss aufhören, das Internet zum Sex zu gebrauchen und ich muss aufhören, zu Gewaltfantasien zu masturbieren. Ich tue das nun fast schon seit 50 Jahren und kann morgens kaum noch in den Spiegel schauen, so wenig Selbstachtung ist mir geblieben.› So sieht einer der sehr persönlichen Beiträge des internationalen Onlinemeetings der ‹Anonymen Sex- und Liebessüchtigen› aus, das Betroffenen die Möglichkeit bietet, in der Gemeinschaft offen über ihre Probleme zu sprechen. Oft sind solche Selbsthilfegruppen der Ort, in dem die Sexsüchtigen überhaupt das erste Mal über ihre Obsession sprechen, da sie sich nur hier, im Kreise von Menschen, die alle an ähnlichen Verhaltensmustern leiden, vor Unverständnis und Ausgrenzung geschützt fühlen. Psychotherapeuten schätzen, dass etwa fünf Prozent der Bevölkerung von dem Phänomen Sexsucht betroffen sind, wobei es bei Männern häufiger auftauchen soll als bei Frauen. Das Problem daran ist allerdings, dass Diagnosen wie ‹Sexsucht›, ‹Erotomanie› oder ‹Hypersexualität› innerhalb der Psychiatrie eher umstritten sind und daher keine anerkannte Definition vorliegt. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass es nie eine allgemeingültige Antwort auf die Frage geben kann, wann die ‹sexuelle Normalität› überschritten ist und der pathologische Bereich beginnt. Wie oft ist es okay zu masturbieren, wie viel Sex ist noch gesund? Ist Transvestismus ein Hobby, eine Krankheit, ein Verbrechen oder gar eine Sünde? Die Antworten auf diese Fragen können je nachdem, in welchem Kulturkreis und welchem Elternhaus man aufgewachsen ist, sehr unterschiedlich ausfallen. Für die beiden grossen Organisationen, die Betroffenen weltweit Hilfe anbieten, sind solche Kategorisierungen derweil gar nicht so wichtig. Wer nämlich zu den Anonymen Sex- und Liebessüchtigen oder den Anonymen Sexaho-

likern kommt, definiert sein Problem und damit das Verhaltensmuster, von dem er loskommen möchte, selbst. Elli berichtet etwa im Chat, dass sie immer wieder der quälenden Versuchung erlege, wildfremde Menschen anzurufen, um sie in Gespräche über Sex zu verwickeln. Dagegen erzählt Tom in einem der zahlreichen Lebensberichte, die in Büchern oder Newslettern anderen Süchtigen zugänglich gemacht werden, wie er davon besessen war, immer wieder einen Slip seiner Mutter anzuziehen und dann zu onanieren, wobei ihn nach jedem Orgasmus Schuldgefühle und Gewissensbisse plagten.

Soziale Ausgrenzung

Obgleich das Leiden also sehr unterschiedliche Ausformungen annehmen kann, erkennen sich die Mitglieder der in Anlehnung an die Anonymen Alkoholiker Ende der 70er-Jahre in den USA gegründeten Selbsthilfegruppen meist in den individuellen Geschichten ihrer Genossen wieder, da die Grundstruktur in aller Regel identisch ist. Wie bei anderen Süchten stellt sich bei zunehmender Häufigkeit des Konsums schnell ein abnehmender Befriedigungswert ein. Bei John ging das sogar so weit, dass er irgendwann an einen Punkt kam, wo er nur noch ejakulierte, ohne jegliche Befriedigung zu verspüren, wie er im Chat erzählt. Gleichzeitig entgleitet das süchtige Verhalten immer mehr dem Betroffenen, der den Zwang kaum noch zu kontrollieren vermag. ‹Jedes Mal schwor ich mir aufs Neue, endgültig aufzuhören›, heisst es in Dans Lebensbericht, ‹und jedes Mal brach ich meinen Schwur aufs Neue und musste dabei zusehen, wie ich allmählich meine Frau, meine Kinder, meine Arbeit und mein Haus verlor.› Solche Beispiele zeigen, dass die Betroffenen nicht nur an vielleicht etwas zu streng ausgeprägten moralischen Vorstellungen leiden, sondern häufig durch die Unfähigkeit, den sexuellen Drang zu kontrollieren, auch in soziale Isolation geraten. ‹Ich habe viele Freundinnen verloren, weil ich ihnen immer wieder ihre Männer ausspannte oder mit ihnen flirtete›, erzählt zum Beispiel Sarah. Um der sozialen Ausgrenzung zu entgehen, versuchen die ‹Sexjunkies› ihre Sucht vor anderen zu verbergen und führen so ein Doppelleben, das vor allem für Verheira33

tete wie etwa Jane zur Zerreissprobe wird: Jane liess schliesslich sogar ihr Kind abtreiben, ohne ihrem Mann etwas sagen zu können, da sie vermutete, er sei nicht der Vater.

Quälender Zwiespalt

Weitere negative Folgen der Sucht betreffen neben dem Privat- und Berufsleben vor allem die Gesundheit. Die unkontrollierten und häufigen sexuellen Kontakte mit schnell wechselnden Partnern, die nicht selten aus dem Rotlichtmilieu stammen, erhöhen das Risiko gegenüber Aids und anderen Infektionskrankheiten drastisch. Kathrin meint, dass sie selbst, nachdem man ihr die Diagnose ‹Syphilis› gestellt hatte, lange Zeit nicht von ihrer Sucht lassen konnte. ‹Ich zog mich immer noch verführerisch an und flirtete viel›, berichtet sie. ‹Wenn sich ein Mann dann an mich heranmachte, konnte ich ihn einfach nicht abweisen. Ich war vollkommen unfähig, nein zu sagen.› Alle diese Beispiele verdeutlichen die Gespaltenheit, in der sich Sexsüchtige befinden. Ständig flüstert ihnen ein kleines Teufelchen ein Verlangen ins linke Ohr, das das Engelchen im rechten Ohr aufs Heftigste verurteilt. Bei ihnen scheinen die beiden Teile unserer Identität, nämlich die Sexualität auf der einen und unsere Wertvorstellungen auf der anderen Seite, in unüberwindbarem Widerspruch zueinander zu stehen. Dadurch, dass sie immer wieder gegen ihre eigenen Prinzipien verstossen, leiden die meisten Sexsüchtigen an Selbstverachtung, die sich bis zur Suizidgefährdung steigern kann. Der Drang nach dem immer stärkeren Kick und nach immer mehr Tabubrüchen entfremdet die Betroffenen irgendwann so sehr, dass sie sich vor sich selber ekeln. An diesen Punkt kam auch Alonso: ‹Zuerst verbrachte ich Stunden damit, mich in lesbischen Chatrooms als Frau auszugeben und eine Partnerin zum Cybersex zu finden. Irgendwann war ich dann aber so tief gesunken, dass ich Pornos brauchte, in denen Frauen mit Toten oder Behinderten mit fehlenden Gliedmassen Sex hatten. Zu diesem Zeitpunkt masturbierte ich zwar mehrmals täglich, schlief aber schon seit über zwei Jahren nicht mehr mit meiner Frau›, erinnert sich Alonso mit beeindruckender Ehrlichkeit an seine Vergangenheit. Meist sind es erst sol-


Überall und immer lauert die Versuchung …

che Tiefpunkte, die Süchtige überhaupt zum Eingeständnis ihres Problems und zur Suche nach Hilfe bewegen. Auch bei Maria dauerte es lange, bis sie erkannte, dass die Diskrepanz zwischen dem, wer sie sein wollte, und dem, wer sie war, zu gross geworden war, wie sie berichtet: ‹Innerhalb eines Jahres war ich zum zweiten Mal verheiratet, diesmal mit einem Mann, der auch sexsüchtig war. Ich wurde zur aktiven Prostituierten. Abends erzählte ich meinem Mann von meinem Arbeitstag und er onanierte dabei. Manchmal hatten wir auch Gruppensex. Dies alles hätte ich aber ertragen können, wenn nicht eines Tages die schrecklichsten Fantasien in meinem Kopf ausgebrochen wären: ich begehrte meine eigene kleine Tochter! Da wusste ich, dass ich etwas ändern musste, koste es, was es wolle.› Sobald ein Mensch so weit ist, für sein Problem Hilfe in Anspruch zu nehmen, stehen ihm neben medizinischem Beistand durch Psychiater, Psychotherapeuten oder Psychoanalysten auch Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Sexaholiker zur Verfügung. Diese werden ähnlich wie ihr grosses Vorbild, die Anonymen Alkoholiker, allein von Süchtigen betreut, die bereits mindestens drei Monate von ihrem jeweiligen Verhaltensmuster abstinent sind. Das Programm umfasst den regelmässigen Besuch von Meetings, die Betreuung durch ‹Sponsoren› sowie die eigenständige Arbeit in den sogenannten 12 Schritten. Die Meetings geben den Mitgliedern die Möglichkeit, sich über ihre Probleme auszusprechen sowie Anteil an den Problemen anderer zu nehmen. Kommentare, kinki report

Kritik oder Diskussionen sind dabei untersagt, so dass eine Atmosphäre der tabulosen Offenheit und radikalen Ehrlichkeit geschaffen wird. Beschlossen werden die Meetings in aller Regel mit dem bekannten ‹Serenity Prayer›, dem Gelassenheitsgebet: ‹Gott, gebe mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine von dem anderen zu unterscheiden. Dein Wille, nicht meiner, geschehe.› Die sich hier äussernde Spiritualität, die nach Angaben der Organisationen vielen Mitgliedern dabei hilft, der Sucht zu entsagen, ist jedoch nicht konfessionell gebunden, so dass das Programm Menschen jeder Religionszugehörigkeit offen steht.

Entzugserscheinungen

Neben der Enttabuisierung, die die Offenheit in den Meetings leistet, erleichtert die dort aufgebaute Bindung an die Gemeinschaft auch die Einhaltung der Abstinenz, da sich der Süchtige gegenüber der Gruppe gewissermassen verpflichtet fühlt. Darüber hinaus ist die Betreuung durch Mentoren üblich, die dem Betroffenen durch Rat und Tat individuell zur Seite stehen sollen. Diese sogenannten ‹Sponsoren›, die alle selbst Erfahrungen mit Sexsucht gesammelt haben, unterstützen die ihnen anvertrauten Menschen ausserdem bei der Arbeit in den ‹12 Schritten›, die Anweisungen beinhalten, welche bei der Suche und dem Erhalt der Abstinenz helfen können. Zwei dieser Schritte fordern beispielsweise dazu auf, ‹eine gründliche und furchtlose Inventur im eigenen Inneren zu ma34

chen› bzw. ‹eine Liste aller Personen zu erstellen, denen man Schaden zugefügt hat, sowie bereit zu sein, ihn bei allen wieder gutzumachen›. Durch dieses Engagement in den Selbsthilfegruppen lernen viele Menschen in einem sehr langwierigen, auch von Entzugserscheinungen begleiteten Prozess, dem Drang zur Sucht nicht mehr nachzugeben. Endgültig zu stillen ist er dadurch aber nicht. ‹Sich der Illusion hinzugeben, man wäre von der Sucht befreit, kann sehr gefährlich sein›, meint André. ‹Man begibt sich dann nur allzu leicht in gefährliche Situationen und wird rückfällig.› Auch Walter gesteht im Chat, dass er sich noch nach Jahren der Abstinenz nur schwer beherrschen kann, wenn ihn eine Frau auf eine bestimmte Art und Weise anblickt und ihm das Gefühl vermittelt, dass sie ihn begehrt. ‹Mich dann überhaupt zu kontrollieren, gelingt mir nur, indem ich anfange, innerlich zu beten›, sagt er. Besonders persönliche Krisen stellen ‹cleane Süchtige› auf eine harte Probe. Dies hängt mit der Struktur der Sucht zusammen, die Wissenschaftler als Flucht vor der Realität beschreiben. Sie sehen die kurzweilige Ichlosigkeit und Entrückung im Rausch als den eigentlichen Gewinn der Droge Sex. Bei Konfrontationen mit Schicksalsschlägen, die die Diskrepanz zwischen der in der Fantasie aufgebauten Parallelwelt und der Wirklichkeit besonders spürbar machen, ist der Drang zur Flucht in den Rausch daher besonders gross. So ging es auch Mark immer wieder: ‹Als ich etwa vom Tod meines Vaters erfuhr, ging ich sofort mit meiner Frau ins Bett. Sie wusste, wenn es eine Möglichkeit gab, mich zu beruhigen, wenn ich aufgeregt war, dann die, mit mir zu schlafen. Es wirkte immer wie ein Betäubungsmittel für meinen Schmerz.› Der Verzicht auf dieses sexuelle Narkotikum stürzt den Süchtigen daher meist in ein tiefes emotionales Chaos, wie es Philipp schildert: ‹Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich während meines Entzugs viele, viele Male weinte und heulte wie ein verwundetes Tier. Ich lag dabei lange im Wohnzimmer auf dem Boden, hämmerte mit den Fäusten auf den Teppich und rief dann Freunde an. Sobald sie den Hörer abnahmen und antworteten, fing ich einfach an zu brüllen. Unkontrolliert zu brüllen. Diese Gefühle von Wut und Trauer waren für mich beinahe unerträglich.› Martin berichtet, dass er erst nach einem solchen Bad der Gefühle in der Lage war, Liebe zu empfinden, die er zuvor immer mit Sex verwechselt habe. Erst während des Entzugs begann er, in seinen Partnerinnen und Partnern mehr zu sehen als blosse Sexualobjekte: ‹Ich musste mir eingestehen, dass ich mir nie Gedanken gemacht hatte, wer die Menschen, mit denen ich schlief, eigentlich waren.› * Alle Namen wurden von der Redaktion geändert. Weitere Info findest du unter slaa.de und as-schweiz.ch.


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‚Gott im Himmel, dann mach es doch selbst!›

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Mitten im Nirgendwo hat der Amerikaner Leonard Knight mit seinem Salvation Mountain Gott im Schweisse seines Angesichts ein buntes Denkmal errichtet, das mehr Besucher zu sich lockt als manche Gotische Kirche. Liliane Lerch und Julian Salinas besuchten Knight am Fusse seines Lebenswerks. Text: Liliane Lerch, Fotos: Julian Salinas

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5 Grad Celsius Aussentemperatur, warnt mein Auto, bevor ich aussteige. Auch wenn man wie ich in der Wüste wohnt, überfällt einen die August­ hitze immer wieder wie eine heisse Wolldecke, in der man sich verheddert hat. Wie klug es ist, Leonard Knight und seinen Salvation Moun­ tain an einem Tag im August zu besuchen, sei dahin gestellt, aber hier bin ich nun mal. Und aussteigen muss ich trotz der Hitze sofort, als ich sein in 26 Jahren gebautes Lebenswerk zu Gottes Ehren sehe. Ich habe über Salvation Mountain gelesen, ich habe Bilder gesehen und ich habe ihn in Filmen gesehen – und trotz­ dem: Die Grösse und das Wissen, dass diese unendlich grosse Skulptur von einem einzigen Mann ohne Mittel, ohne jegliches Fachwissen, aber mit Glaube und Obsession gebaut wurde, ist überwältigend. Leonard Knight ist bald 80 Jahre alt und lebt hier immer noch ohne Elek­ trizität und fliessendes Wasser. Auch heute baut er, führt Besucher herum, spricht mit Freun­ den, so wie er das Tag für Tag macht, in der Sommerhitze sowie im eisigen Wüstenwinter. 1984 hatte es Leonard Knight in einem Heissluftballon nach Niland, Kalifornien, ver­ schlagen. Um ganz genau zu sein, war es die Idee zu einem Heissluftballon, aber dazu später mehr. Niland liegt im Niemandsland zwischen der unweiten mexikanischen Grenze und dem Salton Sea, einem riesigen Gewässer, das kinki report

sich 1901 mitten in der Wüste gebildet hat, als man mit Wasser vom Colorado River die Landwirtschaft des Imperial Valley bewässern wollte. Die gebauten Kanäle vermochten nicht standzuhalten, brachen und fast das gesamte Flusswasser ergoss sich ins Imperial Valley und bildete den heutigen Salton Sea. Versuche, den künstlichen See zu einer glamourösen Ri­ viera mit Jachthäfen und luxuriösen Hotels zu machen, sind geradezu majestätisch fehlge­ schlagen. Ausser Millionen von Vögeln, die den See zur Migration nutzen, bevölkern nur weni­ ge Seelen die Gegend, die man über alle Massen verherrlichen würde, beschriebe man sie als heruntergekommen.

‹Komm in mein Herz, ich bin ein Sünder.› Interessant ist sie allemal – der Dokumentar­ film ‹Plagues and Pleasures of the Salton Sea› zeichnet ein faszinierendes, anrührendes und amüsantes Bild des menschlichen Biotops rund um den Salton Sea. Auch Leonard Knight und sein Salvation Mountain sind Teil davon. Und wenn wir schon bei Filmen sind – auch in Sean Penns ‹Into the Wild› kommt das Gebirge vor. 38

Leonard Knight wurde 1931 als viertes von sechs Kindern in Burlington, Vermont, geboren. Dort gab es eine Farm, Gemüsegärten, Fruchtbäume, Kühe, Schweine und zuviel Arbeit für ein Kind. Mit 20 wurde er zum Korea­Krieg eingezogen. Die Aussicht, mehr von der Welt zu sehen, gefiel ihm. Der Krieg endete zehn Tage, nachdem er dort eintraf. Zurück in Vermont arbeitete er als Automechaniker. Später, 1967, pflückte er Äpfel, um sich das Geld für eine Reise zu seiner Schwester in San Diego zu verdienen. Sie rede­ te ohne Unterlass über Gott und schleppte ihn mit sich zur Kirche. Leonard mochte die Kirche nicht. Und er mochte Gott nicht. Und Jesus Christus, den mochte er auch nicht. Er rannte weg von seiner Schwester. Ausserhalb ihres Hauses – warum genau, kann er sich bis heute nicht erklären – hielt er plötzlich inne, setzte sich in seinen Wagen und wiederholte immerzu: Jesus Christus, komm in mein Herz, ich bin ein Sünder. Acht Mal. Zehn Mal. Unendliche Male. Hier, im Auto vor dem Haus seiner Schwester, hat er Gott in sein Herz aufgenommen. Damals war Leonard Knight 35 Jahre alt.

Vom Himmel her 1971 flog ein Heissluftballon über Burlington, Vermont. Leonard hörte ein Kind fragen, was die Schrift auf dem Ballon bedeute. Es war eine bekannte Biermarke. Das war der Moment, in dem Leonard wusste, dass er einen Heissluft­


Ein Wunderwerk aus Stroh, Lehm und 400 000 Liter Farbe. Gekittet mit der Leidenschaft eines einzigen Menschen.

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Der Salvation Mountain soll vor allem von oben betrachtet werden. Doch auch irdische Besucher sind willkommen.

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ballon zu Ehren Gottes steigen lassen wollte. Aber weder Kirchen noch private Sponso­ ren wollten ihm dabei helfen. So einfach sei Lobpreisung nun auch wieder nicht, sagten die Kirchen. Fast zehn Jahre hat Leonard an der Idee festgehalten und für den Ballon gebetet. 1980 traf er in Nebraska nach einer Autopan­ ne auf den Besitzer eines Schrottplatzes, der ihm weiterhalf. Der Mann kontaktierte eine Heissluftballon­Firma, die ihm Ballonseidenres­ te billig überliess. Leonard nähte die Stücke in drei Jahren zusammen. Aber der Ballon wurde viel zu gross: 60 Meter hoch und 30 Meter breit. Der aus Metallresten zusammengebaute Brenner vermochte die benötigte Leistung nicht zu erbringen. Leonard gab trotzdem nicht auf. Drei Monate lang versuchte er den Ballon zum Abheben zu bewegen, von 3 bis 9 Uhr morgens. Dann kam meist Wind auf und machte den Versuch zunichte. Nach drei Monaten versuchte Leonard sein Glück mit dem Ballon in Niland, Kalifornien. Zu diesem Zeitpunkt war der Ballon so mitgenommen, dass er auseinander fiel. Doch Leonard gab nicht auf. Er versprach Gott, ihm innerhalb von ein paar Wochen einen klei­ nen, 2 Meter grossen Ballon zu bauen. Aus dem kleinen Ballon wurde ebenfalls nichts. Also fing Leonard 1984 an, aus Zement und Metallresten ein kleines Monument zu

‹Gott, ich habe versucht, Leonard von Deinem Werk fernzuhalten, der ist eindeutig im Weg.› errichten, bevor er weiterziehen würde. Aus ein paar Tagen wurden Wochen, aus Wochen Jahre. Er häufte Fundgegenstände zu einem Berg auf, füllte sie mit Sand auf und pflasterte das Ganze mit Zement zusammen. Und weil Zement schwer zu finden war, mischte er Sand bei, zuviel Sand wie sich nach vier Jahren he­ rausstellen würde. Er bemalte das Ganze mit Farbe, die er im Abfall fand, und pinselte seine Gottesbotschaften auf den Berg. Mit der Zeit sprach sich Leonards Hingabe herum, und im­ mer mehr Leute kamen und brachten Materiali­ en und Farben vorbei. 1989 bildete sich erst ein Riss und bald krachte der ganze Berg zusammen. Alles, worüber Leonard sich Sorgen mach­ te, war, dass sich jemand hätte verletzen kön­ nen. ‹Allmächtiger Gott, dann bau den Berg doch selber!› habe er zu Gott gesagt, lacht Leonard. ‹Erst der Ballon, der nie geflogen ist, nun der Berg, der zusammengebrochen ist – Gott, ich habe versucht, Leonard von Deinem Werk fernzuhalten, der ist eindeutig im Weg. Bitte stell sicher, dass der sich nicht einmischt, sonst geht’s wieder schief.› Gott hörte wohl auf ihn: in den nächsten fünf Jahren baute Leonard den Berg wieder auf, diesmal mit neuer Technik: Strohballen, Lehm und Farbe als Kitt. Immer bekannter wurde sein Salvation Mountain, weit über Niland hinaus. 41

Religiöse Insignie oder Nationalgut? 1994 kam die nächste Hürde. Diesmal war es nicht die Statik, sondern der Staat. Dieser hatte beschlossen, das ehemalige Marine Camp aus dem Zweiten Weltkrieg, das genau hinter Leonards Berg lag und von dem nur noch die Betonfundamente übrig geblieben waren, zu einem öffentlichen Campground zu machen und für dessen Benutzung Geld zu verlangen. Slab City, wie das ehemalige Marine Camp mittlerweile hiess, wurde eh meist von Leuten benutzt, die nirgendwo Steuern bezahlten. Oder von Snowbirds aus dem Norden – Leute, die den strengen Wintern im hohen Norden in der kalifornischen Sonne entgehen wollen. Das einzige Problem: Salvation Mountain. Auf Re ­ gierungsgeländen sind religiöse Insignien verboten. Also musste der Berg weg. Offizielle Stellen versuchten mit einer Studie zu bewei­ sen, dass Leonards Berg aufgrund der verwen­ deten Farben toxisch sei. Knight liess eine Ge­ genstudie machen, die das Gegenteil bewies. Die Kontroverse brachte Salvation Mountain ungeahnte Publizität ein, die involvierten Re­ gierungsstellen wurden immer frustrierter, bis sie schliesslich aufgaben. Leonards Wille, für seinen Berg bis zum letzten zu kämpfen, trug ihm den Sieg ein. Tausende Leute aus aller Welt haben Sal­ vation Mountain besichtigt, der mittlerweile auf die Fläche von fast drei Fussballfeldern an­ gewachsen ist. Leonard freut sich immer noch über jeden Besucher, auch wenn er fast taub ist und deshalb kaum hört, was die Leute sagen. Er sieht ihre bewundernden Blicke, das reicht. Viele helfen für eine Weile mit. Viele bringen Materialien. Seit rund zehn Jahren baut er kup­ pelartige Innenräume, Museen genannt. Äste oder ganze Bäume – echte und selbst konstru­ ierte – sind die tragenden Elemente. Konstrukti­ onspläne gibt es keine: es kommt wie es kommt und wie es zusammenhält. Alles ist dick be­ malt. Die hässlichen Farben, die er kriegt, ver­ wendet Leonard als Kitt und Grundierung, die schönen kommen obendrauf. 400 000 Liter Farbe dürften es bislang gewesen sein, schätzt er. Leonard ist bald achtzig Jahre alt. Immer noch arbeitet er jeden Tag an seinem Lebens­ werk. Gott und das Wissen um seine Bestim­ mung haben ihm ein erfülltes Leben gegeben, sagt er. Er schenkt mir stolz Salvation­Mountain­ Postkarten und Magnete für den Kühlschrank. Die habe jemand für ihn machen lassen. Und als mir einer seiner Freunde erklärt, dass es das Bestreben der kalifornischen Senatorin Barbara Boxer ist, Salvation Mountain offiziell zum Na­ tionalgut zu erklären, zwinkert er mir fröhlich zu. Denn das heisst, dass der Berg überleben wird, auch wenn Leonard Knight nicht mehr ist. Liliane Lerch ist freie Autorin und lebt seit zehn Jahren in Twentynine Palms in der Mojave Wüste, etwa zwei Stunden vom Salvation Mountain entfernt. Ihr Roman ‹Datura› erschien 2009 beim Atrium Verlag. Weitere Info findest du unter lilianelerch.com.


‹Erzählen lebt von der Unverwechselbarkeit der Person mit ihren Ecken und Kanten, und diese zu glätten, einem verbindlichen Standard anzugleichen, käme der Amputation eines Lebensnervs gleich.› Jürg Steigmeier

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The story told Es war einmal vor langer Zeit, als die Menschen noch keine Bücher, Radios oder Fernseher besassen, da zogen noch Geschichtenerzähler durch die Schweizer Bergtäler und erzählten den Menschen die Sagen, Legenden und Schwänke ihrer Zeit. Irgendwann wurden die Geschichten dann auf Papier und später auf Kassetten und CDs gebannt, die Bergtäler von Radio und Fernsehen überschwemmt und das Geschichtenerzählen wurde bald überflüssig. Heute, in einer Welt wo Schrift und elektronische Medien die ganze Palette der gängigen Kommunikationsmittel beherrschen, erlebt die mündliche Tradition ein Comeback. Und mit ihr auch die Träger und Bewahrer des gesprochenen Wortes: die Geschichtenerzähler. Text: Corina Bosshard, Fotos: Marvin Zilm

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a sitzen sie, die Zürcher, an diesem lauen Herbstabend, auf Kissen und Decken, im Schneidersitz oder aneinander gelehnt, in der Frauenbadi und nippen gedankenversunken an ihrem Rotwein oder Sprint. Den Blick haben sie konzentriert auf den Mann im schwarzen Anzug mit wildem Haar und weissem Bart gerichtet, der vorne auf dem Podium sitzt. Der Mann, der sich Timmermahn nennt, erzählt ihnen eine Geschichte. Seine sonore Bassstimme füllt das Seebad. Seine krausen Wortschöpfungen und Lautmalereien ziehen das Publikum in ihren Bann. Es ist, als ob die Protagonisten seiner Geschichte zum Leben erwachen, vom Papier aufstehen und durch das Publikum spazieren würden. Das ‹Märli am See› im Seebad Enge erfreut sich seit neun Jahren regen Zulaufs. Ein Insider tipp. Der Züritipp findet’s gut und ronorp empfiehlt, früh Tickets zu sichern. Märchenund Geschichtenerzähler sind angesagter denn je, erleben geradezu eine Renaissance. Heute macht man es modern, etwas aufgepeppt, an hippen bis schrägen Orten: in der Frauenbadi eben, im Kaufleuten oder im Mascotte. Und es zieht. Eine schon fast in Vergessenheit geratene Kunst erlebt ein Comeback. ‹Ich kann mir diese Faszination eigentlich auch nicht so richtig erklären. Wie ich mir nicht erklären kann, weshalb die Leute meine Bilder kaufen›, gesteht Timmermahn und fährt sich mit der Hand durch den Bart. Timmermahn lebt vom Verkauf seiner Bilder. Nicht nur Kunst-

maler, auch Geschichtenerzähler ist er aus Leidenschaft. Er sei eben ein Fabulierer, erzähle Geschichten, seit er denken könne. ‹Wir leben von der Spontaneität, dem Moment und der Unwiederbringlichkeit dessen, was wir erzählen. Ich denke, Geschichtenerzählen berührt die

‹Man kann nur erzählen, was man liebt, nein: wovon man besessen ist. Erzählen ist eine Passion.› Leute, weil es so etwas Ursprüngliches hat. Die Menschen haben sich schon immer Stories erzählt. Neu ist das ja nicht.› Wer weiss, an welchem Feuer auf welchem Kontinent die Menschen die Langeweile entdeckten und einen Weg zu ihrer Vertreibung fanden, indem sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen reflektierten, ihnen einen Rahmen gaben, das Lustige, Lehrreiche, Frivole oder Dramatische daran hervorhoben und Reales mit ihrer Fantasie verflochten. Früher wurde zu jedem denkbaren Anlass erzählt: an dunklen Winterabenden, während eintöniger Arbeiten oder auf langen Wegen zur Arbeit. Erzählung und Gesang wechselten ab, griffen ineinander. Es waren immer nur einige wenige, die offensichtlich so etwas wie Talent zum Erzählen besassen. Sie hatten je nach ihrem Temperament, ihrer Begabung und ihren Interessen ihr eigenes Repertoire und waren für ihre Kunst berühmt-berüchtigt. Das gespro43

chene Wort kannte damals keinen Besitzer, die Geschichten wurden weitergegeben, wanderten von Mund zu Mund, befanden sich in einem steten Wandlungsprozess. Im Zeitalter der fortschreitenden Technik fing man an, Geschichten zu konservieren; sie in Bücher, auf Tonträger und Zelluloid zu bannen. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es jede Menge sammelwütiger Volkskundler wie die Brüder Grimm, die in den damals überall erzählten Geschichten und Sagen so etwas wie ein Kulturgut zu entdecken glaubten. Vor lauter Anstrengung, die Geschichten durch das Aufschreiben vor dem Vergessen zu bewahren, geriet die ursprüngliche Situation, in der sie erzählt wurden, zunehmend in Vergessenheit. Im frühen 20. Jahrhundert folgten Film und Radio und bald darauf das Fernsehen. Mit der ‹Gilde der Schweizer Geschichtenerzähler› war es damit endgültig vorbei. 1920 legte der letzte Schweizer Meistererzähler – ein Wanderschuster namens Barba Plasch aus dem Engadin, wo das Erzählen eine lange Tradition hatte, seine Kunst nieder und wurde aufs Alter hin Bauer. Jetzt schreiben wir das Jahr 2010. Jürg Steigmeier steht unter einer Linde in Zug. Um ihn hat sich im Kreis ein Grüppchen geschart. Steigmeier sitzt der Schalk nicht nur im Nacken, er funkelt den Zuhörern regelrecht aus seinen dunklen Augen entgegen. Er erzählt ihnen vom Lindwurm, von der Schlangenkönigin und von Vrenelis Gärtli. Vom Glauben der Bergvölker, dass die Menschenseelen nach dem Tod in den


‹Die Sehnsucht nach dem lebendigen Gegenüber bleibt in der Medienwelt vielfach ungestillt. Der Mensch als Vermittler imaginärer Welten bleibt unersetzbar.› Timmermahn

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Gletscher wandern und die Hebammen die Neugeborenen wieder aus den Gletscherspalten holen. Und von Frau Holle, die in kalten Winternächten mit ihrer Schar toter und ungeborener Kinderseelen von den Bergen hinunter in die Täler zieht. Dabei stampft er mal, dann fuchtelt er mit den Armen, reisst eine Fratze, singt wieder ein paar Zeilen, verändert innert Sekundenbruchteilen seinen Gesichtsausdruck, wird ernst, setzt sich hin und fixiert einen seiner Zuhörer, als spreche er nur zu ihm. ‹Geschichten schleifen sich durchs Erzählen ab, werden runder, wie Kieselsteine in einem Fluss›, sagt Steigmeier. ‹Bei meinen Geschichten glaubt man mir schon fast wieder, dass sie mir einmal mündlich überliefert wurden.› Der gelernte Kindergärtner ist zur Zeit der einzige professionelle Geschichtenerzähler der Deutschschweiz. Er erzählt schon seit gut 15 Jahren und hat sich ein Repertoire von über hundert alten, fast vergessenen Schweizer Sagen, Legenden und Märchen erarbeitet. Er betreibt Recherche, wühlt in Büchern vom Brockenhaus nach Material, übersetzt die Geschichten vom Schriftdeutschen in Mundart und übt und repetiert sie mehrere Stunden am Tag. ‹Ich erzähle den Menschen gerne Geschichten, die ihnen ihre Wurzeln aufzeigen; Wurzeln, die auch der modernste Mensch noch in sich trägt. Diese Geschichten leben in uns drin, über Generationen wurden sie uns weitergegeben. Ob wir sie kennen oder nicht, wir fühlen sie.› Und nach einer kurzen Denkpause fügt er hinzu: ‹Diese Geschichten bringst du einfach zum Klingen in den Leuten drin. Manchen schlägst du richtiggehend ein Loch in die Kindheit.› Geschichten zu hören ist ganz anders als alle modernen Formen des Entertainments. Für einmal sind da keine Buchstaben und keine Leinwand, keine Mattscheibe, kein Lautsprecher und kein Touchscreen. Da ist ein lebendiges Gegenüber aus Fleisch und Blut, das uns volle Aufmerksamkeit abverlangt, geradezu eine Reaktion von uns fordert und uns eine menschliche Urfähigkeit entfalten lässt, die in der heutigen Medienflut oft wenig Nahrung findet: die Fantasie. Ein durch und durch intimes Medium. Als ob wieder jemand bei uns auf der Bettkante sitzen würde. Manche Zuhörer seien emotional überfordert, denken ‹Scheisse, der erzählt mir jetzt wirklich ein Märli› und kämen aus dem verlegenen Kichern nicht mehr raus, erzählt Steigmeier.

Zwischen Welten

Als ‹Märlionkel› will Steigmeier auf keinen Fall bezeichnet werden. ‹Märlionkel oder -tanten sind für mich Leute, die mit Leidenschaft den Märchenschatz der Brüder Grimm pflegen›, erklärt er. ‹Und – jetzt kommt es – sie erzählen dabei nicht «ihre» Fassung des Märchens, sondern lernen die Grimmsche Fassung Wort für Wort auswendig und geben sie genau so wieder.› Nur so kommt ihrer Meinung nach der reine und wahre Gehalt der Märchen zum Tragen. Die Grimm-Anhänger sind überzeugt, dass Märchen stets einen stark psychologischen Gehalt haben, dass sie Abbilder menschlichen Fühlens und Erlebens sind. Um auf die

‹Wahrheit, Weisheit und Schönheit› des Märchengutes aufmerksam zu machen und um die Märchenforschung zu fördern, haben diese Leute bereits 1956 ihren Verein gegründet: die Europäische Märchengesellschaft. 1993 folgte der Schweizer Ableger, die Schweizer Märchengesellschaft. Die SMG hat heute immerhin mehr als 400 Mitglieder, vom Akademiker bis zum Praktiker. In diesen Kreisen trifft man sich zu Märchen-Tagungen, Märchen- Kongressen und man lässt sich in Seminaren zum ‹professionellen Märchenerzähler› ausbilden. Vor allem von Frauen wird dieses Angebot heute rege genutzt. ‹Die anthroposophische bis militante GrimmEcke›, spöttelt Steigmeier. Ihr Stil widerspricht dem seinem und wohl auch dem historischen Bild des Geschichtenerzählers. Unter den ‹Märlionkeln› sind die Geschichtenerzähler, was die Jazzer unter den klassischen Musikern sind. Ein Geschichtenerzähler liest nicht und er rezitiert nicht. Erzählen heisst, eine Geschichte ins Leben rufen, zwar ohne Bühnenbild oder Requisiten, aber mit allen Möglichkeiten der Stimme, Mimik und Gestik. Und es heisst: Auf den Moment und das Gegenüber zugehen, reagieren können. ‹Wir sagen immer, wir machen keine Lesung, aber wir machen auch kein Theater, wir proklamieren die dritte Linie, das Erzählen dazwischen. Dieses wollen wir als eigene Kunstform verstanden wissen.›

Wiederentdecktes Erbe

Mit dieser Kunstform steht Steigemeier – wie bereits erwähnt – in der Deutschschweiz noch relativ einsam da. Anders sieht es bei seinen Kollegen im Ausland aus: In Deutschland gibt es bereits mehrere professionelle Erzähler und viele Erzählfestivals. In Grossbritannien ist die Storytelling-Szene seit den 80ern eine starke und wachsende Untergrundbewegung. Die stärkste Erzählszene in Europa besitzt Frankreich. Dort ist das Erzählen eine vom Staat anerkannte und geförderte Kunstform. Die französischsprachige Erzählszene erlebte in den letzten zwanzig Jahren eine regelrechte Blüte. Das hat vermutlich auch mit den nordafrikanischen Immigranten zu tun, welche die orientalische Erzählkultur, die sich in ihrer Heimat noch länger erhalten hat, im Gepäck mit nach Frankreich brachten. Es verwundert daher nicht, dass auch die Schweizer Erzählszene ennet dem Röstigraben aktiver ist. Neben verschiedenen Erzählfestivals gibt es in Fribourg seit einigen Jahren sogar ein ‹Storyteller Museum›, dessen Mission es ist, das Geschichtenerzählen zu fördern und zu verbreiten. ‹Ein völlig neues Museumskonzept, ein Museum, das Geschichten erzählt›, erklärt Museumsdirektor André Dembinski. Das Museum biete eine multidisziplinäre Plattform für Wissenschaftler und Forscher – von Ethnologen bis zu Historikern und Sprachforschern – aber auch für Praktiker, die sich mit dem Erzählen oder der ‹oralen Tradition›, wie Dembinski sich ausdrückt, befassen. Ziel des Museums ist es, eine Verbindung zu schaffen zwischen der Kunst des Erzählens, den wissenschaftlichen Forschungsansätzen zur oralen Tradition und 45

der breiten Öffentlichkeit. Dazu organisiert das Museum Ausstellungen in Einkaufspassagen, Ateliers und das grösste Erzählfestival der Schweiz ‹Il était une fois›. Einen weiteren wichtigen Auftrag des Mu seums sieht Dembinski auch in der Erhaltung von immateriellem Schweizer Kulturgut: ‹Wir folgen da ganz dem Auftrag, den sich die Schweiz mit der Ratifikation der Unseco Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes gegeben hat.› Die Erzähltradition soll wieder aufleben und kommenden Generationen erhalten bleiben. Dem Schweizer Sagenund Märchenschatz, der zwischen Buchdeckeln erstarrt und verkrustet ist, will man wieder neues Leben einhauchen. Nicht nur in den Kulturwissenschaften ist die Wiederentdeckung der Erzählkunst ein Thema. In den 80er-Jahren entwickelte sich das Erzählen in der pädagogischen Szene zu einem Renner und auch in der Psychotherapie wird auf die Methode zurückgegriffen. Und inzwischen hat selbst die Wirtschaft die Lunte gerochen und entdeckt, dass sich Geschichten prima eignen, um in die Köpfe und Herzen der Kundschaft zu gelangen. Spannende Geschichten bleiben besser im Gedächtis als trockene Zahlen und Fakten. Wer Geschichten über Erfolge und Gewinne erzählt, gewinnt Mitarbeiter und Kunden. Storytelling heisst das Zauberwort heute – im Wissensmanagement, in der Organisationsentwicklung, im Marketing, im Branding. Storytelling im Risikomanagement, Storytelling zur Stärkung von ‹High Performance Teams›, Storytelling zur Unterstützung von ‹Change›-Prozessen. Da stehen sie nun, die Geschichtenerzähler im Angesicht der Fülle von historisch idealisierenden, volkskundlichen oder pseudowissenschaftlichen Auffassungen ihres Metiers: Bewahrer immateriellen Kulturgutes, Grenzgänger zwischen Kunst und Alltag, zwischen Lesung und Theater, anthroposophisch angehauchte Märlifreaks, Vorbilder der modernen Unternehmenskommunikation, Gegenspieler der auf Schriftlichkeit fixierten Kommunikationsgesellschaft. Vielleicht bringt sie gerade die Menge dieser unterschiedlichen Auffassungen dazu, das Erzählen als das zu beschreiben, was es eigentlich immer nur war und auch in Zukunft bleiben wird: einfach eine kulturelle Tätigkeit zwischen ein paar Menschen, die zu nichts mehr dienen soll als zum Vergnügen. ‹Ich finde Lachen ja nach wie vor etwas ungemein Lustiges›, gesteht Timmermahn. ‹Ich erzähle daher einfach gern lustige Geschichten und find’s schön, wenn ich die Leute zum Lachen bringe.› Steigmeier sieht das ähnlich: ‹Wenn ich ihnen einen Schauer über den Rücken jage, wenn die Luft vor Spannung knistert, wenn ich sehe, dass die Vordersten Tränen in den Augen haben, dann sind das magische Momente. Dann weiss ich: Ich mache meine Arbeit gut.› Weitere Info findest du unter erzaehler.ch, timmermahn.ch und storytellermuseum.com.


Deliah, 21, Studentin und Beat, 24, Künstler, beide in Wollmänteln. Natürlich vintage …

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standleitung die streetworkerin

Kreativ und depressiv? Eine Discounthotline verspricht Hilfe. Was niemand weiss: Sie führt direkt in ein indisches Callcenter. Dort sitzt Rajiv Ratra und hört anderen Menschen zu. Zum Beispiel Rahel Reichen. Sie hat diesen Herbst nur ein Ziel, nämlich sich endlich von einem Streetfashion-Blogger erwischen zu lassen … Text: Laurence Thio und Tin Fischer, Illustration: Patric Sandri

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st hier die Hotline für depressive Kreative? fragt die Stimme, als Rajiv den Anruf entgegennimmt. Ich wollte nur sagen, dass ich’s aufgebe. Es hat keinen Zweck mehr. Oha, denkt sich Rajiv. Das hier scheint eine Herausforderung zu werden. – Wie kann ich Ihnen helfen? fragt er. – Alles habe ich schon probiert, klagt Rahel. Den Petticoat, den alten Barbour-Mantel mit dem cognacfarbenen Lederrock und den Kimono mit den Sneakers – alles! Rajiv ist irritiert: – Sie finden nicht die richtigen Kleider? – Kleider?! faucht Rahel ihn an. Ich arbeite seit Tagen auf der Strasse. Es geht hier nicht um Kleider! Ich bin ein Mannequin – ein Gesamtkunstwerk, fügt Rahel an. Wir tragen Visionen! Rahel macht eine Kunstpause, das war gut: Mannequin klingt würdiger als Model, Gesamtkunstwerk besser als Auftragsfotografie. Rajiv, an sich unmodisch, sitzt in kariertem Hemd, einer verwaschenen Jeans mit Hosenträgern über dem Pullover am Arbeitsplatz und fragt vorsichtig: - Ihr Laufsteg ist die Strasse? Rahel setzt ein helles, zustimmendes Lachen auf, das etwas übertrieben wirkt. - Ja, ich stehe kurz vor dem Durchbruch. Aber der Fotograf boykottiert mich. - Wer? - Der Fotograf von ‹Stil an der Sihl›. Rajiv googelt und findet besagten Fashionfotoblog. Er sieht junge Menschen, sie stehen entrückt in Städten herum. Alle schauen sehr ernst: Sie tragen ‹wasted slim jeans› oder ausgetragene Pluderhosen, zu grosse T-Shirts, gebrauchte Schuhe. Vieles sieht nach dem Griff in die Oma-Kiste aus, findet Rajiv. Unter den Fotos stehen englische Beschreibungen wie ‹Aya, 21, artist. Damir Doma coat, Prada top, Givenchy shirt›. - Ich muss da rein! Es ist überlebenswichtig. - Was tragen Sie denn? - Ich dachte schon, Sie fragen nie! antwortet Rahel schnippisch. Ich trage einen kamelfarbenen Kaschmirschal von Acne, eine kurze Lederhose von American Retro und dazu die Schuhe, die ich in Amsterdam gefunden habe. Das ganze kombiniert mit einer Pünktchenbluse von Cha-

nel mit roten Erdbeerknöpfen und Puffärmeln – natürlich vintage. Dann noch den Nagellack 423 von Dior, den hab ich exklusiv von der Nagellack-Preview. – Aha. Rajiv ist beeindruckt. Wie berät man in Modedingen, wenn man überhaupt keine Ahnung von Mode hat? - Was versprechen Sie sich davon, in dem Blog zu erscheinen? fragt er vorsichtig. - Ruhm! Kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. Die Models, die entdeckt werden, kriegen oft Verträge mit kleinen Berliner Labels und dürfen dann öfter laufen. Ausserdem ist es authentischer. Es ist bedeutsamer! - Haben Sie es nicht auch anders probiert? - Also früher habe ich bei H&M gearbeitet. Aber dann kam diese Sache mit meiner Kollektion, die ich mit ins Sortiment geschmuggelt hatte. Das kam nicht so gut an. Jedenfalls habe ich jetzt diese Stelle in dieser Wäscherei, was eigentlich besser, ein Schritt näher hin zur Mode ist. Es haben ja auch alle grossen Modemacher in Wäschereien angefangen. Kennen Sie Armani?

‹Armani hat in einer Wäscherei angefangen?› fragt Rajiv verwundert. – Natürlich nicht! Aber er hat klein angefangen. So wie ich hier. Oje, da kommt er! – Wer kommt? ruft Rajiv. Hallo? Keine Antwort. – Armani kommt? Hallo? Sind Sie noch da? Können Sie mich hören? Aber da meldet sich Rahel auch schon wieder. – Von wegen Armani, Sie haben doch keine Ahnung. Der ist in Italien, faucht ihn Rahel an. Der Fotograf natürlich! – Sie verfolgen ihn? Rahel scheint jetzt im Stechschritt zu gehen. Sie atmet lautstark durch das Telefon. Aber seltsamer als der Atem ist das Geräusch im Hintergrund. – Was raschelt hier denn so? fragt Rajiv verwundert. Sind Sie im Wald? – Wenn Sie es genau wissen wollen: Das ist 47

mein Kleid. Herbstkollektion. Ich bin jetzt dreimal an ihm vorbei gelaufen. Er ignoriert mich! Das kann doch gar nicht sein. – Wieso sprechen Sie ihn nicht einfach an? – Pah! Blumen werden gepflückt, sie pflücken sich nicht selbst. Sie verstehen echt nichts von Mode! Rajiv seufzt. – Werden Sie von den anderen Passanten angestarrt? – Und wie! Wir sind zwar viele. Aber an der Sihl bin ich eigentlich schon eine Ikone! – Hm. Können Sie überhaupt noch normal gekleidet vor die Tür gehen, wenn die Strasse Ihr Laufsteg ist? – Normal?! Nein, selbst wenn ich zum Bäcker gehe oder den Müll rausbringe, stelle ich natürlich ein Outfit zusammen. Aber genug gequatscht: Ich brauche eine neue Idee! Können Sie mich beraten? Rajiv seufzt. Er hat absolute keine Ahnung. Er versucht es allgemein: – Mode ist ein hartes Geschäft. Seien Sie radikal! – Aha. Na vielen Dank auch, sagt Rahel und legt auf. Sie klang eher nachdenklich als enttäuscht. Einige Tag später besucht Rajiv den Blog noch einmal. Er sieht ein Foto, das mit ‹Rahel, Modeverarbeiterin, 22› untertitelt ist. Doch zu sehen ist kaum etwas, ausser einer pinken Burka vor einem alten Gemäuer. Vor dem Gesicht ein Stoffnetz. Radikal, aber noch viel radikaler als gedacht, denn die Burka endet knapp unter dem Bauchnabel. Darunter Hotpants, nackte, grazile Beine in Stöckelschuhen. Mit Pünktchen. Rajiv kann es nicht genau sehen, aber er glaubt, unter der Burka ein Lächeln zu erspähen. Unser indischer Freund Rajiv Ratra ist ein wahres Multitalent: Als Berater einer Baumarkt-Hotline und Telefonseelsorger kümmert er sich gleichermassen um defekte Möbel und Menschen. Den kinki Lesern bietet er dabei monatlich einen kleinen Einblick in seinen Berufsalltag.


Der $ 5000 Schuss Fotografie: Nicolas Silberfaden









querschläger alles, ausser angepasst

Valentin Landmanns Leben ähnelt in vielerlei Hinsicht einem Krimi. Er selbst spielt darin die Rolle des Anwalts und sieht sich als Vermittler zwischen gutbürgerlichen und zwischenweltlichen Kreisen. Text: Rainer Brenner, Foto: Daniel Tischler

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s gibt nichts unangenehmeres, als den ganzen Tag durch eine dreckige Brille blicken zu müssen. Man versucht vergebens, die Gläser an Kleiderstücken sauber zu wischen und verteilt dabei die eigentlich kleinen Dreckpartikel zu einem schmierigen Film, der schlussendlich die ganze Sicht vernebelt. Dementsprechend schwer fällt es mir an diesem Montagmorgen, einen klaren Blick auf Valentin Landmann zu werfen, als ich sein Büro im Zürcher Kreis 6 betrete. Landmann, der als Anwalt der Hells Angels und Autor diverser Bücher, in denen er das Wesen der kriminellen Energie halbweltlicher Strukturen zu erfassen versucht, seit einigen Jahren nicht nur vor Gericht, sondern auch in den Medien einen festen Platz gefunden hat, sieht sich selbst als ‹Vertreter von Lebenszeit›, was er mit einem glitzernden Totenkopf an seiner Gürtelschlaufe auch äusserlich zum Ausdruck zu bringen versucht. Doch trotz seiner ‹Verbindungen› zur Halbwelt der nahegelegenen Langstrasse wirkt Landmanns Kanzlei nicht anders, als man es sich von einem Anwalt erwartet: In raumübergreifenden USM-Regalen stehen zu voll gestopfte Ordner neben diversen Büchern mit Titeln, die selten weniger als 20 Worte umfassen. Auf dem Glastisch steht schon fünf Minuten nach Ankunft der Kaffee bereit und im Bad steht nebst zwei verschiedenen Arten von Flüssigseife auch eine Flasche Sterilium in Reih und Glied neben dem Waschbecken. Landmann spricht wirklich so sanft und bedacht, wie man es aus seinen Interviews kennt, wenn er über Sinn und Zweck von Verboten, das Böse, die Psychoanalyse als Gefahr und das Streben nach Freiheit, welches seiner Meinung nach seine scheinbar nur Motorrad fahrenden Klienten so gut symbolisieren, reflektiert. Und sein Dialekt lässt sich auch nach einer Stunde Gespräch kinki querschläger

so schlecht verorten wie am Anfang. Immer wieder untersuche ich seine dünnen Brillengläser nach allfälligen Flecken und Abdrücken. Ich bin mir nämlich sicher, dass auch er dieses Problem kennt …

Interview kinki magazine: Sind Sie ein leidenschaftlicher Mensch, Herr Landmann? Valentin Landmann: Nun, ich bin ein leidenschaftlicher Anwalt, ich gehe gerne vor Gericht. Das ist für mich wie für den Chirurgen der Operationssaal. Wenn man wie ich von diesem Beruf begeistert ist und auch die Begegnung mit den ‹fremden Welten› schätzt, sollte man meiner Meinung nach bereit sein, an die Front zu gehen.

Man kennt Sie eigentlich nur von der Verteidigerbank her. Wieso? Grundsätzlich mache ich natürlich beides. Aber es stimmt schon, dass ich öfter Verteidigungen als Opfervertretungen mache. Es ist allerdings wichtig, beide Seiten zu kennen, man muss sich in beide Seiten hineinversetzen können.

führt› wird. Meiner Meinung nach darf langer Freiheitsentzug als Massnahme erst dann ausgesprochen werden, wenn man davon ausgehen muss, dass es wieder zu einer Eskalation kommen wird. Wir alle haben vielleicht Neigungen in uns, die in ausgelebter Form eine Straftat wären.

Inszenieren Sie sich gerne selbst? Das gehört in gewisser Weise dazu. Wer sich selbst einbringen möchte, der muss auch etwas von sich preisgeben. Ich fürchte auch die Öffentlichkeit und ihre Kritik nicht, ich denke, das ist sogar wichtig, auch wenn auf der anderen Seite ein Richter natürlich nicht irgendwelchen ‹Modeströmungen› folgen sollte.

Wie steht es denn um die Todesstrafe? Vor nicht allzu langer Zeit wurde diese Diskussion hierzulande ziemlich hitzig diskutiert. Ich persönlich bin ein ganz klarer Gegner der Todesstrafe. Sie wurde in der Menschheitsgeschichte immer wieder falsch angewendet. Ausserdem ist für mich eine ‹richtige› Anwendung kaum vorstellbar. Das ist aber natürlich eine moralische Frage.

Nicht nur um Schuld und Unschuld, sondern auch um die Art der Bestrafung werden gerne öffentliche Diskussionen geführt. Sollte Strafe eine gesellschaftliche oder eine erzieherische Massnahme sein? Es gibt beides. Einerseits gibt es Massnahmen, die eine Rückführung in die Gesellschaft bezwecken. Das ist in vielen Fällen auch durchaus möglich. Schwierig wird es dort, wo eine Neigung sehr verwurzelt und nicht unter Kontrolle zu bringen ist. Solange jemand rational seine Taten beurteilen kann, ist der Zugang ziemlich gut. Wir beide – mit einigermassen normalen Neigungen ausgestattet – wissen, dass wir eine Frau, die wir kennenlernen, nicht gleich überfallen dürfen. Dazu musste man in uns aber nicht unsere Leidenschaft abtöten, sondern uns zeigen, wie man mit einer Neigung oder Leidenschaft in unserer Gesellschaft umzugehen hat. Es gibt natürlich Neigungen, die das Gesetz per se nicht erlaubt, daher dürfen sie nicht ausgelebt werden. Der Staat darf allerdings nur dann eingreifen, wenn die Neigung ‹ausge-

Was bereitet Ihnen denn die grösste Lust, Herr Landmann? Mal ganz abgesehen von sexuellen Vorlieben. Natürlich gutes Essen oder Ausgang, Bekannte, aber beruflich vor allem, wenn etwas gelingt. Wie Hannibal Smith vom A-Team? Ja, er hat auch ein glattes Team, so wie ich (lacht). Sie scheinen ja auch ein gewisses Flair für leidenschaftliche Fälle zu haben. Leidenschaft ist in uns Menschen ganz tief verankert. Wer keine Leidenschaft empfinden kann, dem fehlt etwas. Allerdings können eben diese Leidenschaften auch zu Delikten führen. Das nachzuvollziehen, ist interessant. Aber es ist nicht so, dass diese bekannten Fälle grundsätzlich interessanter wären als andere. Leidenschaftlichkeit findet sich überall, selbst in Wirtschaftsdelikten. Auch Gier ist eine Leidenschaft, selbst wenn das auf den ersten Blick vielleicht nicht so scheint. 56

Darf man denn über so etwas wie die Todesstrafe überhaupt demokratisch abstimmen? Wieso nicht? Abstimmen darf man über alles. Natürlich spielen hier wieder Emotionen und Leidenschaften mit, doch ich bin der Meinung, dass die Bevölkerung nicht so einfach verführbar ist, wie man das manchmal darstellt. Ausserdem sollte das die Bevölkerung entscheiden, nicht irgendein Politiker. Ich meine, dass gerade bei so grundsätzlichen Fragen der Bürger genau so überlegt handelt wie der Politiker. Wie steht es um Ihre persönlichen Schranken zur Kriminalität? Unterschiedlich. Ich hoffe immer, dass sie halten werden. Doch das ist immer nur ein Hoffen … Valentin Landmann lebt und arbeitet in Zürich. Er ist kein guter Autofahrer und auch sein Können auf zweirädrigen Fahrzeugen hält sich in Grenzen. Sein Vorteil: Er weiss es selbst.


‹Leidenschaftlichkeit findet sich überall, selbst in Wirtschaftsdelikten.›

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Herr Mainhardt, der Dollar und das Gl체ck Johannes Mainhardt arbeitete nach seinem Abitur f체r die Deutsche Bank in Frankfurt. Unzufrieden mit seinen Zukunftsperspektiven, heuerte der 26-J채hrige bei einer international t채tigen Consulting-Firma an und zieht seither als leidenschaftlicher Banken-Missionar durch die Pampa. Zum Beispiel in Liberia, wo unser Autor Marius von Holleben sich mit ihm am Flughafen verabredete. Text: Marius von Holleben, Illustration: Christoph Ohanian

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Geld regiert die Welt. Und fungiert gleichzeitig als Universalsprache.

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s ist viertel nach vier Uhr morgens, als die Boeing der Royal Air Maroc auf dem Roberts International Airport landet. Johannes steigt aus einem bulligen Isuzu Trooper und läuft in Richtung Empfang. ‹Willkommen in der Finsternis›, begrüsst er mich lachend. Vor acht Wochen ist er in Liberia, dem westafrikanischen Problemstaat, angekommen. Wir fahren vom Flughafen über unbeleuchtete Pisten quer durch den dunklen Busch nach Monrovia. Die Stadt verdankt ihren Beinamen ‹City Of Darkness› dem hier fehlenden Elektrizitätsnetz. Für insgesamt zwei Jahre wird Johannes hier leben und arbeiten, seine Karriere vorantreiben und neue Erfahrungen sammeln – 5 000 Kilometer entfernt von seinem alten Leben. Ivan Ivanovitch Mainhardt, der Vater, kam 1988 das erste Mal nach Deutschland. Von Hamburg über Kiel bis runter an die Grenze zur Schweiz bereiste der Kaufmann aus Kasachstan das Land seiner Ahnen. Der Russlanddeutsche war auf der Suche nach Frieden und einer neuen Heimat. In Kasachstan, wo die Familie Mainhardt noch vor dem Ersten Weltkrieg sesshaft geworden war, bedrohten fundamentalistische Muslime deren Existenz. 1993 schickte Ivan Johannes’ Grosseltern mit dem Flugzeug nach Rostock. Dort kamen sie bei Verwandten unter. Zwei Jahre später folgte der Rest der Familie. Mit 5 000 Mark und vier grossen Koffern reisten sie per Zug nach Moskau und von dort mit dem Flugzeug weiter nach Osnabrück. In Achern, nahe Offenburg, fand der Vater Arbeit.

Einige Jahre später wurde ein Haus gebaut, die Familie war angekommen. Voller Stolz erzählt der Vater noch heute die Geschichte des Neuanfangs. 2005 machte Johannes das Abitur und kaufte sich einen gebrauchten BMW. Alles lief wie geplant, Studium der Betriebswirtschaftslehre in Mannheim, begleitende Ausbildung bei der Deutschen Bank in Frankfurt und Freiburg. Nach drei Jahren schien die Festanstellung sicher. Er hoffte auf einen Job im Ausland. Russland war sein Traum. Aber Ende 2009 erreicht die globale Finanzkrise auch die Realwirtschaft. Bei der Deutschen Bank wird ein sofortiger Einstellungsstopp verhängt und Johannes soll ins nationale Privatkundengeschäft übersiedeln. Kleinkundenbetreuung statt Rubel-Roulette, er lehnt enttäuscht ab. Den vermeintlichen Karriereknick nutzt er zur Neuorientierung und antwortet spontan auf eine Onlineanzeige der LFS Consulting GmbH aus Berlin. Es werden ‹junge, abenteuerlustige Menschen für den Aufbau von Mikrokreditbanken rund um den Globus› gesucht. Nach einem Vorstellungsgespräch bei Thomas Engelhardt, einem der LFS Gründer, hat er den Job. Wenige Tage später sitzt er schon im Flugzeug nach Aserbaidschan. Während des sechsmonatigen Traineeships in Baku wird Johannes in die globale ‹Expat›Gemeinschaft eingeführt, das heisst in die Riege derer, die von ihrem Arbeitgeber ins Ausland entsandt werden. Er trifft Mitarbeiter der Weltbank und Topmanager von BP, spricht mit Diplomaten und Botschaftern und ist fasziniert von 59

deren Leben. Hier wollte er immer hin, in das geheime Innere der Weltmaschine. Doch nur vier Wochen vor Ende seines Traineeships wird sein Visum überraschenderweise nicht verlängert. Über Umwege muss er nach Georgien ausreisen und bei einem befreundeten Diplomaten untertauchen, bevor er einige Tage später nach Deutschland reisen darf.

Neuland

Spätestens seit Muhammad Yunus für die Arbeit seiner Grameen Bank 2006 den Friedensnobelpreis überreicht bekam, boomt der Mikrokreditmarkt. Mikrokredite reichen von einem bis 1 000 Euro und werden überwiegend an Kleingewerbetreibende in Entwicklungsländern vergeben. Bereits 1997 gründeten Dr. Bernd Zattler zusammen mit Dan Balke und Thomas Engelhardt die LFS Consulting in Berlin. Als reine Consulting Firma beriet die LFS Banken auf ihrem Weg in den Mikrofinanzbereich. 2006 wurde dann die Access Microfinance Holding AG gegründet. Die ehemaligen Berater stiegen mit Unterstützung von namhaften Shareholdern wie der Europäischen Investment Bank selbst in das noch junge Geschäft ein. AccessMikrokreditbanken öffneten von Aserbaidschan bis Liberia Filialen und von dort kam im Sommer 2010 auch der Ruf nach neuen Mitarbeitern. Johannes hatte seinen nächsten Einsatz und seine Familie ein paar Sorgen mehr. Während Aserbaidschan für den in Kasachstan geborenen Deutschen noch ein Heimspiel gewesen war, bedeutete Liberia echtes Neuland.


Im Jahr 1822 war das heutige Liberia von der American Colonization Society für 300 USDollar gekauft worden, um dort ausgediente Sklaven anzusiedeln. Die ‹importierten› Afroamerikaner entwickelten sich zur herrschenden Klasse des Landes. Erst 1980 wagte der Liberianer Samuel K. Doe den Aufstand und liess den amtierenden Präsidenten William R. Tolbert erschiessen. Doe hielt sich neun Jahre an der Macht, bevor er 1989 selbst einem Putsch zum Opfer fiel. Es folgten 14 Jahre blutigen Bürgerkriegs. Dieser endete erst 2003 mit der Flucht des damaligen Präsidenten Charles Taylor.

SMEs, CEOs und BBQs

Drei Jahre später wurde Ellen JohnsonSirleaf zur neuen Präsidentin gewählt. Die 71Jährige ist die erste Frau an der Spitze eines afrikanischen Staats. Nach ihrem Wahlerfolg sprach sie bei der UN vor, holte Investoren ins Land und warb für Entwicklungskredite. Seitdem ist es ruhiger geworden, über den Berg ist der Patient allerdings noch lange nicht: Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 41 Jahre, 85 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos. Es gibt kein funktionierendes Elektrizitäts- oder Wassernetz, und die Finanzierung der dringend benötigten Infrastruktur wird das Land auf Jahrzehnte hinaus an ausländische Kreditgeber binden. Diese sicherten sich im Gegenzug nämlich Rechte an den Bodenschätzen. Unter der roten Erde im Norden des Landes lagern Eisenerze, Gold und Diamanten. Vor der Küste nahe der Grenze zu Sierra Leone wird Öl vermutet. Der Druck auf die Präsidentin wird wachsen und mit ihm die Notwendigkeit einer stabilen Wirtschaft. Bei einem Firmen-BBQ treffe ich Kim Günkel. Günkel ist CEO der Access Bank Liberia und Johannes’ neuer Chef. Bevor er bei der LFS Consulting anheuerte, arbeitete er für Daimler Chrysler in Berlin. ‹Als wir hier ankamen, gab es nichts. Die Bauarbeiten verliefen schleppend. Computer, Personal und Möbel für unsere erste Filiale mussten organisiert werden. Es herrschte Chaos›, erinnert er sich. Zwei Jahre sind seitdem vergangen und Mitte Oktober soll in Gardnersville die fünfte Filiale eröffnet werden. 230 Mitarbeiter betreuen über 20 000 Einzelkonten und 4 800 Kreditkunden. Seit Ende Juni gehört auch Johannes zum Team. Seinen 26. Geburtstag feierte er wenige Tage nach seiner Ankunft mit den neuen Kollegen. Die erste Woche in Monrovia verbrachte er im Hotel. Dann wurde ein Zimmer im ehemaligen Trainingszentrum der Bank frei. Wenn er auf seinem langen Balkon sitzt, sieht er auf die Niederlassungen der Weltbank, der UNICEF und der WHO. Seit Ende des Bürgerkriegs drängt ein regelrechtes Heer staatlicher und privater Hilfsorganisationen in das Land am nordatlantischen Ozean. Dementsprechend hoch sind die Mietpreise. Für ein Zimmer mit Bad und Klimaanlage sind je nach Lage zwischen 1 000 und 2 000 US-Dollar monatlich fällig. Das zweistöckige Haus ist von einer hohen Mauer und verrostetem Stacheldraht umgeben. Zwei liberianische Sicherheitsleute bewachen rund um die Uhr kinki report

die Einfahrt. ‹Am Anfang war es nicht einfach. Die grösste Umstellung war das extreme Klima und die Verschlossenheit, mit der viele Liberianer Ausländern begegnen›, erinnert sich Johannes. Trotzdem suchte er den direkten Kontakt. Er fuhr zu Händlern und Kleinunternehmern und verschaffte sich einen ersten Eindruck des lokalen Markts. ‹Man darf nicht scheu sein, keine Angst zeigen. Solange du freundlich, aber bestimmt bist, bekommst du die Informationen, die du brauchst.› Man hat das Gefühl mit einem alten Hasen zu sprechen; abgeklärt und voller Leidenschaft erzählt er von seinen Erfahrungen. Zielsicher lenkt er dabei seinen wuchtigen Jeep durch die Strassen der Stadt. Unvermittelt halten wir am Strassenrand vor einer heruntergekommenen Garage. Eine kleine Gasse führt in einen verlassenen Hinterhof. Vor einem dunklen Hausflur sitzen gelangweilt ein halbes Dutzend Männer. Als sie uns sehen, werden wir hereingewunken. Im Inneren ist es drückend heiss. Man sieht die Hand kaum vor Augen und es duftet nach frischem Brot. Johannes begrüsst einen jungen Liberianer und dreht sich dann zu mir: ‹Hier gibt’s das beste Brot der Stadt. Die Jungs backen was das Zeug hält und alles ist frisch.› Den Tipp hat er von einem Mitbewohner bekommen. Man hilft sich gegenseitig so gut es geht. ‹Ein Land wie Liberia lässt einem nicht viel Zeit, sich einzuleben. Viele Menschen kämpfen hier ums blanke Überleben, da musst du die Unsicherheit runterschlucken und deinen Job machen›, erklärt Johannes. Sein Job ist es, aus jungen Liberianern erfolgreiche Banker zu formen. Im neuen Headoffice in Sinkor, zehn Minuten ausserhalb der Stadt, soll bald das sogenannte SME Business anlaufen. SME steht für ‹small and medium-sized enterprises›, das heisst für Firmen mit einer komplexeren Organisation und mehr Mitarbeitern als das klassische Einmann-Mikrounternehmen. Wächst ein Kleinunternehmen stetig, wird es schliesslich zum mittelständischen Unternehmen, so die Theorie. Um diese erfolgreichen Kunden dann nicht an andere Banken zu verlieren, schulen Johannes Mainhardt und sein Kollege Pavel Wodz die zukünftigen SME-Kreditberater. Augustine, Oumaru und Pewee sitzen in steifen Kurzarmanzügen hinter ihren Schreibtischen und lauschen den Ausführungen der zwei weissen Männer aus Europa. Sie sind die Aufsteiger der Bank. Vor kurzem waren sie noch sogenannte ‹Loan Officer›, warben neue Kleinkreditkunden an und betreuten ihre eigenen Portfolios. Jetzt pauken sie sechs Tage die Woche im unterkühlten Konferenzraum der Hauptfiliale das kleine Einmaleins des SME-Geschäfts. Deutliche Aussprache und ein sicheres Auftreten werden ebenso geübt wie neue Kreditformen, Zinskalkulationen und Risikoanalysen. Nach der letzten Schulungseinheit fahre ich mit Johannes und Pavel zum nahe gelegenen Royal Hotel. Es wird über die Arbeit gesprochen, wie eigentlich immer. ‹Die wenigen Freunde, die man hat, wechseln ständig, Kontakt zu Einheimischen haben wir fast nur während der Arbeitszeit› − Pavel und Johannes klingen nachdenklich. Wir bestellen Sushi und trinken Bier. 60

Sie erzählen mir die Geschichte eines Kollegen, der auf Madagaskar eines Morgens tot vor seinem Haus gefunden wurde. Ermordet. Der Täter wurde schnell überführt, sein Motiv blieb aber unbekannt. Solche Geschichten hört man allerdings nur selten, positives Denken ist angesagt. Der offen zur Schau getragene Enthusiasmus vieler Expats ist auch Selbstschutz. Hinter der Abenteurerfassade verbergen sich Ängste und Sorgen. Liberia ist nicht Deutschland, Monrovia nicht Frankfurt. Es liegen Welten dazwischen. ‹T.I.A. − this is Africa›, zuckt Johannes mit den Schultern. Er bestellt die Rechnung und nimmt einen letzten grossen Schluck seines Club Biers.

‹Hier spürt man, dass man am Leben ist.› Letzte Woche hat er sich auf der Strasse zwei Hühner gekauft, fünf US-Dollar das Stück. Eines ist, kaum zu Hause angekommen, über die Mauer zu den Nachbarn der UN rüber geflogen. Es ahnte wohl, was kommen würde. Am Abend wurde dem anderen Tier nämlich die Kehle durchgeschnitten. Johannes kochte seine erste hausgemachte Hühnersuppe, ‹das war allemal so gut wie Kino›. Not macht erfinderisch und so sucht sich der Neu-Afrikaner eben alternative Arten der Freizeitbeschäftigung. Ende Dezember wird es ruhig werden in Monrovia. Die halbe Stadt reist zum Weihnachtsfest nach Hause. Vier Kollegen aus dem Management-Team verlassen Liberia Ende des Jahres sogar endgültig. Johannes wird hier bleiben. Der Weihnachtsurlaub wurde ihm aufgrund des personellen Umbruchs gestrichen. Auf der Fahrt zum Flughafen erzählt er mir von dem Jobangebot einer grossen deutschen Consulting-Firma – freie Standortwahl in Europa und eine Festanstellung versprach man ihm. Auf meine Nachfrage, ob er sich dafür interessiere, schüttelt er jedoch nur ablehnend den Kopf: ‹So einen Schreibtisch-Job kann ich auch noch machen, wenn ich alt bin.› Johannes steht erst am Anfang. Als nächstes möchte er nach Tansania, später vielleicht nach Südamerika. ‹Wenn du einmal dabei bist, kommst du nicht mehr so leicht davon los. Das ist wie eine Sucht, eine echte Leidenschaft. Hier spürt man, dass man am Leben ist.› Als wir uns verabschieden, bittet er mich noch, seine Eltern in Deutschland zu besuchen, ihnen die grössten Sorgen zu nehmen und ein bisschen von seinem neuen Leben zu erzählen. Die unschönen Sachen solle ich einfach aussparen, ermahnt er mich – Mama zuliebe. Dann schwingt er sich in seinen Trooper und startet den gewaltigen V6-Motor. Sekunden später verschwinden die Rücklichter des Autos in der Dunkelheit.



verhör essentielle alben für jede lebenslage

Liebe, Lust und Leidenschaft sowie das Streben nach diesen Gefühlszuständen sind seit jeher die Lieblingsthemen der Schönen Künste. Und natürlich untermalen auch diesen Monat diverse Barden vergangene und zukünftige emotionale Wallungen mit Instrumenten und Inbrunst. Dementsprechend aufwühlend gestaltet sich auch die allmonatliche Auswahl von Mathias Bartsch, der in seinen Reviews psychologisches Feingefühl geschickt mit offener Kritik zu verbinden weiss. Vollgetankt nach Babylonien

Bot’Ox – Babylon by Car Wo hört man Musik am besten? Klar, im Club oder Auto. Spätestens seit Kraftwerks Opus Magnum ‹Autobahn› ist das Thema Automobil in der elektronischen Musik mit Handbremse bis zum Dach geparkt. Die Herren von Bot’Ox, die Franzosen Julien Briffaz und Benjamin Boguet aka Cosmo Vitelli, liefern mit ‹Babylon by Car› nun eine avantgardistische Hommage an das Auto ab, die musikalisch nur selten von der Überholspur herunterkommt. Nervöse Synthieflächen treiben die Tracks von Ort zu Ort und Pinkelpausen sind für Loser. Dunkle Bässe und Flächen mit geloopten Sirenengeräuschen geben den Songs zwar die Richtung vor und lassen den Bezug zum Maschinenzeitalter schnell klar werden, doch Bot’Ox setzen oft genug beherzt den Blinker zum elektronischen Pop. Echte Borderliner sind am Werk, denn so richtig kann sich die Konzeptplatte zwischen Nostalgie und Modernität nicht entscheiden. ‹Postmodern› bleibt schlussendlich als scheinbar letzkinki verhör

gen Club in Nottingham betreibt. Überzeugte schon das erste Release (unter den midasverdächtigen Händen von Hercules & Love Affair entstanden), kommt nun eine nicht minder explosive Zusammenstellung in die Läden. Diesmal sind es die Draufgänger von La Roux, die Einblick in ihre musikalischen Passionen geben. Dass es dabei bunt bis noch bunter zugeht, versteht sich von selbst. Elly Jackson und Ben Langmaid zeichnen mit der Auswahl einen vibrierenden musikalischen RemixBogen, der noch nicht einmal für einen Nano Nap zwischendurch Zeit lässt. Künstler wie Heaven 17 oder die italo-diskoide Hally & Kongo Band stehen für Sternstunden des Synthipops der 1980erJahre, während Gerry Rafferty als zeitlose Folkreferenz herangezogen wird. Eine gute Balance finden La Roux auch in der Mischung aus Klassikern wie ‹I Second That Emotion› der Post-Punker von Japan oder ‹Suffer The Children› von Tears For Fears und eher raren Musikereignissen wie ‹Just One Look› von Doris Troy. Die originalen Tonspuren werden in den Remixen zum Glück nicht pulverisiert, sondern behutsam und mit Respekt von den Urhebern neu aufgebaut. Die Höhepunkte der tanzvergnügten Mix-CD stellen ohne Frage das Cover des RollingStones-Hits ‹Under My Thumb› und der verspielte Remix der aktuell schwer angesagten britischen Newcomer von I Blame Coco dar.

te Beschreibung für das ständige Switchen in den Zeiten und Musikstilen übrig. Jaja, ‹das Ende der grossen Erzählungen› ruft wahrscheinlich der eine oder andere Streber an dieser Stelle, doch so ganz geht die bekannte Gegenwartsdiagnose des Philosophen Lyotard hier nicht auf. Auch wenn Bot’Ox musikalisch keine zusammenhängende Story erzählen wollen, die Platte hält genau dieser stets spürbare Ansatz zusammen. Erschienen ist sie auf I’m a Cliché – praktisch, ist doch Bandmitglied Benjamin Boguet dadurch sein eigener Chef. Grossartig sind die Vocals auf der Platte, wenn auch spärlich gesät. Sowohl Mark Kerr in ‹Slow Burning› oder auch Anna Jean im ohne Frage besten Song ‹Blue Steel› lackieren die metallenen Tracks vollends zum ästhetischen Hochgenuss.

Nice Mix-Pack

La Roux – Sidetracked Unter den Remix-Compilations ist mit der Sidetracked-Reihe eine neue funkelnde Diskokugel aufgegangen. Herausgeber ist das Label Renaissance, das auch den allseits beliebten gleichnami62

Warrior Flash Dancers

Minitel Rose – Atlantique Raphael, Romain und Quentin. Drei unscheinbare Namen, die aber den Machern von Ed Banger aus Paris den Angstschweiss von der Stirn auf die Plattenteller tropfen lassen. Zu erfrischend, zu treibend sind die Disko-Tracks der Jungs auf dem neuen Album ‹Atlantique›, die zusammen das französische Trio Minitel Rose bilden. Beheimatet sind die Musiker im gerade durchstartenden Künstlerkollektiv Valerie aus Nantes. Ein kreativer Hot Spot in Frankreich, der mittlerweile in immer kürzeren Intervallen feinste Elektrokost in den Rest der Welt verschickt. Bands wie College, Anoraak, Maethelvin oder eben auch Minitel Rose produzieren hier und erobern mit ihrem Synthie-Pop die Clubs in TGV-Geschwindigkeit. Benannt hat sich die Band nach dem französischen Onlineservice Minitel, einem charmanten Vorläufer des Internets. Womit wir auch schon bei der Musik sind, denn natürlich sind die Songs in den 1980er-Jahren verortet. Nicht nur in der damaligen Musik, sondern auch in den damaligen Filmen – kurz um in der gan-


zen Kultur der damaligen Zeit. Alles klingt irgendwie nach TV-Serien mit Heather Locklear und man erwartet, dass gleich das Love Boat um die Ecke biegt. Melodien wie in der ersten Single ‹Wild Birds› sind dabei ein ständiger Trigger für den euphorischen Exzess in der Disko. Nicht ohne Grund standen in der RemixSchlange für den Song schnell Leute wie Thieves Like Us oder Human Life. Was Minitel Rose aber vor allem schafft, ist das Gefühl des Aufbruchs der damaligen Zeit wieder aufleben zu lassen. Die musikalische Zeitenwende, die der plötzlich einsetzende inflationäre Gebrauch des Keyboards einläutete. Bereits ihr Debüt ‹The French Machine› verkaufte sich über 10 000 Mal und mit ‹Atlantique› wird der Erfolg locker getoppt werden. Word up!

Zwischen Zeit und Proberaum

Zin – The Definition Für all die Abende, an denen ihr euch nicht zwischen Partygehen oder bluesigem Bier in der Küche entscheiden könnt, findet ihr bei Zin den passenden Soundtrack. Die Band hat mit ‹The Definition› eine Platte produziert, deren Stimmung ebenso schwer zu fassen ist. Melancholische Passagen wechseln sich mit tanzbaren Elementen ab und Sänger Iven Cole changiert mit seiner Stimme zwischen brüchiger Verletzbarkeit und wütenden Shouts. Okay, das allein ist jetzt kein Alleinstellungsmerkmal, dafür aber die untergründig brodelnde Stimmung der Platte. Musikalisch bewegen sich die vier Musiker zwischen Elektroklängen der Jetzt-Zeit und einem Dark-WaveSound der 80er-Jahre, der eigentlich keiner ist, denn dafür sind die Songs zu gitarrenlastig. Als Poster im Proberaum vermutet man bei Zin aber auf jeden Fall Bands wie Sneaker Pimps, Placebo oder leicht vergilbt schon Velvet Underground. Die Songs werden durch ein präsentes Drumspiel angetrieben und von ausladenden Synthieflächen eingefangen. Energetisch zuckt dazu eine straighte

Gitarre, die den Multi-TaskingSound komplettiert. Die auftürmende Intensität der Songs wird oft ‹just in time› zurückgenommen, doch die vielschichtigen Klanggebilde verlangen dem Zuhörer einiges ab. Man merkt, dass hier nicht 20-jährige Indieboys jammen, sondern gestandene Musiker mit veritablem Anspruch. Den Fanausweis mit der Nummer 1 hat sich übrigens bereits der erfolgreiche Maler Neo Rauch gesichert. Das Aushängeschild der international gefeierten ‹Neuen Leipziger Schule› steuerte das LP-Cover zu ‹The Definition› bei. Das surreale Bild passt, wirken doch die Songs, als wären sie erträumt und aus der Zeit gefallen.

Arrangements. Bisher trat Olivia Pedroli neben ihren Solokonzerten noch oft im Vorprogramm anderer Musiker auf, darunter Grössen wie Marianne Faithfull. Nach ‹The Den› sollte sie schon einmal das Casting für das eigene Konzert-Warm-Up planen.

Master of Rapsticks

Black Milk – Album Of The Year Fernab so mancher rappender Platin-Nasenscheidewand aus Detroit liefert uns Curtis Cross aka Black Milk eines der besten RapAlben in diesem Jahr. Der in Nuancen forsche Titel des Albums ist also gar nicht so falsch. Sein Faible für Drums ist ungebrochen, weshalb auf der Platte die Sticks wieder dominieren. Aber es bleibt genügend Platz für clevere Arrangements und verdammt gute Melodien in den zwölf Stücken. Gleich im Opener wird diese tighte Melange deutlich. Bläser wechseln sich druckvoll in der Führung des Rhythmus mit den Drums ab. Das erinnert stark an die grossartigen ersten Alben von N.E.R.D., als Pharrell noch nicht ins poppige Alter Ego Skateboy P. abdriftete. Black Milk arbeitet noch immer gern auch mit technischen Dingen wie einer MPC, um die Beats für die Stücke zu bauen. Vielleicht liegt es daran, dass der Sound den Namen Old School verdient und diese besondere Wärme ausstrahlt. Bestes Beispiel dafür ist der Über-Hit der Platte, ‹Deadly Medley›, auf dem auch die Reimemonster Royce Da 5'9" und Elzhi mitwirken. Der Song wird neben den grandiosen Lyrics von einer gebrochenen Gitarrenmelodie getragen, die einfach nur lovalicious ist. Solchen Tracks und wachsenden Aktivitäten als Produzent verdankt Black Milk den mittlerweile erreichten Status als legitimer Nachfolger des 2006 verstorbenen J Dilla. Mehr als eine Ehre für den erst 26-jährigen Musiker, immerhin wären die Fussstapfen der Sneakers des ehemaligen Detroiter HipHop-Patens für andere Rapper dieser Tage viel zu gross.

Musikalische Nahaufnahmen

Olivia Pedroli – The Den Unter ihrem früheren Künstlernamen Lole hat sich die Neuenburgerin Olivia Pedroli mit einer fragilen und experimentellen Folkmischung eine treue Fanschar weit über die Landesgrenzen erspielt. Jetzt erscheint mit ‹The Den› das erste Album unter ihrem bürgerlichen Namen und als Zuhörer bemerkt man sofort den Grund. Noch persönlicher, noch eindringlicher kann Musik kaum klingen. Ja, man zuckt zwischendurch sogar hin und wieder etwas zurück aufgrund des Übermasses an Intimität. Grazile analog und elektronisch eingespielte Klanggebilde plus die durchweg betörende Stimme der Westschweizerin. Americana, Smooth-Jazz, Folk-Pop – Olivia Pedroli scheint all diese Genrebezeichnungen lässig mit dem Bogen ihres Lieblingsinstruments, der Geige, wegzustreichen. Für das melancholische Werk arbeitete sie mit Valgeir Sigurdsson als Produzenten zusammen, der sich schon aufgrund seines Geburtsorts in Sachen fein ziselierter Schwermut bestens auskennt. Ob für Björk oder CocoRosie, der Isländer beweist seit langem sein Talent für sensible Musikproduktionen mit dem Hang zu dramatischen 63

Am Anfang war das Wort. Am Anfang war die Tat. Vergesst es: Am Anfang war die Musik! Und so hiess es für unseren ‹Reviewnator› Mathias Bartsch: Gefütterte Kopfhörer angelegt und auf zur Baumgrenze des Hörbaren! Monströse Plattenberge wurden erklommen, um mit neuen Musikern als Brüder im Geiste ins kuschelige kinki Basislager zurückzukehren. Freut euch also auf eine aktuelle PremiumAuswahl bester Schallereignisse!


lieblingslieder jedem das seine

Franz Treichler — The Young Gods 04:19

The Beatles – Come together

Einer meiner absoluten All Time Favorites. Ich denke, zu diesem Zeitpunkt waren die Beatles nahe an der Perfektion. Schwer zu sagen, warum genau. Die Definition des Grooves, der Duft des Blues, die scheinbare Einfachheit der Struktur und natürlich die Abstraktheit des Textes machen diesen Song beinahe perfekt.

04 : 57

Massive Attack – Paradise circus

Massive Attack wissen, wie man über das Seil balancieren muss, mysteriöse Stimmen mit Killer Grooves vermischt. In diesem Track hört man eine neue Stimme: Hope Sandoval, total aus ihrem üblichen Kontext gerissen. Sie war nämlich Sängerin von Mazzy Star, einer sehr interessanten amerikanischen Post-Country-Rock-Band. Seltsamerweise klingt das Stück, als ob sie schon immer ein Mitglied von Massive Attack gewesen wäre.

05:57

Pink Floyd – One of these days

F

ranz Treichler ist einer der Menschen, in deren Gesellschaft man sich sofort wohl fühlt. Er strahlt Ruhe und Gelassenheit aus und nimmt sein Gegenüber auf Augenhöhe wahr. Als ich den Sänger der fast schon legendären Schweizer Band The Young Gods im Zürcher Kaufleuten zum Interview treffe, schweifen wir schon nach kurzer Zeit von meinem Fragenkatalog ab und philosophieren über Bergwanderungen, Sudoku, ‹Deepness› und die Möglichkeiten neuer Musiktechnologien. Eines ist sicher: Der Mann beschäftigt sich auch über das Zupfen einer Gitarre oder die Tasten eines Samplers hinaus mit Musik. Franz erzählt mir von ‹generativer Musik›, die bei jedem Hören immer wieder anders klingt, ohne dass der Musiker darauf Einfluss nimmt. ‹Mit dem Computer lassen sich heute Sound-Texturen programmieren, die ein Eigenleben entwickeln. Dann geht es nicht mehr in erster Linie um die Emotionen und Gefühle, die der Musiker selber hat, sondern um die Klänge,

kinki lieblingslieder

Ich war vielleicht zehn Jahre alt, als ich diesen Song zum ersten Mal gehört habe. Ich war total fasziniert. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass Musik mich auf einen Trip gebracht hat. Vor allem diese Stelle im Song haute mich um, wenn die Stimme singt: ‹One of these days I’m gonna cut you into little pieces.› Ich musste dann sogar den Raum verlassen, so persönlich nahm ich das.

die ganz zufälligerweise entstehen und neue Verbindungen und Möglichkeiten zulassen›, erklärt Treichler, dessen Gesicht irgendwie an das eines weisen, indianischen Schamanen erinnert. Die ‹jungen Götter› waren schon immer sehr an der Verschmelzung von Technik und organischen Elementen interessiert. Seit 25 Jahren produziert die Band aus Fribourg via Sampler, Gesang und Schlagzeug einen Sound, der seiner Zeit stets einen Schritt voraus ist. Doch Franz Treichler hat auch noch andere Leidenschaften. Zum Beispiel Sudoku. Oder Wandern: ‹Ich liebe es, mir die Beine in den Voralpen zu vertreten. Das ist etwas Neues für mich, denn ich war lange Zeit ein ziemlicher StudioFreak, der lange im dunklen Kämmerchen sass. Seit einiger Zeit geniesse ich aber die freie Sicht in den Bergen – in der Schweiz ist ja sonst alles so verbaut und man sieht nirgends sehr weit.› Bleibt nur noch eine Frage: Was sind die Lieblingslieder von Musik-Schamane Franz Treichler?

03: 44

Hamza El Din – Mwashah

Ich höre sehr gerne Ethno-Musik. Sie entspringt den Wurzeln der Zeit. Ein Thema, eine Stimme – Einfachheit. Es klingt irgendwie nach ‹Come together›.

09: 32

Monolake – Bicom

Das ist der erste Song der Platte, aber eigentlich höre ich das ganze Album sehr oft, seit es 2001 rausgekommen ist. Die Musik hat etwas Flüssiges an sich. Ich mag es im Fluss zu sein, Kontakt zu haben mit ‹organischen Kreaturen›. Die sind seltsam, aber freundlich.

04 : 28

Lhasa – Con toda palabra

Auch wenn ich sie nie getroffen habe: Als Lhasa am 1. Januar starb, fühlte ich mich, als hätte ich einen nahestehenden Freund verloren. Mit ihrer Stimme konnte sie mich in ungeahnte Höhen versetzen. Sie schaffte es, dass ich sie mit meiner Seele verstand, in welcher Sprache auch immer sie sang. Manchmal traurig, manchmal glücklich, aber immer mit heilender Kraft.

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03: 42

The Stooges – Down on the street

Schwierig, nicht über die Stooges zu sprechen. So roh, so direkt. Speziell auf dem Album ‹Fun House›. Stellt euch vor, wir sprechen hier über eine Band aus den 70ern! Das Flower Power Ding war immer noch im Gange. Die Stooges schwammen aber in dunkleren Wassern. Sie hatten schon diese Energie in ihrer Musik, die erst viel später Punk, Industrial und Heavy Metal für sich entdeckten.

19: 38

Plastikman – System 7, Alpha wave remix

Es gab eine Zeit, da hörte man diesen Mix in jedem Club in London. Ich war jedes Mal überrascht. Es war so minimal und ich glaube dieses Stück hat die ganze Minimal Techno Szene beeinflusst. Wie kann man ein 20 Minuten Stück produzieren, das nur so wenige Elemente benötigt?

07: 23

Oval – Tectuell

Ein anderer Planet, andere Musik. Eine neue Definition davon, was Musik sein kann. Der Rahmen wurde grösser. Manche würden vielleicht sagen, das sei keine Musik. Akustische Gemälde vielleicht?

04 : 11

Radiohead – Everything in its right place

Ich begann Radiohead zu hören wegen dieses Songs. Vorher wurde ich irgendwie nie richtig warm mit ihnen. Ich fing aber an, sie zu mögen. Nicht weil sie unbekannte musikalische Territorien entdeckten, sondern einfach weil ich musikalische Ehrfurcht empfand. Text: Antonio Haefeli Foto: Promo Weitere Info findest du unter younggods.com.


DER VIDEOCLIP ZUM RADIO-SONG LIVE AUF: WWW.105.CH RADIO 105 EMPFÄNGST DU AUCH IM KABELNETZ IN DER GANZEN DEUTSCHSCHWEIZ: BS 103.9, BE 105.6, LU 101.7, SG 105.3, ZH 105.1 ODER AUF UKW 93.0 FM


Don’t be Scared

Nthato Mokgata alias Spoek Mathambo: ‹Meine Welt ist reg­ nerisch und heiss, warm und irgendwie dampfend.›

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Im Strobolicht aufzuckende Ge­ sichter, dunkle Club­Atmosphäre, Outfits irgendwo zwischen Mad Max und ‹Afro­Science­Fiction­ 2010›. Dazu Trommeln, tief auf­ heulende Bässe und Discokugeln. Doch die Gesichter sind fröhlich, lachend und flüstern ‹don’t be scared›. Willkommen in der Welt von Spoek Mathambo. Text: Antonio Haefeli, Fotos: Promo

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n etwa so präsentiert sich nämlich das Video zur aktuellen Single ‹Gwabana (don’t be scared)› des südafrikanischen ‹GlamRap-Rave-Prince› und seiner Band Mshini Wam. Doch immer der Reihe nach. Nun, eigentlich könnte man sogar da anfangen, als Spoek noch nicht mal das Licht der Welt erblickt hatte, nämlich in den 60ern. Genauer genommen bei Sun Ra, George Clinton und ihrer Truppe The Parliament. Oder bei Fela Kutti und Afrika Bambaataa. Der von diesen Musikern und Künstlern mitbegründete ‹Afrofuturismus› hat nämlich bis heute seine Spuren hinterlassen. So auch beim 24-jährigen Nthato Mokgata alias Spoek Mathambo, der im Interview erklärt: ‹Diese Künstler haben die ganze Welt beeinflusst. Oder kannst du dir eine Welt ohne Space-Punk-Hippies und Hip-Hop vorstellen?› Auch Spoek experimentiert mit Zukunftsvisionen, mit futuristischen Outfits und deren Vermischung mit afrikanischen Kulten. Doch der aus Soveto stammende und in der Upper-Class von Johannesburg aufgewachsene Künstler transportiert die Zukunftsvisionen der Vergangenheit ins moderne Südafrika des neuen Jahrtausends. Und sagt: ‹Mein Futurismus findet schon jetzt statt. Es ist die Welt, wie ich sie in diesem Moment sehe.›

‹Mein Futurismus findet schon jetzt statt.› Voller Liebe, grossartiger Menschen und fancy Dinge, die dem Auge imponieren. Südafrika, wo ich lebe, ist gross und wunderschön. Meine Welt da ist ziemlich heimelig, wird aber immer wieder unterbrochen von der Unruhe, das Nest verlassen zu müssen, um tief in Johannesburg einzutauchen.› Einen Grossteil seiner Zeit verbringt Spoek auf Reisen rund um den Globus. Nachdem er

Südafrikanisches Selbstvertrauen

Tech­House im Taxi

Als Rapper, Sänger, Produzent und DJ ist Spoek Teil einer neuen afrikanischen Musikerszene, die ihren oft elektronisch-progressiven, aber sich gleichzeitig stets auf die Wurzeln afrikanischer Klänge beziehenden Sound in die restliche Welt katapultiert. In den Taxis und auf den Strassen von Johannesburg hört man seit geraumer Zeit ungefähr so oft Tech-House-, Dubstep-, und elektronische Zouk-Rhythmen wie bei uns Popmusik. Gerade in Südafrika werden in Sachen Musik und Kunst Energien frei, die etwas ganz Neues versprechen. Während in Berlin oder London die Luft langsam aber sicher irgendwie raus zu sein scheint, entwickelt sich in Cape-Town der nächste ‹heisse Scheiss›. Und die ganze Welt hört zu. Spoek Mathambo steht mitten in diesem kreativen

in der Vergangenheit immer wieder in Schweden gelandet war, hat er sich dort mittlerweile mit seiner Frau, der Künstlerin Gnucci Banana, die ihn auch von Zeit zu Zeit musikalisch und künstlerisch auf der Bühne unterstützt, niedergelassen. ‹Auch in Schweden fühle ich mich sehr heimisch›, beschreibt Spoek seine zweite Heimat. ‹Küsse, vakuumierte Sauberkeit, den Abwasch machen, Sandstrand und Blätter, die auf den Boden fallen … Das sind Dinge, die ich mit Schweden verbinde – natürlich immer wieder unterbrochen vom immer wiederkehrenden Akt, die Club-Kids zu unterhalten.› Gerade in den Clubs Europas stösst Spoeks Musik auf offene Ohren. Und so entstehen zahlreiche Kontakte und Kollaborationen mit europäischen Produzenten und Künstlern. Beispielsweise hat er mit der deutschen Truppe Schlachthofbronx viele ausufernde Konzerte gespielt und auch im Studio mit ihnen zusammengearbeitet.

‹Ich war dumm, so etwas zu sagen.› Gewusel – und das mit einem wahnsinnig grossen Output. Als Frontmann der beiden ElektroRap-Truppen Sweat-X und Playdoe, als Mitglied des Ghetto-Tech-Duos slushpuppykids, als DJ H.I.V.I.P und mit seinem aktuellsten Projekt ‹Spoek Mathambo & Mshini Wam› hat er sich sein eigenes kleines Universum erschaffen, das er selbst so beschreibt: ‹Meine Welt ist regnerisch und heiss, warm und irgendwie dampfend.

damit die Reinheit und Ursprünglichkeit Afrikas. Ich erniedrigte all das, indem ich es als primitiv bezeichnete, obwohl genau diese Energie, die immer durch Südafrika pulsieren wird, keineswegs primitiv ist. Es ist eine Energie, die sehr mit dem Jetzt verbunden und absolut relevant ist. Den Begriff «Future Primitivism» nehme ich definitiv zurück.› Dies ist nur ein Indiz dafür, dass sich in den vergangenen zwei Jahren bei Spoek einiges verändert hat. Damals war er ein kreatives Energiebündel, machte und sagte, was auch immer er wollte, ohne die Konsequenzen gross zu bedenken – er experimentierte, ohne lange nachzudenken. Heute zwingt ihn die Aufmerksamkeit, die ihm durch seinen Erfolg entgegen gebracht wird, die Konsequenzen seiner Aussagen stärker abzuschätzen, seine Kreativität zu fokussieren und zu reflektieren. Nicht zuletzt deshalb, weil Spoek sehr stark mit Südafrika in Verbindung gebracht wird und damit auch mit den dort vorherrschenden Problemen und der eher dunklen Vergangenheit des Landes.

Spoek ist in vielem, was er tut, sehr kreativ – so auch in der Beschreibung seines Musikstils: Mit dem Begriff ‹Future Primitivism› umschrieb er beispielsweise vor zwei Jahren in einem Interview seinen Stil. Diese Wortkonstruktion ging mir nicht mehr aus dem Kopf, sie war provokant, latent irgendwie fast schon rassistisch, aber auch wahnsinnig selbstbewusst und treffend. Auf die Frage, was es damit auf sich hat und wie er heute darüber denkt, antwortet Spoek: ‹Ich war dumm, so etwas zu sagen. Ich erniedrigte 69

Auch wenn sein Sound, wie er selber einräumt, meist cluborientiert ist und mehrheitlich positive Gefühle transportieren soll, hat Spoek sich sehr wohl Gedanken zur Geschichte Südafrikas nach der Apartheid und zur scheinbar unüberwindbaren Kluft zwischen Arm und Reich gemacht. ‹Die Townships und die reichen Gegenden existieren wie Parallelwelten nebeneinander›, erzählt er. ‹Da ich beide Welten kenne, sehe ich aber auch deren gegenseitige Abhängigkeit, denn die Reichen brauchen Arbeiter und die Arbeiter sind wiederum auf Jobs angewiesen.› Spoeks Auseinandersetzung mit diesen Themen findet jedoch sehr unverkrampft statt. Er hat keine Lust, die alten, pessimistischen, negativen und wütenden Ausdrucksweisen eins tiger Oppositioneller der Apartheid zu wiederholen. Trotzdem spielen in seinen Texten Themen wie Aids oder die Apartheid eine Rolle. Spoek Mathambo schafft sich eine Welt, die die Zukunft schon in der Gegenwart geschehen lässt. Er sieht das neue, aufstrebende, multikulturelle und selbstbewusste Südafrika. Und das unterscheidet seinen Afrofuturismus (wenn der Begriff hier überhaupt angemessen ist) von dem der ‹funky Herren› aus den 60ern: Spoek prangert niemanden an, es geht ihm viel mehr darum, die Stärke und das Selbstvertrauen Südafrikas zu unterstreichen und der restlichen Welt zu zeigen. Und das gelingt ihm – besser als jeder politischen PRAktion oder irgendeinem durchorganisiertem Fussball-Fest – mit einem dermassen kickenden Sound, seiner scheinbar grenzenlosen Offenheit für musikalische Einflüsse und dem Hang zum ‹künstlerischen Workaholism›. Weitere Info findest du unter myspace.com/spoek.


Die drei Herren aus Shoreditch setzen mit ihrer Band Is Tropical ein Statement gegen die Londoner Tiefdruckzonen.

Eine Art von Eskapismus Wenn Rock und Elektronik aufeinander treffen, ist das Ergebnis oft nur noch wenig Ăźberraschend. Das sehen die Londoner Jungs von Is Tropical genau so. Doch statt zu jammern, haben sie ihre Instrumente in die Hand und den beschriebenen Status Quo gehĂśrig auseinander genommen. Der Name der Band beweist: der musikalische Dschungel in London ist noch lange nicht kartiert. Interview: Mathias Bartsch, Foto: Promo kinki musik

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ie Musiker Gary Barber, Simon Milner und Dominic Apa stammen direkt aus Shoreditch, einer der letzten halbwegs bezahlbaren Ecken Londons, die allen Vertriebenen aus dem gentrifizierten West End Asyl bietet. Musikalische Vorbilder des hymnischen Mash-Up von Is Tropical sind schnell ausgemacht: rhythmisch wie The Strokes nie mehr klingen werden und offen für weltumspannende Einflüsse à la Vampire Weekend. Eine elektronische Richtschnur sind Hot Chip, mit denen man sich nun auch deren ehemaliges Label Kitsuné als Heimat teilt. Die Franzosen beweisen einmal mehr ihr Gespür für talentierten Nachwuchs mit diesem exzellenten Sign-Up. Wir passten die Band nach einem Konzert ab und wurden kurzerhand in den TourVan verschleppt. Ohne Licht, aber bei Bier und ‹preisbewusstem› asiatischen Essen besprach man die kommende Platte und welche Vorteile das Leben als Hausbesetzer so mit sich bringt.

Interview kinki magazine: Gratulation zum Deal mit Kitsuné! Gary: Ja, vielen Dank. Wir waren vorher bei einem kleinen Label in Grossbritannien namens Hit Club. Auch ein sehr cooles Label, sie bringen Sachen aus London und Manchester heraus und versuchen die Szenen aneinander anzunähern. Aber es ist ein reines Singles-Label. Als wir merkten, dass Kitsuné an uns interessiert ist, waren wir sofort begeistert. Wir hatten in unseren Köpfen immer eine Fantasie-Liste mit Labels, bei denen wir gern einmal landen wollten. Na ja, da stand Kitsuné ganz oben. Wir mögen auch die Idee, dass wir als Band aus London auf einem Label in Paris sind. Das entspricht unserem Anspruch, offen zu sein und nicht als typisch britische Band rüberzukommen. Wann kommt dann endlich die erste Platte raus? Gary: Erstmal erscheint jetzt im November die erste Single ‹South Pacific›. Das Album wird Anfang 2011 kommen. Wir haben es total schnell aufgenommen, was meiner Meinung nach perfekt ist. Du spielst die Sachen nicht über Monate ein und überlegst bei jeder Melodie endlos, wie man sie noch verändern könnte. Wenn du es schnell machst, fängst du den Moment des Entstehens von Ideen, den Ursprung davon, am besten ein. Wir sind selbstbewusst genug, um das als gut und als richtig zu empfinden. Ich hoffe auch, dass wir niemals so enden wie Guns’n’Roses, die fast 15 Jahre für ‹Chinese Democracy› gebraucht haben ... Ausserdem haben wir gar nicht genug Geld, um uns über Monate in ein Studio einzumieten. Die schnellen Aufnahmen lassen vermuten, dass ihr als Band bestens funktioniert. Simon: Auf jeden Fall, wir haben oberflächlich betrachtet einen unterschiedlichen Musikgeschmack. Doch auf einer tieferen Ebene sind wir uns eigentlich immer einig. Wir hören beispielsweise ein bestimmtes Lied und finden das

jetzt nicht alle gleich gelungen, aber am Ende gibt es ein einzelnes Element in dem Song, das immer allen aufgefallen ist und welches man cool findet. Für die Aufnahmen war diese Übereinstimmung enorm wichtig, es gab nie lange Diskussionen, die uns aufgehalten hätten. Was erwartet uns auf eurem LongplayerDebüt? Gary: In erster Linie bestimmen Unterschiede die Platte. Die Musik auf der kommenden Scheibe ist wie ein ADS-Kind, eben sitzt es noch brav in der Klasse und im nächsten Moment wirft es schon seine Hefte gegen die Tafel. Darum geht es: die Musik in allen Facetten einzubauen. Immer wieder Brüche und das Unerwartete zu wagen. Seit wann gibt es die Band? Dominic: Wir kennen uns alle schon länger, die Band haben wir aber erst vor einem Jahr gegründet. In einem Keller in einem Londoner Haus fing alles, dort sind die ersten Proben gelaufen. Praktisch war, dass dort auch andere Bands probten. So konnten wir uns immer mal wieder Instrumente ausleihen. Bei den ersten Konzerten kamen dann die Jungs von den anderen Bands und meinten: ‹Sorry, aber gehört die Gitarre da nicht eigentlich mir?› Wir haben sogar angefangen, die Labels mancher Instrumente zu überkleben, damit es niemand erkennt und wir nicht ständig angemacht werden. Zu Beginn war es eben einfach echt schwer, die Kohle für das Equipment einer ganzen Band zu besorgen. Deshalb entschuldigen wir uns hier auch noch mal bei allen für unser Verhalten! Ich habe gelesen, dass ihr in einem besetzten Haus in London wohnt? Simon: Ja, zumindest war das mal so. Aber jetzt mit dem Plattenvertrag wohnen wir da natürlich nicht mehr. Wie sollen wir denn auch dort die ganzen Autos und Breitbildfernseher unterbringen ... Nein, ganz im Ernst, wir haben in einem besetzten Haus gewohnt, einfach weil es uns den Luxus gebracht hat, nicht zuviel Zeit mit irgendwelchen 9-to-5-Jobs verlieren zu müssen, um die Miete zu bezahlen. Das war jetzt kein politisches Ding mit anarchistischem Hintergrund, sondern einfach praktisch. So konnten wir all unsere Zeit für die Arbeit in der Band verwenden.

‹Die Musik auf der kommenden Scheibe ist wie ein ADS-Kind.› Wohnt ihr dann aber noch in Shoreditch und wenn ja, wie cool ist es da wirklich? Dominic: Ja klar, jedoch begreifen wir uns nicht als Teil der in der Presse ziemlich gehypten Shoreditch-Szene. Das Problem ist, dass es wie immer bei solchen Dingen schnell zum Inzest wird. Viele Leute in Shoreditch leben wie auf einer Insel und nehmen alles, was aus71

serhalb liegt, nur noch ungern wahr. Trotzdem profitieren wir natürlich auch von dem Viertel, viele sehr kreative Freunde leben hier und helfen uns beispielsweise beim Designen von Bühnenklamotten. Wie seid ihr eigentlich auf den Namen der Band gekommen? Dominic: Is Tropical ist als Statement gegen das Wetter entstanden, als wir die ersten Aufnahmen gemacht haben. Es war durchweg grau und dunkel – London im Winter halt. Der Name ist deshalb eine Art von Eskapismus, ein Ansatz, den wir sehr mögen, der auch unsere Musik prägt. Bevor du jetzt nach den Tüchern fragst, die wir auf der Bühne vor dem Gesicht tragen, kann ich dir sagen, dass es dabei ähnlich ist. Wir wollen uns dahinter verstecken, damit die Leute auf den Konzerten nicht zuerst uns wahrnehmen, sondern sich auf die Musik konzentrieren. Die Verbindung zwischen dem Publikum und uns soll durch die Musik erfolgen und durch nichts anderes. Ihr wechselt gern mal die Instrumente untereinander, läuft das Texten auch zusammen ab? Simon: Kann man sagen. Texte zu schreiben ist bei uns ein wenig wie ‹Stille Post› spielen. Einer von uns kommt mit einer Textzeile und zeigt sie den anderen in der Band. Jeder versteht natürlich etwas Unterschiedliches darunter, interpretiert es anders. So kommt am Ende etwas heraus, was inhaltlich meistens nicht mehr dem ersten Impuls oder dem einzelnen Bandmitglied zuzuordnen ist. Kitsuné ist ein brillantes Label. Wer sind eure aktuellen Lieblinge unter den Label-Kollegen? Dominic: Momentan lieben wir alle die Single ‹La Musique› von Yelle. Sie hat einen starken Groove und erinnert im Stil an wegweisende Helden des French-Electro-Pops wie Etienne Daho oder Elli & Jacno. Weitere Info findest du unter istropical.com.


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1 Johann: Gitarrist von Unveil

4 Thomas: Bassist von Unveil

2 Christian: S채nger von Unveil

5 Raphael: Drummer von Unveil

3 Matthias: S채nger von Seed of Pain

6 Jan M체hlethaler: Filmemacher

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Out of step Straight Edge. Was als Antibewegung in den USA der 80er geboren wurde, existiert bis heute im internationalen Underground der Jugendkulturen. Durchzechte Nächte, schneller Sex oder die Zigarette zum Kaffee sind tabu. Wer ‹straight edge› lebt, verzichtet auf viel und gewinnt noch viel mehr, meinen unsere Gesprächspartner. Sogar die Aussteiger der Szene. Text: Maja Hornik und Pedro Codes, Fotos: Thomas ‹Creager› Stöckli

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igentlich ging es darum, den Kids in den USA zu ermöglichen, an Hardcore-Konzerte zu gehen, trotz Alkoholverbot. Und es ging darum, eine Antibewegung zur selbstzerstörerischen Punkszene zu starten. Es ging um Freiheit, um Gesellschaftskritik und um eine positive Lebenseinstellung. An den All-Ages-Konzerten wurde den Minderjährigen zur Markierung ein X auf die Hand gemalt, und Ian McKaye, Lead-Sänger der Hardcore-Band Minor Threat, nahm in seinen Songtexten die Gesellschaft schonungslos unter die Lupe und löste mit seinen ‹Don’t smoke, Don’t drink, Don’t fuck›-Parolen eine ganze Bewegung aus, die noch heute stark in der Hardcore-Szene vertreten ist – auch in der Schweiz.

Den Unterschied machen In ihrem Bandraum im Keller einer Fabrikhalle in Grabs treffen sich die vier Jungs von Unveil mehrmals pro Woche zum Proben. Neben Schlagzeug, Gitarre, Bass und diversen Boxen sowie Verstärkern stehen zwei graue, etwas durchgesessene Sofas in dem bunkerartigen Raum. Zwischen den Sofas ist ein kleiner Kühlschrank platziert. Inhalt: Limonade und alkoholfreies Bier. Die vier sind Anfang 20 und bilden die einzige Hardcore-Band der Schweiz, deren Mitglieder streng nach dem ‹sXe-Prinzip› leben. Ausserdem sind sie sicherlich auch die einzige Vegan Straight Edge-Band hierzulande. ‹Das ist das Besondere an uns›, meint Sänger Christian. ‹Der Veganismus hat mit Straight Edge allerdings nichts zu tun. Vielmehr ist er eine logische Konsequenz unserer Lebenseinstellung.› Auf den ersten Blick entspricht das Äussere der Band der im Hardcore gängigen Kleiderordnung: Tätowierungen an

Beinen, Armen und Oberkörper – etwa in Form einer Tabasco-Flasche am seitlichen Torso des Gitarristen Johann – sowie schwarze grosse Ohrringe. Im Gespräch jedoch wirken die UnveilJungs nahezu wie wahre Rosenkavaliere. Sie erzählen von veganen Torten, schmackhaften Kühlschrankresten und von einem Leben ohne Drogen, dafür mit echten Gefühlen. Auf der Bühne passen sie dann aber wieder ins gängige Bild: Sie toben, schreien, dreschen auf ihre Instrumente ein – natürlich nie ohne das obligate aufgemalte X auf dem Handrücken. ‹Wut gehört zum Hardcore›, erklärt Bassist Thomas. ‹Wir machen uns Luft, weil wir uns über die Missstände in unserer Gesellschaft nerven. Im Zentrum geht es um moralische Werte, die heute vielfach verloren gegangen sind.› Es geht um ein klares Nein zur heutigen Konsumgesellschaft. Sie reden offen über ihr Leben, dennoch klingt in allem, was sie sagen, ein deutliches Understatement mit: Sie seien nicht ‹besser›, weil sie straight edge und vegan leben, sie wollen nicht ‹missionieren›, sondern ‹inspirieren›. Sie sind unverkrampft und zeigen Toleranz gegenüber anderen Lebensformen. Und genau darauf kommt es an, meint Schlagzeuger Raphi: ‹Wenn die Leute uns sehen, denken sie sich vielleicht: «Hey, die leben etwas eigenartig, sind aber trotzdem keineswegs bünzlig, sondern cool drauf!» So erreichen wir die Menschen doch am besten!›

Selbstbeschränkung als Befreiung ‹Mein Leben ist nicht bünzlig. Mein Leben ist kontrolliert.› Jan Mühlethaler, Filmemacher, sagt das ohne die Stimme zu heben. Seit über zehn 73

Jahren isst er kein Fleisch, raucht nicht, verzichtet auf Alkohol und andere Drogen. Auch er kennt es, verurteilt zu werden. Trotzdem: Er lebt straight edge und findet nichts dabei. Probleme haben ab und an höchstens andere damit. Wie etwa sein Jugendfreund, der ihm wegen seines plötzlichen Wandels kurzerhand die Freundschaft kündigte. Damals hatte Jan gerade sein 17. Lebensjahr hinter sich gebracht und startete mit einem handgeschriebenen ‹Testament› in ein neues Leben. Darin schrieb er fünf Regeln nieder, die er gelobte, den Rest seines Lebens einzuhalten. Heute, mit 28 Jahren, schlägt ihm immer noch das gleiche Unverständnis ins Gesicht, wenn er zu einem Glas Wein oder einem Bier Nein sagt. ‹Ein Mann, der nicht trinkt und kein Fleisch isst, ist entweder schwul oder in einer Sekte›, fasst er die gängige Meinung zusammen. Es ist die Beschränktheit, die viele Menschen zweifeln lässt. Dabei fällt ihm nichts leichter als sein Dasein als Straight Edger. ‹Selbstbeschränkung ist nämlich sehr befreiend›, meint er. Sobald Jan das gesagt hat, sprudeln die Worte nur so aus seinem Mund. In kurzen und klaren Sätzen erklärt er, warum er so denkt – als hätte er tausendmal darüber gegrübelt und es mindestens genau so oft schon erzählt. Man spürt seine künstlerische Ader. So verwendet er zum Beispiel gerne Bilder, um seine Lebensphilosophie zu erklären: ‹Wenn du etwas malen willst und 100 Farben vor dir liegen, dann ist es schwierig anzufangen. Hast du hingegen nur die drei Grundfarben, dann kannst du sofort loslegen. Die Entscheidung ist einfacher.› Jan ist überzeugt. Deshalb müsse er, betont er, auch nicht darüber nachdenken, ob er sich einen Drink genehmigt oder ein Steak in die Pfanne haue. ‹Die Frage stellt sich bei mir halt nicht.›


‹Meiner Band gegenüber hatte ich wirklich ein schlechtes Gewissen.› Jan trinkt in einer spanischen Tapas-Bar Cappuccino und nicht etwa Rioja, in seinem Alltag legt er auf, skatet und verdient sein Geld mit Filmen und Videoclips. Kürzlich drehte er einen Dokumentarfilm über Danny Schneider, einen Berner Chopper, der als erster ChopperMotorrad-Bauer der Schweiz Geschichte schrieb. Er kreiere lieber, anstatt zu stagnieren. Dafür verzichtet er auf Rauschzustände und wenn er dadurch zum Aussenseiter gestempelt wird, ist ihm das nur recht, schliesslich sei er ein freier Mensch, nicht zuletzt weil er straight edge lebe.

Der Weg in ein besseres Leben Toleranz: auch im Alltag von Filip Hösli war das schon immer und ist bis heute ein Thema. ‹Kein festlicher Anlass, an dem nicht ein Tropfen Alkohol zum guten Ton gehört›, sagt er und bemerkt: ‹Je älter man wird, umso häufiger ist man als einziger Straight Edger in einer Gruppe von Menschen, die den Konsum von Alkohol zelebriert.› Da kommt man um Erklärungen nicht herum. ‹Ich werde immer wieder ungläubig angeschaut und nach meinen Beweggründen ausgefragt. Dabei sind es doch die anderen, die sich einer Substanz ergeben, die laut einer Studie der BBC verboten wäre, wenn sie heute erfunden würde›, erklärt er. Wer sich mit Filip über seinen Alltag unterhält, merkt schnell: er weiss genau, warum und wie er leben möchte. Filip kennt hundert gute Gründe für seinen Lebenswandel und noch mal hundert contra die Alternative. Er argumentiert logisch, verteidigt verbissen und eloquent seinen Standpunkt und vermag es auch, beharrlichen Skeptikern seine Philosophie zu eröffnen. Der 27-Jährige lebt seit acht Jahren straight edge und vegan. Er steht morgens auf, geht zur Arbeit, trifft sich mit Freunden. Er bezahlt Rechnungen rechtzeitig, geht Probleme direkt an, sucht Lösungen, ist kreativ statt repressiv. ‹Ich fokussiere das Leben›, sagt er. Das war aber nicht immer so: Kiffen, Schlägereien und Probleme mit dem Gesetz waren früher keine Ausnahme. Heute zieht er einen klaren Kopf exzessiven Rauschzuständen vor. Der Entschluss, straight edge zu leben, kam von einem Tag auf den anderen und war – wie bei den meisten anderen – geprägt vom Hardcore. Und wie so oft löste auch hier ein Extrem das nächste ab. Die Straight Edge Philosophie wurde zu seinem Identitätsanker: Filip bewegte sich nur noch in Kreisen mit Edgern, war Mitglied einer ‹sXeCrew›, reagierte mit Ablehnung auf ‹NichtEdger›, war intolerant. Heute sieht er das lockerer: Anstatt mit Ablehnung, reagiert er mit Respekt und Geduld. Straight edge zu werden war für ihn der Weg in ein besseres Leben. Und das versucht er den Menschen in seinem Umfeld ‹näher zu bringen›, bemerkt er mit Nachdruck. ‹Nicht indem ich sie verurteile, sondern indem kinki musik

ich sie an meinem Leben teilhaben lasse.› ‹Meiner Band gegenüber hatte ich wirklich ein schlechtes Gewissen›, gesteht Dominik von Seed of Pain. Dabei hatte er nichts Schlimmeres verbrochen, als nach zwei Jahren Straight Edge Daseins wieder mal ein Bier zu trinken. Bald nachdem der Drummer den Stein ins Rollen gebracht hatte, waren die StraightEdge-Tage der Luzerner Hardcore-Band Geschichte. Heute trinken und rauchen alle Mitglieder wieder – bis auf Sänger Matthias. Samuel und Flavio rauchen eine Zigarette vor einer Bar in Luzern, innen sitzt der Rest der sechsköpfigen Band an einem Ecktisch. Schwarze Röhrlijeans, zwei von ihnen tragen eine Ray-Ban-Brille, manchen fallen die Haare in die Stirn, andere haben den Kopf geschoren, Tattoos sind an manchen Stellen deutlich sichtbar, an anderen nur zu erahnen. Die sechs Musiker bedienen die Karte ‹Hardcore-Band› ziemlich gut. Wer diese harten Jungs so auf der Strasse sieht, käme nie im Leben darauf, dass sie mal nach den Regeln von Minor Threat-Sänger Ian MacKaye gelebt haben. ‹Als Verrat habe ich es nie wirklich empfunden›, meint Dominik im Bezug auf seinen ersten Tropfen Alkohol nach zwei Jahren der Abstinenz. Das Straight Edge Prinzip war nie ein Identifikationsmerkmal der Band, die Mitglieder lebten für sich so. Trotzdem hatte er erwartet, dass seine Kollegen ihm ordentlich den Kopf waschen würden. ‹Mehr um mich hochzunehmen, weniger weil sie es wirklich scheisse finden.› Auf dem Nachhauseweg von einem Konzert wagte er schliesslich sein ‹Coming Out› – Schulterklopfen und euphorische Ausbrüche waren die Folge. Mit derart positiven Reaktionen hatte Dominik nicht gerechnet. Noch heute lachen alle, wenn das Thema zur Sprache kommt. Nach kurzer Zeit zogen zwei weitere Mitglieder mit. Ein halbes Jahr später lebte nur noch Matthias straight edge. Straight edge zu sein, war auch für die Jungs von Seed of Pain etwas Positives. Warum sie wieder angefangen haben zu trinken, weiss jedoch niemand von ihnen so genau. Warum der Sänger jedoch als einziger die sXe-Philosophie 74

wahrt, ist allerdings umso klarer: ‹Das ist ein fach ein starker Frauenmagnet›, witzelt Matthias. Unterschiedlicher könnten die Bandmitglieder nicht sein – sie alle teilten einst dieselben und leben aber heute nach verschiedenen Prinzipien: Ausser Sänger Matthias, trinken die Jungs von Seed of Pain gern auch mal über den Durst hinaus, einige von ihnen rauchen, verzichten aber auf Fleischverzehr. Nur Bassist Dominik führt sich gern mal ein Schnitzel zu Gemüte. Dennoch respektieren sie sich. ‹Wir mögen einander für das, was wir sind – ein Bier oder kein Bier macht doch einen Menschen nicht sympathisch›, erklärt Gitarrist Flavio, bevor er zu einem grossen Schluck von seinem Bier ansetzt.

Nicht in Stein gemeisselt Sich zu berauschen ist ein Grundbedürfnis des Menschen, das zeigen gerade diejenigen, die der Straight Edge Lebensweise wieder abschwören. Wer nicht trinkt, tanzt aus der Reihe, denn vollkommene Kontrolle gilt als abnormal. Dass gerade mentale Kontrolle und ein gesunder Körper befreiend wirken können und viele Straight Edger eine ausgeprägte ‹Do it Yourself›-Attitüde an den Tag legen, wirkt auf viele wenig überzeugend. Dabei wächst die Szene stetig – in Deutschland wird die Zahl der Straight Edger auf über 10 000 geschätzt. Dass gerade ein Teil der Hardcore-Szene einen solch weichen Kern hat, wirkt auf den ersten Blick kurios. Doch gerade dieses Vorurteil von den achso harten Kerlen möchte dieses kleine Überbleibsel der Straight Edge Bewegung in Frage stellen. Gesellschaftskritik beginnt mit der Brechung herrschender Klischees. Viele sehen die Staright Edge Philosophie als Lebensaufgabe – in Stein gemeisselt ist der Entschluss dennoch nicht, meint auch Jan. ‹Im Moment will ich einfach keinen Alkohol trinken›, betont er. ‹Ich kann aber nicht ausschliessen, dass ich mir irgendwann doch mal einen Schluck Wein zu einem guten Abendessen gönne.›



vorspiel musiker erklären ihre songs

Maps & Atlases: Perch Patchwork 01. Will:

Die Aufnahme der Perkussion für diesen Song war spassig, als Jason und ich die Becken mit Mikrofonen umrundeten. Zudem war ich sehr glücklich, am Ende noch zufällig über die Melodielinie am Kinderklavier zu ‹stolpern›.

02.

The Charm:

Dieses Lied begann als gradliniger, leicht humorvoller Country-Song in typischer Geschichtenerzählermanier. Ich bin grosser Fan von Roy Orbisons Song ‹It’s Over›, und irgendwann begann ‹The Charm› immer mehr von dessen Gestalt anzunehmen. Der Song soll die Ups und Downs einer Beziehung beschreiben.

03.

Living Decorations:

Vom Text her ist dies der älteste Song auf dem Album, musikalisch einer der Neusten. Der grösste Teil des Songs kam schnell im Keller meiner Eltern zustande, wo ich mit einem Kinderklavier und Loops herumgeblödelt hab.

04.

Solid Ground:

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ie vier Musiker der Band Maps & Atlases haben sich als Kunststudenten am Columbia College von Chicago kennengelernt und 2004 auch musikalisch zusammengefunden. Bereits zwei Jahre nach der Bandgründung veröffentlichten sie die erste EP ‹Tree, Swallows, Houses›, welche mit unkonventionellen Kompositionen und Drums glänzte, deren mathematische Präzision jener einer Schweizer Uhr gleicht. So waren die vier Jungs aus Chicago bislang leicht dem ‹Math-Rock› zuzuordnen. Ihr erster Langspieler ‹Perch Patchwork› gibt sich nun aber noch virtuoser und definitiv poppiger. In zwölf Songs vereint er zarten Pop à la Band of Horses mit der Dynamik von Vampire Weekend-Rythmen, und verkörpert damit kompositorische Waghalsigkeit, ohne auf Feinheiten im Songwriting zu verzichten. Das Album wurde von Jason Cupp in Chicago produziert und teilweise im Keller der Eltern

kinki vorspiel

Während unserer UK-Tour spielten wir an einer Universität in Norwich, wo eine Frau Kastanien aufbrach und uns sagte, man könne diese direkt vom Boden essen. Als Erin und ich auf dem Campus spazieren gingen, um die Kastanien-Lage zu erkunden, sahen wir eine Wiese mit einem einzigen Baum voller Elstern. Während wir unter diesem Baum sassen und über die ungleichmässigen Konturen des Feldes nachdachten, fielen mir Melodie und Lyrics zu Solid Ground ein.

von Gitarrist und Sänger David Davison aufgenommen. Entstanden ist ein komplexes Werk mit dicht strukturierter und definitiv berauschender Musik, das abwechslungsreicher nicht sein könnte: ‹The Charm› überzeugt durch die gewohnt heftige Perkussion und ‹Solid Ground› bleibt, trotz Folk-Einflüssen, sehr mechanisch, während ‹Israeli Caves› mit lockerflockiger Gitarre gute Laune aufkommen lässt. Die akustische Gitarre in ‹Was› lullt einen dann kurz vor Ende so sehr ein, dass der Wechsel zum Andante der klassischen Streicher im letzten Song, ‹Perch Patchwork›, nicht leicht fällt. Das Album ist daher nicht schon beim ersten Hören eingängig und erfordert mehrmaliges Betätigen der Repeat-Taste. Nur so kann man die komplexe Musikkarte von Maps & Atlases verstehen und den Schatz, der in dieser CD verborgen liegt, finden. David Davison hilft uns dabei mit Erklärungen zu jedem Song.

welche unsere Inbox erreichten, und dem Wunsch, diese in den Kontext eines Songs zu bringen.

08.

Carrying The Wet Wood:

Bei diesem Song versuchte ich einen nahtlosen Übergang zwischen dem Takt des Verses und des Refrains zu finden. Beim Abmischen zerlegten Jason und ich den Song nochmal Stück für Stück und gestalteten das Arrangement der Instrumente neu.

09.

Pigeon:

Nach dem College verbrachte ich meine Zeit entweder auf Tour oder indem ich erhebliche Distanzen innerhalb Chicagos abwanderte (daran hat sich übrigens bis heute nichts geändert). Auf einem dieser Spaziergänge ging ich unter einer Brücke durch, welche überfüllt war mit Hunderten von Tauben. Das inspirierte mich zu den Lyrics, welche ich sofort auf die Combox eines Freundes sang, und zwar ziemlich so, wie sie jetzt sind.

10.

If This Is:

Ich mochte den Verlauf dieses Songs und er hatte den Anschein, ein guter Kandidat für die Ausgeglichenheit und den Fluss des Albums zu sein. Wir waren nervös, dass der abrupte Tempowechsel am Ende vielleicht schwierig durchzuziehen wäre, aber schlussendlich funktionierte es ganz einfach.

11.

Was:

2008, auf der Fahrt nach Virginia, begann ich an diesem Song zu arbeiten und die Melodie blieb mir seitdem im Ohr.

05.

12.

‹Is› ist ein Gitarren-Stück, das einfach irgendwann beim Spielen entstand. Ich kann mich nicht erinnern wann, aber es ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Das ist der musikalisch ambitionierteste Song, den wir uns je vorgenommen haben, und ich bin stolz, dass wir es schafften, die Ideen so gut umzusetzen. Ein Teil des Schreibprozesses für diesen Song war intuitiv und unerklärlich.

Is:

06.

Perch Patchwork:

Israeli Caves:

Dieser Song schwankt zwischen Spontanem und Geplantem. Der Gitarren-Part sollte bewusst die Rhythmen wechseln und mit neuen Techniken experimentieren, sich aber trotzdem natürlich anfühlen. Die Lyrics haben dichte Momente und literarische Referenzen, und doch erscheinen sie mir simpel.

07.

Banished Be Cavalier:

Das Konzept dieses Songs entspringt einigen aufwühlenden Zeilen aus Massenmails,

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Text: Dinah Brunner Foto: Angel Ceballos Maps & Atlases – Perch Patchwork (Barsuk Records / Fat Cat Records) ist bereits erschienen.


nixonnow.com/santigold nixonnow.com


maske art must be beautiful

Jeden Monat setzen an dieser Stelle Schweizer Künstler drei Beauty-Produkte in Szene. Der Zürcher Eric Andersen begab sich für seinen Linoleumdruck ins Reich der ‹schönen Düfte›. Calvin Klein: ‹Beauty›

Aqua di Parma: ‹Colonia Essenza›

Narciso Rodriguez: ‹for her›

Der Flakon des neuen Clavin Klein-Dufts hält auch nach dem Öffnen, was er äusserlich verspricht: ein eleganter und kraftvoller Frauenduft mit Moschuskorn-, Zedernholz- und Jasminnoten, zeitlos und schlicht, wie man es von Calvin Klein gewohnt ist. Eau de Parfum, 50 ml, ca. CHF 114.–

Für ‹Colonia Essenza› besann sich Aqua di Parma auf seine Wurzeln und liess es bei der Neuinterpretation seines Herrenduftklassikers an nichts fehlen: sowohl der Art-Deco-Flakon als auch der exklusive Duft verleihen selbst dem bleichsten Hälschen eine Spur klassischitalienischer Eleganz. Eau de Cologne, 50 ml, ca. CHF 114.–

Sowohl optisch als auch olfaktorisch ist dem Designer und seinen Parfumeurs mit ‹for her› ein moderner Klassiker gelungen. Als Inspiration zu diesem leidenschaftlichen Duft soll dem Herrn des Hauses übrigens ägyptischer Moschus gedient haben, den ihm ‹einst eine unvergessliche Frau schenkte› … Eau de Parfum, 50 ml ca. CHF 111.–

Eric Andersen Wer sich in Zürich auf die Spuren von Erics wunderschönen Plakaten macht, dem lachen seine papiernen Kunstwerke von verschiedensten Hauswänden, Türen und aus verborgenen Winkeln entgegen. Egal ob in Holz-, Linoleum- oder anderen Druckverfahren: die Werke des sympathischen Künstlers entstehen in sorgfältiger und leidenschaftlicher Handarbeit und verfügen allesamt über eine ganz eigene und unverwechselbare Ästhetik. Wer mehr über Erics reges Schaffen erfahren will, ohne die Limmatstadt zu durchforsten, der erhält auf emuseum.ch einen Einblick in seine beachtliche Arbeit. Realisation: Nicola Fischer Text: Rainer Brenner

kinki maske

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* Nielsen (Handelspanel, Detailhandel CH), Absatz MAT 2008–2009

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Eine göttliche Lektüre Leicht verschroben gibt sich Neil Hannon, der Kopf von The Divine Comedy, gerne auf Covers und in Videos. Dabei kann man mit ihm ganz locker über Fussball reden und darüber, wie es sich anfühlt, nicht bei Facebook dabei zu sein. ‹La Divina Commedia›, den Klassiker der Weltliteratur, der Dantes Reise durchs Jenseits beschreibt, hat Hannon bis heute nicht zu Ende gelesen. Die Gründe dafür schildert er im Interview. Interview: Martina Messerli, Foto: Prowan Lass uns bei den Lyrics bleiben. Ich hab mich durch deine Texte gelesen und finde sie sehr poetisch. Jedes einzelne Wort scheint sehr bewusst und gut gewählt. Eigentlich möchte ich nicht, dass man meine Text isoliert betrachtet. Ein Song beruht sehr auf der Kombination von Worten und Musik. Das eine ohne das andere bringt nichts. Die Emotionen, die in den Worten liegen, werden durch die Musik verstärkt und so mag es manchmal etwas langweilig sein, nur die Worte ohne die Musik zu hören. Aber ich weiss, wann eine Zeile schwerfällig oder unnatürlich klingt. Ich arbeite intensiv daran, meine Texte möglichst fliessend und umgangssprachlich klingen zu lassen, so als hätte ich nicht daran gearbeitet, sondern jede Zeile einfach so dahingesagt. Ich arbeite hart, um es nach möglichst wenig Arbeit klingen zu lassen. Komisch.

Eklektisch, belesen und vielleicht sogar ein bisschen weise: Neil Hannon ist The Divine Comedy.

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inki magazine: Es hat Dante dreizehn Jahre – oder anders gesagt: den Rest seines Lebens – gekostet, ‹Die göttliche Komöde› fertigzustellen. Bist du ähnlich perfektionistisch veranlagt, wenn es um die Aufnahme eines neuen Albums geht? Neil Hannon: Dreizehn Jahre? Das ist ja wahnsinnig … Ich bin jetzt seit zwanzig Jahren im kinki musik

Geschäft und glaube, ich werde in puncto Effizienz immer besser. Mein Songwriting basiert auf allen möglichen Erfahrungen aus verschiedenen Lebenssituationen. Ich werde mit zunehmendem Alter besser im Schreiben der Lyrics, da ich auf mehr Lebenserfahrung und hoffentlich auch auf ein wenig mehr Weisheit zurückgreifen kann. 80

Was ist dir wichtiger: der Klang eines einzelnen Wortes oder der Inhalt, den die Worte transportieren? In vielen meiner Lyrics steckt nicht allzu viel moralischer Hintergrund oder eine Wahnsinnsstory. Darum geht es mir auch nicht. Ein Beispiel: Der Song ‹Assume The Perpendicular› handelt von einer Gruppe, über die ich in der Zeitung gelesen habe: ‹The Young Georgians›. Die fahren übers Wochenende zu feinen Landhäusern aus dem 18. Jahrhundert und schauen sich diese an. Ich weiss nicht genau, weshalb ich darüber schreiben wollte, aber die Idee dahinter hat mich irgendwie amüsiert. Also hab ich sie übernommen und sie auf die Spitze getrieben. Wichtig ist, dass ich Freude an einem Thema habe und diese im Song transportiere. Ob andere Leute das Thema nun mögen oder interessant finden, spielt eigentlich keine Rolle, solange sie raushören, dass es mir Spass macht und ich den Song geniesse. Es gibt nichts Schlimmeres, als Leuten beim Singen zuzuhören und ihnen kein Wort zu glauben.


Im Song ‹The Lost Art of Communication› beklagst du, wir seien unfähig, miteinander zu sprechen. Wie kommst du darauf? Ich denke, wir sind im Moment alle sehr von unseren Toys besessen – Internet, iPad, iPhone. Ich versuche nicht, die Angewohnheiten der Leute zu verändern, das ist nicht meine Aufgabe. Aber ich mag es, ihre Aufmerksamkeit auf gewisse Dinge zu lenken, die mich beschäftigen, und das tue ich hoffentlich in einer spielerischen, lustvollen Art, ohne lehrerhaft zu wirken. Die Sache ist, dass ich mich ständig frage, weshalb niemand mehr mit mir spricht. Es ist ja nicht so, dass meine Freunde nicht mehr mit mir reden möchten, ich hab nur gemerkt, dass sie die Beziehungen zu ihren Mitmenschen nur noch über Facebook regeln, und ich bin eben nicht bei Facebook, und will auch gar nicht bei Facebook sein. Und so fühlt es sich eben an, als würde die Party an mir vorbeiziehen. Aber wenn die Leute wirklich was von mir wollen, dann wissen sie, wie sie mich erreichen können. Du hast viel zu erzählen, hast du schon mal daran gedacht, ein Buch zu schreiben? Viele Leute fragen mich das. Alle, die Texte schreiben und mehr als zwei Sätze zusammenbringen, werden das wohl gefragt. Aber nicht jeder, der sprechen und denken kann, will automatisch auch gleich ein Buch schreiben. Also: nein, nicht wirklich. Ich find es schwierig genug, drei Zeilen Refrain aus mir rauszuquetschen, ein Roman wäre mir da einfach zu harte Arbeit. Dein Bandname bezieht sich dafür auf ein Buch. Hast du denn Dantes ‹Göttliche Komödie› gelesen? Ich hab’s versucht, aber es ist wirklich ein harter Brocken. Was ist denn so schwierig daran? Um ehrlich zu sein, es ist für die heutige Zeit einfach nicht sehr lesbar oder verständlich. Ich war auch ein bisschen abgeschreckt von der ganzen Religion, die im Text thematisiert wird. Ich bin nicht religiös und auch wenn ich die Poesie des Textes geniessen kann, so finde ich die Themenwahl einfach total, komplett und in verheerender Weise abgestumpft. Ich hab mir ‹Die göttliche Komödie› sogar als Hörbuch gekauft, aber nicht mal das hat geholfen: ich bin eingeschlafen. Glaubst du an ein Leben nach dem Tod? Nein. Aber mal angenommen, es gäbe Paradiso und Inferno, wofür würdest du dich entscheiden? Wenn ich die Wahl hätte, dann natürlich für den Himmel. Die Hölle erscheint mir doch ein wenig zu ... (zögert) heiss. Und was unternimmst du, um nicht im Fegefeuer zu landen? Ich glaube nicht daran, dass du im Leben Dinge absichtlich tun kannst, um in den Himmel zu kommen oder auf eine andere Art und Weise eine goldene Belohnung für deine Taten zu

erhalten. Es gibt Dinge, die tust du, weil es die richtigen Dinge sind. Und ich versuche einfach, auf die bestmöglichste Art zu leben und zu tun, was ich kann, um andere Menschen nicht schlecht zu behandeln. Gibt es Autoren, die dich – im Gegensatz zu Dante – wirklich interessieren? Es gibt ganz viele Autoren, die ich mag. Ich bin ein grosser Fan von E.M. Forster oder Graham Greene, und dann gibt es noch ein paar zeitgenössische Schriftsteller, die ich mir nie merken kann. Im Moment lese ich gerade Kurt Vonnegut, ich dachte immer seine Bücher seien Science Fiction, dann hat mir aber meine Freundin ‹Slaughterhouse Five or The Children’s Crusade› empfohlen, und das hat nun wirklich gar nichts mit Science-Fiction zu tun. Es ist ein erstaunlich cleveres und tiefgründiges Buch. Doch mein allerliebstes Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe, stammt von Alex Ross, dem Musikkritiker der New York Times. Es heisst ‹The Rest is Noise› und fasst die Geschichte der klassischen Musik des 20. Jahrhunderts zusammen. Ich hab ungefähr vier Monate gebraucht, um den dicken Schmöker zu lesen, so lehrreich und interessant ist das Ding. Der Autor vermischt Musikgeschichte mit dem Weltgeschehen, da steckt so viel mehr dahinter, als man denkt. Hatte die Lektüre einen Einfluss auf deine Art, Musik zu schreiben oder zu spielen? Bücher wie diese helfen dir dabei, bestimmte Musikrichtungen zu hören, und zu verstehen, wo sie herkommen und wie sie sich in die Realität einfügen. Viele Leute hören klassische Musik, um im Wagen zu relaxen. Wenn du dann erfährst, wie die Musik entstanden ist und wo sie herkommt, dann merkst du plötzlich, dass das wirklich alles andere als entspannend ist. Ich hab gelesen, dass du gerne einen Filmsoundtrack komponieren würdest. Ich würde mich in vielerlei Hinsicht gerne noch mehr engagieren. Zum Beispiel habe ich gerade mein erstes Musical geschrieben, das im November in Bristol uraufgeführt wird. Worum geht es? Es ist die Adaption eines Kinderbuches aus den 1920er-Jahren, ‹Swallows and Amazons›, geschrieben von Arthur Ransome. Niemand ausserhalb Englands kennt das Buch, aber es ist grossartig und ich denke, das Musical wird unglaublich viel Spass machen. Ich hoffe, die Leute werden kommen und es sich ansehen. Zurück zur vorherigen Frage: Ich habe bereits einen wirklich kleinen Soundtrack für einen irischen Film namens ‹Wide Open Spaces› geschrieben. Ich möchte in Zukunft definitiv mehr in diese Richtung machen. Um keine Zeit für Bandproben verschwenden zu müssen, ist Neil Hannon derzeit ohne Band, dafür mit Piano und seinem Album ‹Bang Goes the Nighthood› auf Europa-Tour.

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Photography: Rachel de Joode

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Schuhe: Gucci, Hugo Boss, Stine Goya, Prada, Acne, Balenciaga Tasche: Nina Peter Pullover: Alberta Ferretti Strumpfhose: YSL Handschuhe: Topshop

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Shirt: Lala Berlin

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Rucksack: Henrik Vibskov Jacke: Wunderkind Strümpfe: Falke Jacke: Lala Berlin Hose: Hugo Boss Strumpfhose: Wolford Kleid: Boss Black Tasche: Stine Goya

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Hut: Henrik Vibskov Jacke: Mini Market Leggins: Stine Goya Rock: Kavier Gauche Top: Rick Owens Rock: Comme des Garçons Hose: Weekday Strümpfe: Falke, Prada Pullover: Hendrik Vibskov

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Clutch: Carin Wester Hut braun: Stine Goya Hut grau: Comme des Garçons Strümpfe: Falke Handschuhe: Nina Peter Strumpfhose: YSL BH: Wolford

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Hose: Lala Berlin Top: Hugo Boss Handschuhe: H&M Tasche: at Perfectprops Strümpfe: Falke Tasche: Stine Goya Hose: Hugo Boss

Photography: Rachel de Joode, racheldejoode.com Hair & Make up: Catrin Kreyss @ PERFECTPROPS Styling: Alessandra Coico @ PERFECTPROPS 87


vertreter

Name: Overkneeboots Geburtsjahr: 1961 Typ: Lederstiefel Besonderheit: grosses Einfüllvolumen

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amen sind nicht immer Schall und Rauch, wie Goethe uns in seinem ‹Faust› glauben lassen wollte, Namen sind mitunter auch identitätsstiftende Klassifizierungsmerkmale. Wenn ein Schuh beispielsweise durch seine öffentliche Betitelung unwiederbringlich mit Assoziationen an das horizontale Gewerbe belegt ist, verrät diese Tatsache gleichwohl einiges über sein Image. Ja, der Nuttenstiefel könnte sicherlich einen charmanteren Kosenamen tragen. Dabei hatte seine Geschichte vergleichsweise harmlos begonnen: Emma Peel, die durch und durch emanzipierte Amateuragentin aus der TV-Serie ‹Mit Schirm, Charme und Melone›, fiel Anfang der 1960er nicht nur durch Lederkorsagen mit Stachelhalsband in feinster SM-Optik auf, sondern hauptsächlich durch einen hautengen Ledercatsuit. Die dazugehörigen Stiefel, die bis über die Knie reichten, fungierten neben all ihren optischen Reizen in erster Linie als Geheimversteck für Emmas Revolver. So weit, so nützlich. Etwa 30 Jahre später tauchten die Stiefel wieder auf – an den Beinen von Julia Roberts, die von der Prostituierten Vivian Ward zur ‹Pretty Woman› metamorphisierte. Die Hollywood-Karriere der US-amerikanischen Schauspielerin begann mit der Szene, in der sie in überkniehohen Lacklederboots lasziv

Text: Bastian Steineck Illustration: Adrian Riemann

Das Nuttenimage ist passé: Die Overkneeboots haben Einzug in die züchtige Damenmode erhalten. kinki vertreter

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über den Rodeo Drive stöckelt, um sich von Richard Gere aufgabeln zu lassen – die züchtige Karriere der Lederboots war damit allerdings zu Ende. Wer sich von nun an mit derartigem Schuhwerk in die Öffentlichkeit wagte, wurde zielstrebig dorthin geschickt, wo Körperlichkeit gegen Geld getauscht wird. Beim Studium der äusseren Erscheinungsmerkmale verwundert es beinahe, dass der sinnlich-erotische Charakter der körperbetonten Stiefel nicht schon eher erkannt und genutzt wurde. Schliesslich lassen die hohen Absätze und der lange Röhrenschaft die Beine länger erscheinen, während das hervorblitzende Stückchen Haut genug Raum für Fantasie und Spekulation bietet. Aus Gleichgewichtsgründen wird der Po nach hinten ausgestellt, die Brust nach vorne geschoben. Dass zudem alle Liebhaber von Lack und Leder auf ihre Kosten kommen, bedarf keiner weiteren Erklärung.

Lack und Leder für Michelle Obama Doch die verruchten Jahre sind vorbei: In Kombination mit Röhrenjeans oder Leggins fand der Overknee spätestens in den Winterkollektionen 2009 seinen Platz in der züchtigen Damenmode gängiger Schuhlabels, die den Besitz der ehemaligen Nuttenstiefel längst legitimiert und für trendwürdig befunden hatten. Präsidentengattin Michelle Obama bestellte gleich zwei Paar beim französischen StarDesigner Robert Clergerie, während Popsternchen wie Lohan, Knowles und Rihanna die Stiefel seit geraumer Zeit auf den Konzertbühnen dieser Welt spazieren führen. Knallige Rot- und schimmernde Schwarztöne sind gedeckten Farben gewichen, genug Stauraum für einen Revolver ist allerdings noch vorhanden.



Narumi Shibori

‹Wringen, Pressen und Drehen› klingt nach Schweiss­ tropfen und Handwäsche, wird im Japanischen aber in einem Verb ‹shiboru› zusammengefasst und beschreibt die Hauptcharakteristika der traditionellen Veredelungs­ technik ‹Shibori›. Das Label Suzusan verbindet dieses Handwerk mit innovativem Design und stellt die Jahrhun­ derte alte Expertise in einen neuen Kontext. Text und Interview: Florence Ritter

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b Origami, Furoshiki oder Shibori – die japanischen Falt-, Verpackungsund Verarbeitungstechniken erfreuen sich zurzeit grosser Beliebtheit in Europa und setzen sich als Kunst, Design, Schmuck, aber auch als Marketing Tool fest. Während zu Stöckelschuhen und Fröschen gefaltete Banknoten als Werbeträger über den Bildschirm tänzeln, dringt das weniger bekannte Furoshiki – eine umweltfreundliche Verpackungstechnik, die musterhaft zu unserem Zeitgeist passt – gerade erst in unser Bewusstsein ein. Die Hinwendung zur Kultur des Landes der aufgehenden Sonne ist nichts Neues, schon im 18. Jahrhundert wurde der Begriff ‹Japonismus› von europäischen Künstlern geprägt, die sich japanischer Stilmittel bedienten. Immer wieder erfuhren Theater, Tanz, Kunst, aber auch Kulinarik aus Nippon Beachtung. Im Moment sind es die japanischen Verarbeitungstechniken, die Europa erobern. Im Gespräch mit Hiroyuki Murase, dessen Vater Shibori-Meister ist, wird klar, dass es einerseits eine Schmach ist, das Interesse an den traditionellen Techniken als Trend zu bezeichnen, dass die Neugier der westlichen Welt andererseits aber auch eine Chance für das aussterbende Handwerk bedeutet. kinki mode

Die Familie Murase praktiziert ihr Handwerk mittlerweile in der vierten Generation. Seit über 100 Jahren wird die Fertigkeit des Shibori in der Familie weitergegeben. Im japanischen Arimatsu veredelt der Vater, Hiroshi Murase, Stoffe und Fasern in aufwendiger Handarbeit mit der Shibori Technik. Die Textilien werden auf eine spezielle Weise gefaltet, abgebunden und abgenäht, sodass gewisse Stellen von der Färbung ausgespart oder bestimmte Farbverläufe und -kontraste erreicht werden. Neueren Verfahren ist es zu verdanken, dass die dreidimensionalen Strukturen und Muster erhalten bleiben, welche die Erscheinung und Haptik des Stoffes zum Erlebnis machen.

Tradition goes fashion

Als der älteste Sohn Hiroyuki nach Düsseldorf zieht, um Bildhauerei zu studieren, beginnt er erstmals seinen Vater bei Ausstellungen in Europa zu unterstützen. Es reifen in ihm erste Shibori Ideen und Designs, welche die veredelten Stoffe aus dem Kontext der traditionellen japanischen Kleidung heben und welche schliesslich in einer Schalkollektion kulminieren. Mit seinem Mitbewohner Christian Dietsch macht er sich selbständig und gründet das 90

Label Suzusan, für das er in Zusammenarbeit mit seinem Vater neue Entwürfe und Designs entwirft, die in Arimatsu per Shibori Technik umgesetzt werden. Heute setzt sich die Familie dafür ein, dass das traditionelle Shibori Handwerk als Profession gestärkt und der Betrieb des Kunsthandwerks in den Heimatstätten Arimatsu und Narumi wieder aufgenommen wird. Seit der Eröffnung des Unternehmens 2008 in Düsseldorf wird der europaweite Vertrieb des Labels Suzusan aufgebaut. Zwei Linien stehen im Programm: Suzusan Accessoires und Suzusan Luminaires. Neben individuellen Schals, Stolas und imposanten Lampen, die durch die Stoffstrukturen harmonische Lichtspiele produzieren, werden die verarbeiteten, hochwertigen Textilwaren auch an Modedesigner, Händler, Innenarchitekten und Möbeldesigner verkauft – darunter auch international bekannte Designer und Labels wie Junya Watanabe, Calvin Klein, Issey Miyake und Yohji Yamamoto. Wir haben mit Hiroyuki Murase, der die Öffnung gegenüber westlichen Ideen, Modedesignern und modernem Design in die Wege geleitet hat, über Tradition, Handwerk und Leidenschaft gesprochen.


‹Schönheit ist in Japan nicht logisch erklärbar. Man denkt nicht mit dem Kopf, sondern mit der Hand.› 1

Das Aufkommen von japanischen Verarbei­ tungstechniken wird in Europa im Moment als eine Art Trend bezeichnet. Was halten Sie davon? Wenn dem so ist, dann machen wir diesen Trend schon seit 1 000 Jahren. Ich finde, dass die japanische Kultur und Schönheit nicht nur den Japanern vorbehalten ist, deshalb ist es gut, wenn andere Kulturen sich dafür interessieren. Chanel ist auch nicht nur für die Franzosen.

‹Die Gesellschaft wendet sich virtuellen Informatio­ nen zu, dabei geht verloren, was man mit den Händen fertigen kann.› Sie haben die Arbeit Ihrer Eltern erst rich­ tig entdeckt, als Sie in Deutschland studiert haben. Wie kam es zur Rückbesinnung? Als ich in Japan war, gab es bei mir zu Hause keinen Platz ohne Stoffe: im Badezimmer, im Garten, in der Küche. Die Toilette war der einzige Ort, an dem ich keine Stoffe sah. Es war einfach zu viel. Ich wollte Künstler werden und bin nach Deutschland gegangen. Aus der Distanz betrachtet, fand ich Shibori plötzlich interessant. Es war eine Art Wendepunkt.

Interview kinki magazine: Wie würden Sie typisch japa­ nisches Design beschreiben? Hiroyuki Murase: Japanisches Design ist unlogisch, eine Art Gegenkultur, und es zeichnet sich durch Handarbeit aus. Hier in Europa fasst man Japan als simpel, klar und sauber auf, aber es ist eigentlich eine Gegenbewegung zur Massenkultur. In Japan hat man eine andere Auffassung von Luxus, eine beschädigte Teeschale findet man beispielsweise schön: Schönheit ist nicht logisch erklärbar. Man denkt nicht mit dem Kopf, sondern mit der Hand. Das ist etwas Besonderes an Japan, das, wie ich denke, auch im Design so funktioniert.

Wie lange dauert die Veredelung von Stoffen durch Shibori und wie gelingt es, dass die Falten und Formen erhalten bleiben? Es gibt manche Techniken, die zuweilen mehr als ein halbes Jahr dauern. Wenn man Geld und Zeit hat, kann man alles machen. Shibori ist eine reine Färbetechnik – wie Batik. Der Stoff wird abgebunden oder abgenäht und in Farbe getaucht. In diesem Fall wird das Material nicht nur gefärbt, sondern auch mit Dampf erhitzt – wie in einem Schnellkochtopf. Dadurch halten die Strukturen und Falten. Sogar in der Waschmaschine. Ist Shibori ein Handwerk, eine Leidenschaft, eine Kunst oder eine Lebensphilosophie? Es ist ein Handwerk, das meine Leidenschaft ist. Für mich ist es keine Kunst. Kunst mache ich für mich, Design mache ich für an3

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dere Leute. Ich sehe mich mehr als Handwerker und Designer, ich mag es, wenn meine Hände in Bewegung sind. Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Mittlerweile gibt es in der Shibori Tradition immer weniger Nachfolger. Früher gab es Tausende Handwerker, jetzt sind es nur noch ca. 300 Leute in meiner Heimat. Die Gesellschaft wendet sich virtuellen Informationen zu, dabei geht verloren, was man mit den Händen fertigen kann. Ich wünsche mir, dass die Leute sich wieder der traditionellen Verarbeitung zuwenden. Gibt es Designer, mit denen Sie gerne zusammenarbeiten möchten? Vielleicht mit Raf Simons, Hussein Chalayan oder dem Künstler Tal R. Weitere Info findest du unter suzusan­shibori.com.

1 Ladies Silk Scarf, Suzusan Accessoires

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2 Handarbeit mit viel Liebe zum Detail 3 Eine Frau veredelt einen mass­ geschneiderten Suzusan Coat für die Leuchtenserie Su­ zusan Luminaires von Hand 4 Licht in Haute Couture, Suzu­ san Luminaires 5 Suzusan Luminaires 91

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‹Der Gleichmut des Dandytums ist eine Pose des Geistes, der sich mit Vielerlei befasst hat und zu angewidert ist, um sich für etwas zu begeistern.› Jules Barbey d’Aurevilly

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Die besondere Sorte Mann

Männer dieser Welt: Packt die Kniebundhosen aus und verbrennt eure RÜhrenjeans. Man munkelt seit geraumer Zeit, das Dandytum sei zurßck. Modelabels wie Herr von Eden, Hannibal und Burberry machen es vor und kleiden den Mann wieder so ein, dass Frau ganz neidisch wird. Doch genau so wie eine Schwalbe bekanntlich noch keinen Sommer macht, macht ein Herrenanzug noch keinen Dandy. Deshalb hier ein kleiner Guide zum Dandysein. Text: Ramona Demetriou, Fotos: Pia Schweisser 93


G

efühle haben ihre Schicksale. Es gibt eines, gegen das alle Welt unerbitt­ lich ist: die Eitelkeit.› Über einen Dan­ dy zu schreiben, ohne dabei das Thema Eitelkeit anzusprechen, ist schlichtweg unmöglich. Es ist die Grundvoraussetzung eines Dandys. Der Keim, aus dem alles wächst. Das wusste auch Jules Barbey d’Aurevilly, der Urheber obigen Zitats. Der Schriftsteller, der selbst kein Dandy war, machte sich 35 Jahre lang Gedanken über das Thema. Im Jahr 1879 veröffentlichte er schliess­ lich ein kleines Büchlein mit dem Titel ‹Du Dandysme›. Darin analy­ siert er diese besondere Sorte Mann. Rund hundert Jahre vor der Veröffentlichung hatte das Dandy­ tum mit Vertretern wie Beau Brum­ mell in England und Frankreich seine Blütezeit.

deshalb dazu auf, ‹zu leben und zu schlafen vor einem Spiegel›.

Social exclusive

Bei der Auswahl der Kleidung muss der ange­ hende Dandy peinlichst genau darauf achten, keinem Trend zu folgen. Denn ein Dandy kleidet sich niemals nach der Mode der Zeit. Mit seiner Kleidung hebt er sich optisch vom Rest der Gesellschaft ab. Distanz ist für den Dandy aber

Maskerade und mehr

Doch zurück zur Basis des Dandys: der Eitelkeit. Das gebrandmarkte Gefühl ohne Vorurteile zu betrach­ ten, fällt den meisten Menschen schwer. Während Selbstbewusst­ sein in unserer Zeit ein Must­Have ist, wird Eitelkeit nur ungern gese­ hen. D’Aurevilly wertet die Eitelkeit jedoch nicht ab. Für ihn ist das Gefühl positiv besetzt, denn im Ge­ gensatz zur Liebe oder Freund­ schaft, die jeweils selektiv sind, ist die Eitelkeit universell und schliesst keinen Menschen aus. Es geht beim Dandysein also im Grunde nicht da­ rum, wer einen bewundert, sondern um die Bewunderung an sich. Die Eitelkeit geht Hand in Hand mit einem weiteren Merkmal des Dandys: dem Hang zum übertriebe­ nen Selbstkult. Somit hätten al­ le Web 2.0 Narzissten, die sich in sozialen Netzwerken tummeln und ihre Person mit Bildern, Videos und orthografisch bedenklichen Statusmeldungen zur Schau stel­ len, die besten Voraussetzungen für eine Karriere als Dandy, don’t they? Well, they don’t! Denn um ein echter Vertreter dieser Spezies zu sein, bedarf es mehr. Neben der Ästhetik muss ein Dandy auch die Manieren und Eloquenz eines Gentlemans mitbringen. Das Dandytum umfasst mehr als nur die Ober­ fläche. Es ist eine Lebensform, die in ihren Merk­ malen weit über das Sichtbare hinausgeht und in ihren Nuancen nicht kopierbar ist. Oder wie d’Aurevilly so schön sagte: ‹Man kann sogar in einem Lumpenanzug Dandy sein.› Wenn es also nicht nur um einen schicken Anzug und etwas Pomade im Haar geht, wie kann man dann heu­ te zum Dandy werden? Erstmal muss man sicherlich erkennen, dass Kleidung und Ästhetik eines Dandys mehr als nur eine Maskerade sind. Beides bedeutet für ihn die Luft zum Atmen. Es ist sein Beruf und gleichzeitig seine Berufung. Charles Baude­ laire forderte seinerzeit seine Dandykollegen kinki mode

vorhergesehene zu tun› und dabei dennoch immer die Regeln zu beachten. Das ist deshalb wichtig, da es ohne Regeln keine Verstösse gibt. Denn wo alles erlaubt ist, fällt es schwer Provokatives oder Unvorhergesehenes zu in­ szenieren. Der Dandy unterscheidet sich in diesem Punkt von einem Selbstdarsteller oder einem Exzentriker. Während die beiden letz­ teren ausschliesslich auf Aufmerksamkeit aus sind, ist es das Anliegen des Dandys, mit unge­ zwungenem Verhalten Ästhetik zu kultivieren. Doch besonders die Merkmale Distanz und Provokation machen das Comeback des echten Dandy­ tums im 21. Jahrhundert beinahe unmöglich. Denn in einer Zeit, in der man durch moderne Kommuni­ kationsmedien nonstop erreichbar und omnipräsent ist, kann soziale Exklusivität nur schwer erreicht werden. Und in einer Gesellschaft, in der es kaum noch Tabus gibt, hat man nur wenige Möglichkeiten, welche zu brechen. Der Autor Gün­ ter Erbe sieht nur eine Möglich­ keit, auch in der heutigen Zeit Dan­ dy zu sein: Durch den Rückzug von der gesellschaftlichen Bühne in eine mönchische Askese. Wem das für den Anfang zu drastisch ist, der kann auch einfach mal öfter das Mobiltelefon ausschalten oder seine 460 Facebookfreunde mit einem gelöschten Account überra­ schen. Nobody said it was easy. Literatur zum Thema: Jules Barbey d’Aurevilly – Du Dandysme Günter Erbe – Der moderene Dandy Benita Eisler – Byron

nicht nur in Bezug auf die Optik wichtig. Auch von seinem sozialen Umfeld versucht er sich auf eine besondere Art und Weise zu unter­ scheiden. Einer der bekanntesten Repräsentan­ ten des literarisch­künstlerischen Dandytums ist Lord Byron. Der englische Spätromantiker faszinierte die Gesellschaft seiner Zeit nicht nur mit Gedichten, sondern auch durch seine Un­ nahbarkeit. Günther Erbe beschreibt diesen Charakterzug in seinem Essay ‹Der moderne Dandy› als eine kalte Aura, die durch Uner­ schütterlichkeit und Ungerührtheit eine beson­ dere Form von Schönheit ausdrückt. Die Distanz zu anderen zu wahren, ist nicht immer einfach. Der typische Dandy behilft sich mit subtiler Provokation, die aber niemals die Grenzen überschreitet. Für D’Aurevilly zählt Pro­ vokation zum Hauptmerkmal eines Dandys. Sie besteht für den Autor darin, ‹immer das Un­ 94

‹Der Dandy amüsiert nicht, er dominiert. Die Aura seines Auftretens ist die Kälte.› Günter Erbe



Hashem elokeinu, hashem echad

Photography: Martha Boxley

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Obsession durchs Objektiv

Wer wie der amerikanische Fotograf Mark Seliger über die Jahrzehnte hinweg für das Rolling Stone Magazin die Coverfotos produziert, später für den gigantischen Condé Nast Verlag kommerziell erfolgreich gearbeitet, sowie jeden denkbaren Filmstar, jedes Topmodel und alle bedeutenden Musiker abgelichtet hat, wird sich nicht mehr so ohne weiteres für ein neues Projekt begeistern lassen. Denkt man. Doch dann treffen wir Mark in Mailand und sind einfach nur fasziniert von seinem fast kindlichen Enthusiasmus und seiner kompromisslosen Hingabe an die Fotografie. Ein Porträt. Text und Interview: Matthias Straub, Fotos: Promo

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ark Seliger wurde 1959 in Amarillo, Texas, geboren, wo er mit seinen Eltern Maurice und Carol Lee, zwei älteren Brüdern und einer jüngeren Schwester lebte. Im Jahr 1964 zog die Familie nach Houston. Sein Bruder Frank versprach ihm dessen Diana-Kamera, wenn Mark es schaffen sollte, in einem Baseballspiel der Juniorenliga einen Punkt zu erzielen. Einen direkten Punkt erzielte er zwar nicht, aber er erreichte eine Base und die Kamera wechselte den Besitzer. Schnell wurde die Dunkelkammer zu seiner Leidenschaft: der junge Fotograf experimentierte mit selbst gedruckten und entwickelten Bildern. Mark besuchte die Visual Arts High School in Houston und versuchte sich dort zuerst als Maler. Wenig erfolgreich, setzte er seine

Ausbildung anschliessend an der East Texas State University fort, wo seine Zukunft als Fotograf bereits Formen anzunehmen begann: er startete sein Studium der Geschichte der Dokumentarfotografie. Im Jahr 1984 zog er nach New York. Drei Jahre später fing er beim Rolling Stone als Juniorkraft an und arbeitete sich dort in den Jahren bis 1992 zum Chef-Fotograf hoch. Während seiner Zeit beim Rolling Stone machte Mark die Aufnahmen für mehr als 125 Titelseiten und es entstand eine enge Partnerschaft zwischen ihm und dem Design Director des Magazins, Fred Woodward, die bis heute andauert. Zusammen führten sie Regie bei zahlreichen Videoproduktionen von Künstlern wie Willie Nelson, Lenny Kravitz und Elvis Costello. 103

‹Being a photographer is also about being able to stretch yourself, to make a situation credible, so you can show a connection among people.› Im Jahr 2002 verliess Mark das Rolling Stone und wechselte zur Condé Nast Gruppe, bei der er noch immer unter Vertrag steht. Er fotografiert ausserdem regelmässig für Vogue Italia, L’Uomo Vogue und Vogue Deutschland. Obwohl die wenigsten Leute seinen Namen gehört haben, gehören Marks Bilder zu den Ikonen der Musik- und Modefotografie, und mindestens


ein Motiv hat jeder schon mal gesehen: zum Beispiel Lenny Kravitz mit seiner Flying-V-Gitarre in einer roten Farbwanne, die halbnackte Giselle Bündchen mit Indianerkopfschmuck, die komplett nackten Red Hot Chili Peppers oder das eindrückliche Schwarz-Weiss-Porträt von Kurt Cobain. Im Jahr 2006 gründete Mark zusammen mit Brent Langton in New York die ‹401 Projects›Galerie, einen gemeinnützigen Veranstaltungsort für Fotokunstausstellungen, wo die beiden nur Fotos von Künstlern zeigen, die ihnen persönlich am Herzen liegen. Seiner Leidenschaft für die Dunkelkammer geht Seliger immer noch nach, indem er selbst für grossformatige Bilder Platin- und Palladiumdruckverfahren nutzt. Museen und Galerien überall auf der Welt stellen seine Arbeiten aus.

‹What I love about my job is that it’s never the same thing twice. Every day is different, there’s always something new and unexpected, an adventure to embrace head-on. To be honest, taking pictures became obsessive for me!› Marks Arbeiten sind von bedeutenden Organisationen mit Preisen geehrt worden, unter anderem von der Society of Publication Designers, dem Alfred Eisenstaedt Award, Communication Arts und den American Photography und Photo District News. Im vergangenen Herbst gewann er den angesehenen Lucie Award für herausragende Leistungen in der Porträtfotografie. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass Mark für den bekannten Lavazza-Kalender als Fotograf angefragt wurde. Anders als Annie

Leibovitz, die 2009 Ikonen des italienischen Lifestyles in Szene setzte, oder Miles Aldridge, der 2010 mit seinen Fotografien farbenfrohe Interpretationen italienischer Song-Klassiker erstellte, nähert sich Mark dem ‹typisch› Italienischen für die Edition 2011, die im Herbst in Mailand präsentiert wurde, über das Thema Liebe an. Seine Bilder zeigen die Romantik und Sinnlichkeit eines Treffens zu zweit und erzählen dabei ironisch und surreal sechs verschiedene Geschichten im Rhythmus der Jahreszeit: sechs Augenblicke einer intimen Beziehung zwischen ihm, ihr – und dem Kaffee.

‹For me, love is all about finding something that excites you, and allowing yourself to share those passions, cherish them and involve them in every minute of your life. It might be someone you love or something you love doing. Passion is the ideal form of love.› Mark Seliger schuf für die Kalendermotive eine perfekt inszenierte Kulisse, auf der die Models sich voll entfalten können. Seine Bildwelten erzählen von italienischen Liebesgeschichten. So zitiert eine der Fotografien beispielsweise die Balkonszene von Veronas berühmtestem Liebespaar Romeo und Julia. Seliger spielt dabei mit den ‹Kultlandschaften› Italiens und versetzt die Liebesszenen an die romantischsten Orte Italiens. Als weitere Kulissen dienten ihm die Klippen vor Capri, eine Landschaft in der Toskana, die mit Wäsche verhängten Gassen von Neapel, ein verzauberter Garten in Florenz und das überflutete Venedig. Die Bilder für den Lavazza Kalender 2011 zeichnen sich durch den für Mark typischen Stil

aus, der seine Fotografien wie Gemälde wirken lässt und damit die Realität zur Kunst macht. Zudem spiegeln sie sein Talent wider, die Atmosphäre und in diesem Fall die Sinnlichkeit einer Situation einzufangen. ‹Es geht darum, sich eine Geschichte auszudenken und sie zu erzählen: das Bedürfnis, sie wahr werden zu lassen. Ich habe mich selbst in das Land Italien wegen seiner Menschen verliebt, der Lebensstil hat hier eine gewisse Qualität, das macht Italien wirklich einzigartig›, erklärt Mark Seliger.

Interview kinki magazine: Kannst du in kurzen Sätzen definieren, was für dich in dem Wort ‹Liebe› steckt? Mark Seliger: Die Essenz der Liebe? Für mich besteht die Liebe in der Suche nach etwas, das du aufregend findest. Darin, diese Aufregung zu fühlen. Zu entdecken, was dich berührt, um diese Leidenschaften dann mit anderen zu teilen, sie wertzuschätzen und in jeden Moment deines Tages einfliessen zu lassen. Das kann ebenso eine Person wie eine Beschäftigung sein, die du liebst. Und Leidenschaft ist für mich die Idealform der Liebe. Wow, das ist ja reine Poesie! Wer kommt denn in den Genuss deiner Liebe? Es gibt mehr als nur eine Liebe in meinem Leben. Die Liebe zu meiner Familie, meinen Freunden, zu den Menschen, die ich treffe. Die Arbeit eines Fotografen ist eine unglaubliche Reise. Sie bringt dich den Menschen, mit denen du arbeitest, sehr nahe. Gerade habe ich zum Beispiel eine Menge neuer Freunde in Italien gewonnen. Du scheinst ja wirklich fasziniert von deiner Arbeit zu sein! Welches sind denn die Schwierigkeiten oder Herausforderungen deines Berufs? Fotograf zu sein bedeutet auch, sich selbst zu hinterfragen. Nur so kann man ein glaubwürdiges Szenario entwerfen und eine Verbindung zwischen Menschen sichtbar machen. Es geht darum, sich eine Geschichte vorzustellen und sie dann zu erzählen. Die Idee, die du im Kopf hast und der Wunsch, sie umzusetzen, müssen ehrlich sein. Aber dazu braucht man talentierte Leute, gute Schauspieler. Die Personen zum Beispiel, die wir für den LavazzaKalender ausgesucht haben, waren ideal, das heisst glaubhaft begeistert von der Idee und dem Moment. Sie waren in der Lage, die Verbindung herzustellen, um die es mir ging. Weitere Info findest du unter 2011.lavazza.com.

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Consollection Phil, 33 Jahre, aus dem Sauerland besitzt eine stolze Sammlung von 170 Videospielkonsolen aus den Jah­ ren 1972 bis heute. Auf consollection.de gewähren er und der Designstudent Patrick einen Blick auf diese immense Sammlung und liefern umfangreiche Hinter­ grundinformationen zu den einzelnen Konsolen. Wie es dazu kam, erzählt uns Phil am besten gleich selbst. Protokoll: Dinah Brunner

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or dem Sammeln stand der Konsum. Begonnen mit einem Super Ninten do, fortgesetzt mit einem N64, abgelöst von einem 3DO, welcher wiederum für eine Playstation verkauft wurde, habe ich Videospiele gespielt wie jeder andere auch: mal mehr, mal weniger. Was alt wurde, wurde verkauft und vom Geld wurde wieder Neues angeschafft. Aber irgendwann sehnte ich mir einige Klassiker zurück: Pilot Wings auf dem SNES, Golden Eye auf dem N64, Tetris auf dem Gameboy – und wie waren wohl die ersten Super Marios auf dem NES? Oder Donkey Kong auf dem Atari, das hatte Papa doch früher schon! Also steckte ich meine Nase in die Vergangenheit der Videospielindustrie und erstand auf e-Bay erste Geräte von vor meiner Zeit. Und so ging es weiter mit mehr Konsolen, seltenen Geräten, obskuren Systemen und viel Recherche, was es da überhaupt in aller Welt so alles gab und gibt. Es entstanden Einkaufslisten, ich fand Gleichgesinnte und entwickelte die Lust, mehr und noch mehr aus der Chronologie der Videospiele zu sammeln und zu archivieren. Mittlerweile habe ich Videospielkonsolen auf Trödelmärkten in Amsterdam, von einem Mönch in Virginia, von Auktionsplattformen in Hong Kong und Japan oder einfach an Sammlerbörsen im nahen Ruhrgebiet gekauft.

On and on

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Der Gamecube ist ein grossar­ tiges System mit viel Power, dem allerdings eine umfangreiche Bibliothek fehlte. Es war kein Flop, hat aber bei einem Vergleich mit der PS2 dennoch enttäuscht. Verschiedene Farbversionen sowie eine von Panasonic lizen­ sierte Version mit eingebau­ tem DVD­Player sind erschienen.

Erst spät erblickte die Sammlung durch das Consollection-Projekt das Licht der Öffentlichkeit. Es gibt sicher grössere Sammlungen, aber unsere Präsentation ist aufwendig und hat offenbar einen Nerv getroffen – zwischen Nerdtum und Design. Retro ist in und Videospiele waren noch nie so gross wie momentan. Weitere Info findest du unter consollection.de.

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1972

Bingo 2000 ist ein recht merk­ würdiges Standalone­System, welches durch LEDs Spiele in Grundzügen darstellt. Die Ursprünge liegen wahrschein­ lich in den frühen 70er­Jahren. Die Firma Waddingtons aus England war europäischer Lizenznehmer.


1977

Es wird behauptet, dass dieses Pong das meistverkaufte deut­ sche Pong­System ist. Wenn man sich anschaut, wie oft man es auch heute noch finden kann, könnte man dem uneingeschränkt zustimmen.

1967

Ein simples Pong­System und das erste in einer langen Serie der Philips 22er­Reihe, in der mindestens zehn verschiedene Pongs veröffentlicht wurden.

1987

Die PC­Engine war ein gros­ ser Erfolg in Japan. Sie existiert in zahllosen Varianten mit verschie­ denen Add­Ons und Namen – auch in den USA. Ein Europa­Release wurde abgesagt.

1980

Das Intellivision ist ein weite­ res bekanntes System aus den 80ern. Es wurde in den Konkurrenzkampf mit Atari und Coleco geschickt und war in den USA recht erfolgreich. Eini­ ges überraschendes Zubehör wie z.B. das Intellivoice Modul wurde veröffentlicht. Das System wurde vom Intellivision 2 beerbt.

1995

Dies ist die letzte Version des Neo Geo CD­Systems, welches end­ lich schnellere Ladezeiten brachte und mit der gesamten Neo Geo CD­Bibliothek kompatibel war.

2008

1987

Das XE GS ist eine Mischung aus Computer und Videospielkon­ sole. Es mutet recht merkwürdig an und hat nur wenige nennens­ werte Highlights in seiner Spie­ lebibliothek. Nichtsdestotrotz ist das XE GS ein recht passa­ bles Sammlerstück.

1993

Das Pico ist mit seinem An­ satz ‹Lernen durch Spielen› ein ungewöhnlicher Versuch ei­ nes der grössten und bekann­ testen Konsolenherstellers. Es fokussiert Kinder unter zehn Jahren und kombiniert Action auf dem Fernseher mit Stift und Papierbüchern, die jedem Modul beiliegen und Teil des Spiels sind. 107

Der Game Boy Micro ist der kleinste Game Boy, der je­ mals veröffentlicht wurde. Er ent­ hält die vom GBA bekannte Tech­ nik in einem unglaublich kleinen Gehäuse und ist zudem mit einem klaren, hintergrundbeleuchteten Screen ausgestattet.




kopfkino vom umschlag bis zum abspann

Woran Tom Cruise und Nicole Kidman in Eyes Wide Shut kläglich gescheitert sind, reüssieren die Bücher und Filme, denen wir euch diesen Monat ausliefern. Sie protzen vor Sinnlichkeit und Leidenschaft für Menschen, Luxus, Design, Sadomaso, Monster und Gott – bis zum Fanatismus. Buch hört

chiater stilvollen Komfort ins Therapiekämmerchen brachte, und der millionenfach produzierte ‹Plastic Armchair› gehören längst zu den Klassikern des Möbeldesigns. Ende der 50er-Jahre wurden die Eames Designs von den renommierten Möbelherstellern ‹Herman Miller, Inc.› (in den USA) und ‹Vitra International› (in Europa) übernommen, wo sie bis heute produziert und vertrieben werden. In ganzen zwei Bänden à 800 Seiten haben sich Marilyn und John Neuhart, die seit den 50er-Jahren für Eames tätig waren, daran gemacht, die höchst interessante Biografie der Eames Möbel festzuhalten: Ein Designschinken für Passionierte mit gutem Sitzpolster.

geistige Entrückung einmal mehr, sodass wir behutsam das Buch an unser Ohr halten und dem ‹bruit de fond› lauschen dürfen. Erschienen bei JSBJ Publications, ca. CHF 40.–

sitzt

JSBJ: Bruit de fond – Background noise Das französische Künstlerkollektiv ‹Je suis une bande de jeunes› feierte seinen ersten Auftritt im kinki magazine schon, als wir einjährig noch in unseren Kinderschuhen tanzten. 18 Ausgaben später sind wir den Frenchies um Jérémie Egry, Nicolas Poillot und Aurélien Arbet und ihren Arbeiten noch immer hörig und halten mit verklärter Vorfreude ihr zweites Buch ‹Bruit de fond – Background noise› in den Händen. Nicht, dass sie uns über diese Zeitspanne hätten dürsten lassen – im Gegenteil: Das unermüdliche kreative Schaffen als Verleger, Kuratoren, Organisatoren und Künstler gipfelte regelmässig in neuen kollektiven Publikationen der um sie gescharten Fotografen und hielt uns begierig bei der Stange. Beim jüngsten fotografischen Werk steht die Verbindung akustischer und visueller Elemente im Zentrum der ausgewählten Bilder. Die Grenzen zwischen Bild und Klang werden von den jungen Fotografen kreativ und konzeptuell verwischt. Und durch die mannigfaltige Visualisierung des angedeuteten Hintergrundgeräuschs gelingt den jungen Wilden die optische und kinki kopfkino

Marilyn und John Neuhart: The Story of EAMES Furniture Ob am Flughafen, im Büro oder in der stilvollen Wohnung: irgendwo hat sich unser Allerwertester garantiert schon auf ein Eames Design gesetzt. Neben der weiten Verbreitung als Gebrauchsgegenstand im privaten und öffentlichen Raum finden sich auch zahlreiche der Eames Modelle auf den Sockeln zeitgenössischer Museen wieder, denn Charles und Ray Eames haben mit ihrem Möbeldesign Geschichte geschrieben. Dank ihrer innovativen Beiträge in den Bereichen Möbeldesign, Architektur, Industrial Design, Fotografie und Film gehören die beiden Amerikaner zu den einflussreichsten Designern des zwanzigsten Jahrhunderts. Während des Zweiten Weltkriegs produzierten die Eames im Auftrag der Navy Beinschienen, Tragbahren und Flugzeugteile aus geformtem Sperrholz, dem Material, aus dem später die berühmten ‹Molded Plywood Chairs› kreiert wurden. Auch der ‹Lounge Chair & Ottoman›, der manch einem Psy-

Erschienen beim Gestalten Verlag, ca. CHF 210.–

macht

von seinen zehn ‹Geboten› für ‹gutes Design›. Der Titel ‹Less and More› mag noch so leicht und bescheiden klingen, die umfassendste Werkschau zu Dieter Rams deutet da ganz andere Dimensionen an und auch die eindrücklichen, gefühlten vier Kilogramm Gewicht sprechen Bände. Internationale Designexperten erzählen Dieter Rams’ Geschichte, welche unweigerlich auch die Geschichte des Produkte- und Industrial Designs ist. Abgebildet sind alle von Rams gestalteten Produkte, zahlreiche davon aus seiner über 40-jährigen Arbeit bei Braun stammend. Stereoanlagen, Haartrockner, Elektrorasierer und die ersten Modelle eines Walkmans. Aber auch Sitzgelegenheiten und Regalsysteme, die er für Vitsœ und sdr+ geschaffen hat, sind zu entdecken. Und wenn man den Buchdeckel nach 800 Seiten zuschlägt, hat man nicht nur zahlreiche Designklassiker von Dieter Rams wiedererkannt, sondern weiss auch, was und wie Design ist und sein soll: so wenig Design wie möglich. Erschienen beim Gestalten Verlag, ca. CHF 65.–

Less and More – The Design Ethos of Dieter Rams Auch das dritte Buch zeugt von Überzeugung und schrankenloser Liebe zum Design, was im Falle von Dieter Rams, dem wohl einflussreichsten, lebenden Gestalter Deutschlands, zu einem beachtlichen Lebenswerk geführt hat. Sein Designuniversum ist geprägt von Minimalismus, Klarheit, Ästhetik, Funktionalität und Materialgerechtigkeit. Es wird geregelt 110


sieht

se Sitznachbar vor mir – sie waren wie ausgeblendet. Die abgedrehte Komödie über die wahre Geschichte des gewieften Betrügers Phillip Morris ist ein wahrhaft spassiges Unterfangen. Vom einst gottesfürchtigen amerikanischen Kleinstadt-Vorzeige-Bürger mutiert Morris nach einem Autounfall zum lebens- und sexhungrigen Homo. Der neue Versace-Lifestyle ist teuer und kann nur durch ausgetrickste Betrügereien aufrechterhalten werden. Bei einem seiner zahlreichen Knastaufenthalte trifft Morris auf sein pures Gegenteil: den scheuen Steven. Und ob fake oder real, beim schwul-schwülstigen, aber dennoch romantischen Ende war ich nicht die einzige im Saal, die geheult hat. Wirklich nicht!

DVD

gegen einen

Nobrow 1: Gods and Monsters Zugegeben, ‹Gods and Monsters› gleicht weniger einem Buch als viel eher einem Hybrid aus Bildergeschichte und Magazin. Tatsächlich erscheint das Buch, von dem wir hier die Nummer eins teasen, auch regelmässig, gleichwohl wechseln Inhalt und Illustratoren gänzlich. Die Nummer zwei behandelt beispielsweise das Thema ‹The Jungle›. Gleichbleibend ist dafür die Liebe und Sorgfalt, mit der die Produkte von ‹Nobrow Press› hergestellt werden. Die Edition des Buchs ist auf 3 000 numerierte Stücke limitiert, die – in zwei Volltonfarben auf hochwertigem Papier gedruckt – das Versprechen von Qualität und Sammlerwert einhalten. Die Abbildungen von Monstern und Göttern wurden aus den kreativen Köpfen und talentierten Händen von 24 Künstlern aus den Bereichen Illustration, Grafik und Text geschöpft. Allein das grosse Format manifestiert den Vorrang der Bilder gegenüber dem Text, in beiden kann man sich aber verlieren und herrlich der Reizüberflutung der Aussenwelt entziehen. Noch delikatere Werke gibt der Independent Verlag übrigens unter dem Namen ‹Nobrow Small Press› raus: diese Bücher und Prints werden mit Siebdruck gefertigt – verständlicherweise in noch kleinerer Auflage. So kann manch ein Monster, statt unters Kinderbett gejagt, als Poster ins Wohnzimmer gehängt werden.

J. P. Schaefer: Chapter 27 Dieser Film wagt einen Blick in die düsteren Abgründe der Leidenschaft. Dorthin, wo Menschen besessen sind von einer Person und dem Wunsch, diese zu besitzen. Sogar Jared Leto selbst soll noch monatelang nach dem Dreh traumatisiert gewesen sein von der übergewichtigen, psychopathischen Figur, die er im Film spielte: Mark David Chapman, der fanatische Beatles-Fan und berühmte Mörder von John Lennon. Chapman verinnerlichte Salingers Roman ‹Der Fänger im Roggen› dermassen, dass er in ihm die Aufforderung las, John Lennon umzubringen. In den Tagen und Stunden vor der Tat wird der Zuschauer in einen grauen, düsteren, unwirklichen Alptraum dieses kranken und gleichzeitig naiven Adoleszenten hineingezogen, dessen Wirkung noch lange nach dem berühmten Schuss nachhallt. Ein beachtliches Spielfilmdebut von Schaefer, das die Nerven gar nicht erst zu schonen versucht.

Bereits auf DVD erschienen.

für nichts

Rebecca Miller: Private Lifes of Pippa Lee Liebe Filmfreunde. Bitte lasst euch nicht blenden von der zugegebenermassen imposanten Liste an hochkarätigen Hollywoodschauspielern, die Private Lifes of Pippa Lee zieren. Denn das wäre auch schon der einzige Lichtblick an dieser Zeitverschwendung von einem Film. Freilich ist die Thematik der langsam verblühenden, Midlife-Crisis-geplagten und betrogenen Ehefrau (noch) nicht die unsere. Und vielleicht sollten wir uns genau deswegen dieses Drama der langatmigen Selbstfindung ganz einfach schenken. Denn auch wenn Julianne Moore als Sadomaso-Lesbe oder Monica Bellucci als äusserst unvegetarische Xanthippe die Orgasmen dieses Filmchens vortäuschen, machen sie doch nicht das schale Gefühl von Unbedeutsamkeit wett, das der Verfilmung des Rebecca Miller Romans nachhängt.

Bereits auf DVD erschienen.

mit allen

Erschienen bei Nobrow Press, ca. CHF 14.–

Die Einrichtung der eigenen Wohnung scheint unsere Rezensentin Florence Ritter auch in ihrer Buchwahl beeinflusst zu haben. Trotz leidenschaftlichen Durchblätterns wird es wohl nur fürs Expedit Regal reichen, wo sich immerhin die schönen Bücher über Möbel- und Produktdesign einordnen lassen.

Glenn Ficarra, John Requa: I love you Phillip Morris Schwer zu sagen, was die beiden Regisseure richtig gemacht haben: Die Story ist abgedreht und spielt fernab einer ernst zu nehmenden Realität, die Schauspieler demonstrieren aufgesetzt überzeichnete Klischees, die Bilder sind schrill und nebenbei gesagt: ich hasse Jim Carrey. Doch schon lange folgte ich nicht mehr so gebannt der Leinwand. Das übliche PopcornTüten-Geraschel und der zu gros-

Ab 19. November auf DVD erhältlich.

111

Kino

miteinander

Xavier Beauvois: Des Hommes et des Dieux Im Kloster Notre-Dame de l’Atlas in den algerischen Bergen führen neun Trappistenmönche ein friedliches, asketisches Leben. Integriert in die muslimische Gemeinde des Dorfes leben sie im friedlichen Nebeneinander mit ihren christlichen Nachbarn. Doch als islamistische Terroristen unweit des Klosters eine Gruppe Gastarbeiter ermorden, muss die Idylle der Mönche der Angst weichen, die urplötzlich die Hügel bis zu den vermoosten Treppen des Klosters empor kriecht. Nach und nach zeichnet sie sich in den Gesichtern der zu einer Familie zusammengewachsenen Glaubensgemeinschaft ab und erschüttert beim ein oder anderen das Vertrauen in den eigenen Glauben und Gott. Die Mönche müssen wählen: entscheiden sie sich für das eigene Leben und kehren nach Frankreich zurück oder harren sie ihrem göttlichen Ruf folgend im Kloster aus. Xavier Beauvois’ filmerische Umsetzung eines bislang noch ungeklärten, düsteren Kapitels des algerischen Bürgerkrieges bewegt durch Stille, grossartige schauspielerische Leistung, die schmerzlich schöne Landschaft Algeriens und nicht zuletzt durch die Weisheit, wie sie etwa die Figur des Abts Christian verkörpert. Ab 16. Dezember im Kino.

Wenn Anja Mikula mal wieder von der Romantik gepackt wird, muss Cathrin Michael schon mal als Mann herhalten. Zusammen schwelgen sie dann in leidenschaftlichen Tagträumen und fragen sich, wohin der Wind sie noch tragen wird.


schauplatz die besten adressen für kunst

Fotografie, Malerei, Installationen, Theater, Musik: Die Lissabonner Galeria Zé dos Bois wird allen Sätteln gerecht. Sie bietet Raum für die Präsentation, aber auch die Produktion von junger Kunst aller Art. Text: Dinah Brunner

Spachtel, Ton, Kamera oder Instrumenten. Denn anders als üblich können Künstler diese Galerie nicht nur als Ausstellungsort, sondern auch als Produktionsstätte nutzen. Während die einen noch letzte Nägel in die Wand schlagen, um ihre fertigen Werke zu präsentieren, wickeln andere im Nebenraum gerade mal den Pinsel aus dem Verpackungspapier. Bei so vielen neuen Künstlern und neuen Projekten mangelt es denn auch nicht an Kunstsammlern und Kuratoren aus ganz Europa, die sich für die ZDB und ihre Zöglinge interessieren.

I

n Lissabon, der ‹weissen Stadt am Tejo›, bleiben Leinwände alles andere als weiss und junge Talente bestimmt nicht unentdeckt. Dafür sorgt die Galeria Zé dos Bois, eine Non-Profit-Organisation, die sich für die Förderung nationaler und internationaler Künstler engagiert. In ihren Räumlichkeiten wird zeitgenössische Kunst erlebbar. Primäres Ziel des Kollektivs ist es, dass junge Künstler ihre Projekte ohne kommerzielle Barrieren durchführen können. kinki schauplatz

Arte e Música Den Fokus setzt die Galeria ZDB auf drei verschiedene Bereiche: Bildende Kunst, Darstellende Kunst und Musik, und deckt somit beinahe das ganze Spektrum der ‹Schönen Künste› ab. Werke von Pedro Paiva und João Maria Gusmão sind da ebenso zu bestaunen wie Filme des Jung-Regisseurs Gabriel Abrantes, welcher den Preis ‹best international short movie› am diesjährigen Film Festival von Locarno gewonnen hat. Und abends, wenn das Licht gedämmt

Seit der Gründung 1994 hat die ZDB verlassene Gebäude in Lissabons Stadtzentrum bewohnt und deren Restaurierung vorangetrieben. Momentan befindet sich das staatlich finanzierte Hauptgebäude im Szeneviertel Bairro Alto. Dort werden auf 2 500 Quadratmetern visuelle Kunstwerke präsentiert, Konzerte gespielt und Lehrprogramme durchgeführt. Ein anderes Gebäude, genannt Negócio, bietet Raum für Experimente, für frohes Schaffen mit 112

Oben links: Galeria Zé Dos Bois, Foto: Paulo Queiróz Oben rechts: Lower Dens Unten: Legendary Tiger Man

und die Boxen aufgedreht werden, betreten Musiker wie Lee Ranaldo, Bonnie ‹Prince› Billy, Lydia Lunch, FAUST oder Nina Nastasia die Bühne. Jedes Jahr präsentiert die ZDB über 180 Konzerte, 10 verschiedene Ausstellungen sowie zahlreiche Darbietungen anderer Bereiche. In diesem Kunst-Mekka ist bestimmt für jeden ‹gosto› etwas dabei. Galeria Zé dos Bois Rua da Barroca, no 59 1200-049 Lisboa Portugal zedosbois.org Ausstellungen: Mittwoch bis Samstag, 18 – 23 Uhr Konzerte: Wochentags ab 22 Uhr, freitags und samstags ab 23 Uhr Negócio: bei Präsentationen ab 21.30 Uhr Anstehende Konzerte: 01.12. Prince Rama (US) 05.12. Lower Dens (US) 25.12. Legendary Tiger Man (PT)


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henry und paul

Die mit den Unterhosen. Und verbotenen Brüsten. Und kleinen Mädchen. Text: Roman Neumann, Foto: Philippe Sir? Sprich, Henry. Sie glotzen, Sir. Hä? Sprich lauter, Henry. Sir ... Sie schauen der Frau am Nebentisch ständig auf den Busen. Es ist ihr unangenehm. Henry, alter Spielverderber. Ihr Gesicht hab ich bereits studiert. Es gibt nicht so viel her. Sir, man tut es einfach nicht. Zumindest nicht so offensichtlich. Wie bitte, Henry? Man tut es nicht? Dann hör dir das mal an: Ich sass einst im Café, da rannte ein kleines Mädchen vorbei, ein Kindergartenkind, unschuldig und klein. Und im Rennen kniff und juckte es dieses Mädchen wohl ganz fürchterlich, denn in vollem Lauf griff sie nach hinten und pulte ihre in den Po gerutschte Unterhose mit fünf Fingern heraus, genau so wie es der Tennisspieler, dieser Nadal, ständig macht. Was hat das jetzt mit Ihnen zu tun, Sir? Henry, niemand hat dem Mädchen zugerufen: Hör mal, das gehört sich nicht! Nein, mit Hingabe hat sie gezogen und gezerrt, bis dieses sperrige Ding in ihrer Hose gebändigt war, alle haben’s gesehen, alle haben gelächelt. Mit Verlaub, Sir, aber Sie sind kein kleines Mädchen mehr. Ach, darum geht’s doch nicht. Wenn unser kleines Mädchen mit der Unterhose älter wird, meinst du, sie wird das noch als 22-Jährige vor allen anderen an der Busstation machen? Meinst du, sie wird ungerührt daran herumzerren? Sir ... wohl nicht, nein. Und warum nicht? Hat es ihr irgendjemand gesagt? Ihre Mutter? Wohl kaum. Mütter sagen höchstens: Hör auf zu Popeln, mach den Mund zu, zeig nicht mit dem Finger. Das ist alles. Mütter laufen nicht ständig hinter einem her und sagen: Tu dies nicht, tu das nicht. kinki henry und paul

Worauf wollen Sie hinaus, Sir? Dass wir uns unsere Verbote selber machen, Henry! Wir erschaffen sie, obwohl sie nirgends in Stein gemeisselt sind. Du bist der erste, der mir sagt, dass ich einer Frau nicht auf die Brüste glotzen soll.

Weil es ... nun, Sir, fänden Sie es angenehm, wenn Ihnen die Frauen ständig in den Schritt starren würden? Heute tun sie das, Henry, heute tun sie es. Allerdings nur, weil ich ständig an meiner Unterhose herumzerre. Blödes Ding. Wahrscheinlich habe ich sie falsch herum an.

Nun ... das muss man eigentlich nicht erwähnen, man weiss es einfach, Sir. Aber es ist doch etwas Schönes, Henry. Ich mag Brüste.

Ach, Sir.

Sir, das glaube ich Ihnen aufs Wort. Trotzdem. Den Damen könnte es unangenehm sein. Weshalb sollte es das? Weil wir dadurch ihre inneren Werte nicht sehen?

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