IPPNW-Thema: „Menschenrechte verteidigen! Gesundheitliche Folgen von Flucht“ (Dez 2019)

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Foto: © Max Ernst Stockburger

ippnw thema

aus: IPPNWforum 160 dezember 2019 internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

Menschenrechte verteidigen! Gesundheitliche Folgen von Flucht


FLUCHT & ASYL

Gesundheitliche Auswirkungen von Abschiebungen Als Beschäftigte im Gesundheitswesen können wir die unwürdige Praxis nicht schweigend hinnehmen

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starben in diesem Zeitraum während der Abschiebung (an Erstickung wegen fixierter Fesselung). 556 Flüchtlinge wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen während der Abschiebung verletzt. 38 Flüchtlinge kamen nach der Abschiebung in ihrem Herkunftsland zu Tode. 621 Flüchtlinge wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär misshandelt und gefoltert und kamen aufgrund ihrer bestehenden schweren Erkrankungen in Lebensgefahr oder erkrankten schwer. 75 Flüchtlinge verschwanden nach der Abschiebung spurlos. (Presserklärung der Antirassistischen Initiative, Juni 2019). Das sind „nur“ die bekannt gewordenen tödlichen Folgen einer behaupteten rechtsstaatlichen Maßnahme.

bschiebungen sind ein schwerer Eingriff in die gesundheitliche Verfassung der Betroffenen und meist auch ihres Umfeldes. Jede Abschiebung ist staatlich legitimierte Gewalt. Den wenigsten ist diese Tatsache im Alltag bewusst. Wir haben uns an die meist kleingedruckten dürren Nachrichten in unseren Medien gewöhnt: „In der letzten Nacht wurde die Familie XY oder der abgelehnte Asylbewerber Z. von der Polizei abgeholt und mit dem Flugzeug in ihr Land rückgeführt.“ Aus dem Auge, aus dem Sinn. Welche individuellen Dramen, Verletzungen, welches Leid, welche tiefe Verzweiflung dieser staatliche Gewaltakt hinterlässt, wird nirgends notiert, aufgezeichnet, noch werden darüber Studien angefertigt. Die Folgen müssen die Betroffenen häufig selbst tragen.

Noch viel weniger wissen wir über das Schicksal der Zurückgekehrten und darüber, welche gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen sie in der Langzeitfolge zu tragen haben. Eine kürzlich erschienene Studie über abgeschobene Afghanen (Asylmagazin 8-9/2019, S. 276-286) kam zu erschreckenden Ergebnissen: 90 Prozent der Untersuchten, die sich länger als zwei Monate im Land aufhielten, waren massiver Gewalt ausgesetzt (Folter, Misshandlung, Schläge, psychische Bedrohung, Anschläge), meistens als Bestrafung für ihre Flucht zum Feind. Die Hälfte der untersuchten Personen machte sich erneut auf die Flucht außer Landes. (Große Gefahr der Entwurzelung, Heimatlosigkeit und Identitätsstörung).

2018 gab es in Deutschland ca. 24.000 Abschiebungen, ca. 40 Prozent davon im Rahmen des Dublin-Verfahrens, z.B. nach Italien, wo die Abgeschobenen meist auf der Straße von der „Hand in den Mund“ leben müssen, wo insbesondere Frauen ungeschützter (sexueller) Gewalt ausgesetzt sind und in der Regel keine gesundheitliche Behandlung bekommen. Oder aber nach Albanien, in das Armenland Europas, wo sie meist Diskriminierung und einer Existenzkrise ausgesetzt sind, im schlimmsten Fall jedoch in das (laut UN gefährlichste) Kriegsland Afghanistan, wo sie in Todesgefahr geraten können. Seit 2016 wurden über 150 Personen dorthin abgeschoben.

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Die wenigen Zahlen beschreiben nur die Spitze des Eisberges. So ermittelte die Antirassistische Initiative Berlin anhand offizieller Zeitungsmeldungen zwischen 1993 und 2018 Folgendes: 288 Flüchtlinge brachten sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung selbst um oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davon 83 Menschen in Abschiebehaft. 3.015 Flüchtlinge verletzten sich aus Angst vor der Abschiebung oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung (Risiko-Hungerund Durststreiks) oder versuchten, sich umzubringen, von ihnen befanden sich 837 Menschen in Abschiebehaft. Fünf Flüchtlinge

inzelbeispiele aus eigener Untersuchung zeugen immer wieder von einer traumatischen Verarbeitung ihrer Abschiebung, die häufig von der Öffentlichkeit unbemerkt nachts dramatisch verlaufen. Ich erinnere mich noch an eine Frau, die mit ihrer Familie überraschenderweise aus der Behandlung heraus in die Türkei abgeschoben wurde und während des Fluges wegen eines Erregungszustandes vor ihren Kindern gefesselt wurde. Nach vier Wochen waren in einer Nachuntersuchung in Istanbul noch die zahlreichen Hämatome am Körper zu sehen. Diese Frau war über ein Jahr nicht fähig, aus dem Haus zu gehen und konnte ihre 2


Foto: Steve Evans / CC BY-NC 2.0

Besonders dramatisch erleben traumatisierte, psychisch kranke oder behinderte Menschen die Abschiebung.

Funktion als Mutter von drei Kindern nicht ansatzweise erfüllen. Traumatisierte Geflüchtete geraten besonders häufig in Gefahr, bei solchen Abschiebemaßnahmen wieder physischer Gewalt ausgesetzt zu sein. In diesem Sommer wurde z.B. ein abgelehnter Asylbewerber, der in seinem Heimatland von kriminellen Erpressern misshandelt worden war und in seiner Angst drohte, gewalttätig zu werden, wenn ihn die Polizei holen würde, schon vorbeugend gefesselt und mit einer Augenklappe in die über 100 Kilometer entfernte Abschiebehaft verbracht.

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ach einem häufig mühsam erworbenem Sicherheitsgefühl wird ihnen erneut „der Boden unter den Füßen weggezogen“ und sie erleben plötzlich erneute Hilflosigkeit, Ohnmacht und Ausweglosigkeit, die wiederum die alten traumatischen Narben wieder aufbrechen lassen, sodass die Reaktionen auf die traumatisch erlebte Situation wieder verstärkt auftritt. Solche Retraumatisierungen führen häufig zu einem jahrelang bestehenden Vertrauensverlust und Unsicherheitsgefühl, selbst dann, wenn sie endlich einen sicheren Aufenthalt bekommen haben.

Eine Nachbefragung abgeschobener junger Geflüchteter aus dem Kosovo durch den bayrischen Flüchtlingsrat ergab eine hohe Rate an gescheiterter Existenzsicherung, Schulversagen, Entwurzelung, Identitätsstörung, Resignation, Depressionen und Entwicklungsstörungen. Viele litten noch monatelang an den dramatischen Erinnerungsbildern ihrer Abschiebung.

Verheerend wirken sich auch Abschiebungen auf Menschen aus, die „nur“ Zeuge dieser Zwangsmaßnahmen sind, selbst dann, wenn sie persönlich überhaupt nicht betroffen sind. Besonders verletzlich sind vor allem Geflüchtete, die nach Verfolgung, anstrengender Flucht und häufiger Existenzbedrohung in ihren Gemeinschaftsunterkünften und Flüchtlingslagern Zeug*innen dieser meist nächtlichen überfallartigen Abschiebemaßnahmen werden. Zum Beispiel Kinder, oder auch Menschen, die selbst noch keinen sicheren Status haben (z.B. Duldung, Ausreisepflichtige), müssen solche Abschiebungen von Nachbarn oder Bekannten miterleben. Wenn ich morgens z.B. ins psychosoziale Behandlungszentrum kam und dort unangemeldet schon einige meiner Klient*innen auf mich warteten, wusste ich genau, dass in der Nacht wieder eine Abschiebung in ihrer Einrichtung stattgefunden hatte.

Selbst bei erfolgreich abgebrochenen Abschiebeversuchen wurden von mir regelmäßig akute Belastungsreaktionen (F 43.0 nach ICD 10) festgestellt. Schwere dissoziative Zustände, Albträume, massive Angstreaktionen mussten häufig monatelang behandelt werden. Zur Zeit begleite ich noch einen 50-jährigen Mann, der nach vielen Jahren guter Integration und psychisch sowie physisch völlig gesund eines Tages für ihn überraschend von der Polizei aus seiner Wohnung zur geplanten Abschiebung nach Togo abgeholt werden sollte, in einem dissoziativen Zustand (nicht in suizidaler Absicht) über die Balkonbrüstung sprang und sich einen schweren Beckenringbruch zuzog. Heute, nach zwei Jahren, ist er immer noch nicht schmerzfrei und muss mit Krücken gehen. Die monatliche Verlängerung seiner Duldung führt regelmäßig zu Schlaflosigkeit und Angstzuständen, auch die Verlängerung auf drei Monate führte bisher nicht zur Entlastung. Seine Gedanken kreisen dauernd nur um die Möglichkeit der erzwungenen Rückkehr und des Hierbleibens. Sein psychischer Zustand hat sich trotz Psychotherapie nur unwesentlich stabilisiert. Nach wie vor ist er arbeitsunfähig.

Wer Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus (z.B. Duldung) über längere Zeit begleitet, erlebt immer wieder, wie dramatisch die Nächte bei ihnen verlaufen. Bei jedem Geräusch eines Autos schrecken sie hoch, stürzen zum Fenster und starren lange hinaus, ob sie nicht ein Polizeiauto entdecken, können stundenlang 3


Foto: Konrad Lembcke /CC BY-NC 2.0

Foto: Joe Penna / CC BY 2-0

nicht wieder einschlafen und sind tags völlig übermüdet. Nach Monaten sind solche Menschen, selbst wenn sie nicht abgeschoben werden, zermürbt, handlungsunfähig und werden arbeitsunfähig. Sie geraten dadurch in eine noch größere Unsicherheit und Aussichtslosigkeit mit der Gefahr, in ihrer Panik das letzte Stück Hoffnung auf einen sicheren Aufenthalt zu verwirken. Manche lassen sich dann zu paradoxen Handlungen, wie z.B. die Flucht in ein anderes europäisches Land hinreißen, auch wenn ihnen das noch weiter schadet.

Deren Parentifizierung schlägt sich dann allerdings in späteren Jahren nieder – sie werden entweder stark hyperaktiv, geben jedwede Verantwortung ab, reagieren mit Resignation, destruktivem, selbstschädigendem Verhalten, werden drogenkrank oder depressiv. Manche reagieren auch mit einer verzögerten Traumareaktion oder entwickeln gar eine posttraumatische Belastungsstörung. Selten holen sie sich selbst frühzeitig Hilfe und Unterstützung. Man muss häufig aktiv auf sie zugehen, bevor sie sich einem Erwachsenen öffnen können.

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n vielen Fällen einer Abschiebung wird der Artikel eins unseres Grundgesetzes zugunsten einer abstrakten Regelkonformität verletzt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“ Als Beschäftigte im Gesundheitswesen und in einer offenen demokratischen Zivilgesellschaft müssen wir diese Verpflichtung immer wieder verteidigen. Ich meine: Solche Gewalthandlungen staatlicher Organe sollten möglichst präventiv verhindert werden – wenn es sein muss, auch mit einem Regelverstoß. Wenn wir den präventiven Gesundheitsschutz ernstnehmen wollen, sollten wir die gegenwärtige verschärfte Abschiebepraxis auf keinen Fall schweigend hinnehmen, sondern sie lautstark bekämpfen, auch auf die Gefahr hin, als Mitglieder einer „Abschiebeverhinderungsindustrie“ verunglimpft zu werden.

Abschiebungen bedeuten immer Stress, manchmal mit einer extremen vegetativen Reaktion. Ist über längere Zeit immer wieder der Aufenthalt gefährdet oder zumindest unsicher, kommt es in der Regel zu überschießender Blutdruckerhöhung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und/oder einem metabolischen Syndrom. Kurz nach einer dramatischen Abschiebung aus Rheinland-Pfalz in den Kosovo erlitt die 40-jährige Mutter einer größeren Romafamilie aufgrund einer hypertensiven Krise eine massive Hirnblutung, an der sie starb. Der Zusammenhang mit der Abschiebung war naheliegend, aber kaum nachweisbar. Trotzdem hatten die Behörden nach einer Kampagne das Einsehen und ließen die Restfamilie mit mehreren Schulkindern wieder einreisen.

Auch vor Abschiebungen und Abschiebeversuchen aus stationärer Behandlung schrecken die Behörden nicht mehr zurück. Hochschwangere werden häufig kurz vor Erreichen der gesetzlichen Mutterschutzfrist abgeschoben. Dabei werden Familientrennungen und Schäden für Mutter und Kind bis hin zu Fehlgeburten in Kauf genommen Manchmal kann Klinikpersonal die Patient*innen schützen, oft aber kooperiert die Klinik mit der Polizei.

In der Verzweiflung, die letzte Hoffnung auf eine gesicherte Existenz in Deutschland oder einem anderen europäischen Aufnahmeland zu verlieren, werden nicht wenige Menschen suizidal, trotzdem sind es erfreulicherweise bisher noch relativ wenige, die ihre Verzweiflung und Depression in eine Selbsttötungshandlung umsetzen.

Der Deutsche Ärztetag hat 2017 klargestellt, dass stationär behandlungsbedürftige Geflüchtete nicht reisefähig sind und Abschiebungen aus stationärer Behandlung daher gegen die deutsche Gesetzgebung verstoßen.

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rotzdem darf man aber nicht, wie viele Behörden und Politiker*innen annehmen, darüber hinwegsehen, dass viele dieser Menschen unter der ständigen Unsicherheit leiden und später auch zur Persönlichkeitsveränderung neigen. Nicht wenige sind durch die Abschiebung ihr Leben lang gezeichnet.

Ernst-Ludwig Iskenius ist IPPNW-Mitglied und aktiv im Arbeitskreis Flucht & Asyl.

Das Leiden der Kinder und Jugendlichen nach einer Abschiebung wird besonders häufig verkannt. Sie leiden meist still vor sich hin, nach außen geben sie sich häufig stark und unbeeindruckt, zumal, wenn ihre Eltern besonders hilflos auf die prekäre Situation reagieren. 4


FLUCHT & ASYL

Gesundheit verbindet Women in Exile kämpft für die Rechte von Gef lüchteten Foto: Women in Exile

die sich zusammengefunden haben, um eine öffentliche Anhörung im Rahmen des Permanent Peoples‘ Tribunal zu planen, das 1979 in Bologna eingerichtet wurde. Unser Fokus liegt auf Gesundheit und dem Ansatz, aus feministischer Perspektive auf das Thema Menschenrechtsverletzungen zu schauen. Gesundheit ist etwas, mit dem jede*r etwas verbindet.

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist ein Menschenrecht und es ist eine Schande, dass in einem reichen Land wie Deutschland Menschen leiden oder sogar sterben, weil sie keine angemessene Behandlung erhalten. Die Willkür, mit der von unqualifizierten Personen je nach deren persönlicher Meinung oder der jeweiligen „Bleibeperspektive“ mit unserer Gesundheit gespielt wird, muss ein Ende haben! Wir haben realisiert, dass viele re-traumatisiert sind. Indem wir als Gruppe zusammenkommen, einen Raum zum Sprechen, Teilen und Dasein ermöglichen, versuchen wir die Frauen zu empowern.

Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, müssen den erniedrigenden Prozess des Fingerabdrücke-Nehmens durchstehen. Zweck dieses Prozederes ist, sie zu kriminalisieren und in erwünschte und unerwünschte Flüchtlinge einzuteilen. Für die, die dem Tod im Mittelmeer entkamen und sich glücklich schätzen können, in Deutschland angekommen zu sein: Die neuen Gesetze bedeuten, dass sie sofort im Knast landen, da sie die die Dublin-Verordnung und andere Gesetze missachtet hätten, die nur existieren, um Flüchtlinge davon abzuhalten, nach Europa zu kommen. Die anderen werden in Lagern oder Ankerzentren untergebracht, isoliert von der Gesellschaft, und warten auf ihr Schicksal. Dieser schwierige Prozess resultiert in De-

Wir, Women in Exile and Friends, sind Teil einiger Gruppen und Einzelpersonen,

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it unserem Bündnis wollen wir als Flüchtlings-Selbstorganisationen und Solidaritätsgruppen gemeinsam kämpfen. Die verschiedenen Gruppen arbeiten mit Flüchtlingen und Migrant*innen auf professioneller und/oder aktivistischer Ebene, wie z.B. IPPNW, Borderline Europe, Medibüro, Respect, International Women Space und Ärzt*innen. Unsere öffentliche Anhörung im Rahmen des Permanent Peoples‘ Tribunal wird 2020 stattfinden und die Diskriminierung im Gesundheitsbereich in Deutschland anprangern. Während des Tribunals wollen wir durch Zeug*innenberichte und Anklagereden aufzeigen, wie in Deutschland Gesundheitsprobleme mit dem sozialen und politischen Bereich verflochten sind.

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pressionen und Traumata. Das gilt generell für alle Prozesse, die Flüchtende erleben: Traumatisierung gibt es schon genug ab dem Moment, in dem sie entscheiden, ihre Heimat zu verlassen, bis zur Ankunft in Deutschland. Das Leben im Lager, Polizeigewalt, Abschiebung, Rassismus und andere Vorkommnisse sind Katalysatoren für Re-Traumatisierung. Leider trägt auch das Gesundheitssystem selbst oft dazu bei: Viele Frauen* beklagen sich, dass sie beispielsweise vor einer Operation keine ausreichenden Informationen bekamen. Diese Traumata führen zu Depression und Suizid. Aus den Diskussionen und Workshops innerhalb unseres Gesundheitsprojekts wissen wir, dass viele Frauen* Gesundheitsprobleme nicht etwa vor der Flucht, sondern nach ihrer Ankunft in Deutschland hatten. Einige von ihnen haben zahlreiche kleine Operationen hinter sich, die immer wieder nötig sind, und haben nun Angst, dass dies zu größeren gesundheitlichen Problemen führen kann, inklusive reproduktiver Gesundheit. Hierzu trägt der drittklassige Zugang zum Gesundheitssystem bei, der viel Bürokratie erfordert, bis sie spezialisierte Behandlungen bekommen. Das Tribunal ist eine gute Möglichkeit für die verbündeten Organisationen, die im Bereich Gesundheit von Flüchtlingen, Illegalisierten und Migrant*innen arbeiten, die entsprechenden Behörden anzuklagen. Es wird auf der Erfahrung der letzten drei Jahre aufbauen, in denen Anhörungen mit Flüchtlingen und Migrant*innen in verschiedenen Ländern stattgefunden haben.

Mehr Infos unter: www.womenin-exile.net

Foto: Women in Exile

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omen in Exile wurde 2002 von Flüchtlingsfrauen gegründet. Seither arbeiten wir kontinuierlich zu flüchtlings- und asylpolitischen Themen. „Keine Lager für Frauen und Kinder! Alle Lager abschaffen!” ist seit 2011 das zentrale Thema unser Kampagne. An dem grundlegenden Problem der Gesundheit dritter Klasse für Flüchtlinge, die durch das Asylbewerberleistungsgesetz geregelt wird, ändert sich nichts. Für alle Behandlungen, die über reine Schmerz- und Notfallbehandlung hinausgehen, muss weiterhin die Erlaubnis des Sozialamts eingeholt werden. Wir fragen uns, für wen sich das System gut etabliert hat: Flüchtlingsinitiativen fordern seit Jahren ein Ende der Diskriminierung im Gesundheitssystem. Die Krankenkassen fordern auf bundesweiter Ebene die Einführung der Karte, weil es auch für sie die Abrechnung leichter macht. Die Landesregierung empfiehlt die Einführung. Nur den Mitarbeiter*innen in den jeweiligen Sozialämtern gefällt es anscheinend, trotz mangelnder Qualifikation zu entscheiden, wer eine Behandlung beim Arzt „verdient“ hat und wer nicht.


Foto: NATO, gemeinfrei

ZEICHNUNG EINES GEFLÜCHTETEN KINDES AUS DEM KOSOVOKRIEG, MAZEDONIEN 1999

Abschiebung in den Krieg Die „Rückführung“ einer Roma-Familie in den Kosovo Am 24. März 1999 begann die NATO mit deutscher Beteiligung ihre Militärintervention gegen Jugoslawien. Im Jahr 1996 schloss die Bundesregierung mit dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Miloševic ein Rückführungsabkommen ab, auf dessen Grundlage die deutsche Bundesregierung noch bis kurz vor dem Krieg Flüchtlinge, auch Kosovo-Albaner*innen, in die Bundesrepublik Jugoslawien „zurückführte“. Unter ihnen die Familie von Frau J., die von der IPPNW-Ärztin Sabine Will interviewt wurde.

USA ausreisen zu können, doch sie wurden alle abgelehnt. Meine Mutter war schwanger, als wir abgeschoben wurden – im sechsten Monat. Die Behörde wusste das auch. Als ich erfuhr, dass wir abgeschoben werden sollten, sagte mein Vater, dass wir jetzt nach Hause müssten. Meine Mutter meinte: Du musst die serbische Sprache lernen, denn ich verstand kein Serbisch. Auch unsere Muttersprache Roma konnte ich nicht mehr richtig. Ich habe viel geweint in der Zeit und meine Freunde auch.

Wann sind Sie nach Deutschland gekommen? Wir sind 1991 nach Deutschland geflohen, weil in Jugoslawien Krieg war. Ich war damals fünf oder sechs Jahre alt. Zuerst wohnten wir für kurze Zeit in einem Hotel, dann in einem Wohncontainer, in der Gemeinde Alpen bei Duisburg. In dem Ort sind wir auch geblieben. Es ging mir gut damals, meine Kindheit war schön. Wir wohnten in einem Haus auf dem Dorf, Mutter, Vater und mittlerweile fünf Schwestern. Mein Vater arbeitete als Erntehelfer. Im Winter sammelte er Sperrmüll und verkaufte Sachen auf dem Flohmarkt. Er durfte damals arbeiten. Aber er hat keinen langfristigen Vertrag gehabt – das war sein Fehler.

Wie verlief die Abschiebung? Es kamen zwei dunkelblaue Kombibusse und fünf Polizisten in Zivil, um uns abzuschieben, auch der große Mann, der uns über die Abschiebung informiert hatte. Es war so ungerecht. Ich war sehr traurig und wütend. Meine Eltern haben geweint. Auch Journalisten kamen, mit denen ich sprach, obwohl mein Vater gesagt hatte, dass ich nicht mit ihnen reden sollte. Die Reporter sagten, dass in Jugoslawien Krieg herrsche. Das war ein Schock. Wie ist es Ihnen in Jugoslawien ergangen? Wir kamen in ein Land, das ich nicht kannte. Es war im September 1998. Mit dem Geld, das mein Vater aus Deutschland geschickt hatte, hatte mein Großvater ein Haus gebaut – doch es gab weder Strom, Wasser noch Heizung. Wir hatten nichts zu trinken. Ich hatte nicht gewusst, dass man nichts zum Essen und nichts zum Trinken haben kann.

Meine Mutter war immer zu Hause. Sie hat gekocht, saubergemacht und sich um die Kinder gekümmert. Und ich habe ihr geholfen. Ich habe auch oft für sie übersetzt – sogar beim Frauenarzt. Was geschah dann? Als ich zwölf Jahre alt war, kam eines Tages ein großer Mann, der sagte, dass wir in den nächsten Tagen packen müssten. Wir sollten zurück nach Jugoslawien. Mein Vater hat alles getan, um das zu verhindern. Untertauchen wollte er nicht. Er hat versucht, Unterschriften zu sammeln; er hat Anträge gestellt, um nach Holland oder in die

Dann bekam meine Mutter meinen Bruder. Und der Krieg begann. Ich habe viel geweint. Ich will mich nicht erinnern… Mein Vater wurde als Soldat bei der serbischen Armee eingezogen und mein Onkel auch. Wenn die Luftangriffe kamen, musste ich ein nasses Handtuch über meinen kleinen Bruder halten. Ich hatte 6


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Angst, er würde daran ersticken. Aber es war wichtig, weil es hieß, es würden Gasbomben fallen. Wir hatten ja keine Gasmasken. Ich dachte an Selbstmord und hatte große Angst um meinen Vater, der als Soldat im Krieg war. Er hat nie über seine Erlebnisse geredet. Ich glaube, er war traumatisiert.

ser. Mein Vater bekam vom Staat keinerlei Hilfe. Ich hatte mich gefreut, dass der Krieg zu Ende und mein Vater wieder da war. Er begann, meine Schwestern zur Schule zu bringen, und wir haben Kindergeld beantragt. Doch nach dem Krieg ist irgendetwas mit ihm passiert. Er begann sich zu verändern. Er hat völlig vergessen, dass meine Mutter und wir da waren. An manchen Tagen hatten wir nichts zu essen, weil mein Vater keine Arbeit hatte. Keiner wollte uns helfen. Ich war so wütend auf meinen Vater. Er hat sich vor der Verantwortung gedrückt.

Wie haben Sie die NATO-Angriffe auf den Kosovo erlebt? Ich musste mit meiner Mutter und den Geschwistern immer in den Keller des Nachbarhauses, wo die Eltern meines Vaters lebten. Täglich gab es zweimal Alarm, manchmal mussten wir auch den ganzen Tag im Keller bleiben. Einmal griffen Flugzeuge an, ohne dass es Alarm gegeben hatte. Ich sah sie und lief mit meinen kleinen Schwestern schnell in den Keller. Eine Schwester hatte ich vergessen. Ich bin wieder hoch gelaufen, um sie zu holen. Sie war vom Fensterbrett gefallen, weil das ganze Haus schwankte, als nebenan die Bomben einschlugen. Als ich ihr aufhelfen wollte, stand sie unter Schock und konnte sich gar nicht mehr bewegen. Das war schrecklich.

Meine Mutter hat versucht, Kleidung zu verkaufen. Sie hat von einem Mann Strümpfe abgenommen und sie auf dem Flohmarkt verkauft. Es war sehr kalt. Meine Schwestern wollten unbedingt mit. Wir hatten nichts zu essen zu Hause. Als sie zurückkamen, ist eine meiner Schwestern vor Hunger ohnmächtig geworden. Sie hatten nichts verkauft und deshalb immer noch nichts zu essen… Ich wusste auch nicht, wie man Wäsche mit der Hand wäscht und ich hatte keine Wechselsachen. Daher habe ich die feuchten Sachen anbehalten. Wie viele Male sind wir so eingeschlafen... Es war so kalt.

Ich habe immer versucht, irgendwo die Nachrichten zu hören und zu verfolgen, was passiert. Ich betete… Und immer wieder die Bomben. Das Schlimmste für uns Kinder war die Angst, unser Vater könnte nicht zurückkommen. Das war 1999.

Wie hat sich die Situation im Kosovo weiter entwickelt? Es gab damals keine Arbeit. Viel später hatte mein Vater mal eine Beschäftigung als Müllmann, als ich schon verheiratet war. Doch er hat seine Arbeit gekündigt, weil er zurück nach Deutschland wollte, zusammen mit meiner Mutter, die an Hepatits C und Leberzirrhose litt. Aber an der Grenze wurden sie abgewiesen, weil meine Eltern wegen der Abschiebung ein lebenslanges Einreiseverbot nach Deutschland erhalten hatten. Davon hatten sie vorher nichts erfahren. Ich habe selber Hepatitis B. Damit kann man leben. Mit Hepatitis C auch – wenn man die richtigen Tabletten hat. Aber die hatte meine Mutter nicht. Sie ist 2012 in Serbien an der Lebererkrankung gestorben.

Wie ist Ihre Familie damals über die Runden gekommen? Wir haben von Paketen gelebt, die wir bekamen. Da war so eine Hilfsorganisation, zu der meine Mutter und ich zusammen hingingen und unsere Pässe zeigen mussten. Ich bin nach der Abschiebung überhaupt nicht mehr zur Schule gegangen. Meine Geschwister waren nach dem Krieg in der Schule, aber ich nicht. Ich weiß auch nicht, warum. Auch ist mein Serbisch nicht gut. Ich kann es zwar verstehen, aber nicht sprechen. Roma kann ich, aber bis ich zwölf war, habe ich ja vor allem Deutsch gesprochen, weil ich dachte, dass ich hier lebe. Diese Sicherheit fühlte sich gut an. Was geschah, als die NATO-Militärintervention zu Ende war? Nach dem Krieg kam es noch schlimmer. Wir hatten nichts zu essen. Außerdem hatten wir weiterhin keinen Strom und kein Was-

Das Interview mit Frau J. führte Sabine Will, Mitglied des IPPNW-Arbeitskreises Flucht und Asyl. 7


Sortierung nach der Bleibeperspektive

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Die Verschlechterung für traumatisierte Geflüchtete mit den Gesetzesverschärfungen

eit 2015 hat es mehrere Gesetzesänderungen gegeben, die das Leben von Geflüchteten erheblich erschweren: das Asylpaket I und II (2015 und 16), sowie 2017 und 2019 die „Gesetze zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“. Auf der einen Seite gibt es immer mehr wissenschaftliche Forschung zum Thema traumatisierter Flüchtlinge und immer mehr praktische Erfahrungen besonders in den psychosozialen Zentren – auf der anderen Seite steht eine Gesetzgebung, die dieses Wissen ignoriert und nur auf Abschottung und Abschiebung setzt ohne menschenrechtliche Bedenken.

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enschen aus den sogenannten sicheren Herkunftsländern haben jetzt keine Bleibeperspektive mehr. Ihre Asylverfahren werden im Schnelldurchgang abgehandelt. Eine ernstzunehmende Einzelfallprüfung findet nicht mehr statt. Sie sollen bis zum Abschluss des Verfahrens und der freiwilligen Ausreise oder Abschiebung in der Aufnahmeeinrichtung bzw. in gesonderten Ausreisezentren bleiben. Sie bekommen keine unabhängige Verfahrensberatung und haben keinen Zugang zu Rechtsberatung. Sie kommen nicht in Kontakt mit der Bevölkerung und damit auch nicht mit zivilen Unterstützer*innen, die bisher in der Regel Psychotherapie oder fachärztliche Behandlung vermitteln. Wir wissen aus unseren Erfahrungen, dass viele Menschen, besonders aus den Balkanstaaten, schwere Menschenrechtsverletzungen und oft geschlechtsspezifische und rassistische Verletzungen erlebt haben und psychisch erkrankt sind. Das trifft besonders Angehörige der Roma.

Eine EU-Aufnahmerichtlinie, die Deutschland dazu verpflichtet, traumatisierte und andere vulnerable Flüchtlinge früh im Asylverfahren zu identifizieren und ihre spezifischen Bedürfnisse zu berücksichtigen, wird nicht umgesetzt, sondern in den neuen Gesetzen bewusst verletzt. Schon bisher war es für traumatisierte Geflüchtete sehr schwer, Nachweise über ihre Traumatisierung ins Verfahren einzubringen. Die Anforderungen an Gutachten und Bescheinigungen sind immer höher geschraubt worden. Das Misstrauen der Behörden gegen Mediziner*innen und Therapeut*innen, die angeblich Gefälligkeitsgutachten erstellen, lässt sich nicht ausrotten. So werden für eine Anerkennung als Abschiebungshindernis oder eine humanitäre Bleiberechtsregelung jetzt nur noch Gutachten und Bescheinigungen von approbierten Fachärzt*innen akzeptiert. Die Traumatisierung muss zu Beginn des Verfahrens vorgebracht und nachgewiesen werden. Die Beweislast liegt beim Geflüchteten. Asylanerkennungen sollen jetzt noch nach fünf Jahren vom BAMF überprüft werden, obwohl bei den bisherigen Überprüfungen nach drei Jahren Widerrufe sehr selten waren. Das verstärkt die Unsicherheit, die schon in den langwierigen Asylverfahren sehr belastend ist. Die Menschen kommen nicht zur Ruhe und können sich nicht auf ihr Leben in Deutschland konzentrieren.

längstens sechs Monaten die Einrichtung verlassen sollen. Das Leben in Gemeinschaftseinrichtungen ist für alle, besonders aber für psychisch kranke Menschen sehr belastend. Es gibt keine Privatsphäre, keine Rückzugsmöglichkeiten, sehr eingeschränkten Zugang zu Behandlung und keine Möglichkeit, eine Erkrankung rechtzeitig durch die geforderte qualifizierte Bescheinigung eines/einer Facharztes/ Fachärztin nachzuweisen. Dazu kommen nächtliche Abschiebungen mit großem Polizeiaufgebot und gewaltsamem Eindringen in die Zimmer, die immer wieder retraumatisierend sind.

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as Asylbewerberleistungsgesetz gilt für 18 Monate (bisher 15). In dieser Zeit müssen Behandlungen psychischer Erkrankungen umständlich beantragt werden, was weder der Sozialdienst noch der dünn besetzte Sanitätsdienst der Einrichtung leisten kann (oder will). Lediglich psychotische oder suizidale Dekompensationen führen zur Einweisung in psychiatrische Kliniken, oft auch wiederholt, ohne eine stabilisierenden Anschlussbehandlung oder gar eine Herausnahme aus der Belastungssituation zur Folge zu haben.

Unterbringung Alle neu ankommenden Flüchtlinge sollen bis zu 18 Monaten in der Aufnahmeeinrichtung bleiben, ausgenommen Familien mit minderjährigen Kindern, die nach 8

Gisela Penteker ist IPPNWMitglied und arbeitet im AK Flucht und Asyl mit..

Grfaik: BAMF 2016

„SORTIERMASCHINE“ ANKERZENTRUM


FLUCHT & ASYL

Anker-Zentren abschaffen!

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er Name soll vielleicht nach einem sicheren Hafen klingen: „Anker-Zentrum“ (kurz für Ankunft – Entscheidung – Rückführung). Doch die 2018 im Rahmen des „Masterplan Migration“ von Bundesinnenminister Seehofer neu konzipierten Lager sind alles anderes als sicher. Sie machen psychisch Gesunde krank und psychisch Kranke noch kränker – so beschreiben die „Ärzte der Welt“ die Realität in diesen Massenunterkünften. Umgesetzt wurde das Konzept bisher im Saarland, in Sachsen und in Bayern, wo inzwischen sieben Anker-Zentren mit 19 Außenlagern („Dependancen“) betrieben werden – hervorgegangen aus den Erstaufnahmeeinrichtungen und den seit 2015 betriebenen „Ankunfts- und Rückführungs­ einrichtungen (ARE)“ in Manching / Ingolstadt und Bamberg. Waren diese zunächst nur für die Asylverfahren von Personen aus „sicheren Herkunftsländern“ und später für alle mit einer sogenannten schlechten Bleibeperspektive zuständig – so werden seit 2018 alle neu in Bayern registrierten Asylsuchenden einem Anker-Zentrum zugewiesen.

Rechtlose Räume Die Regierung versprach schnellere Asylverfahren, weil alle relevanten Behörden, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Ausländerbehörden, Rechtsantragsstellen der Gerichte und Sozialämter vor Ort seien. Dies gilt aber nur für die sieben Anker-Zentren, nicht für die Dependancen. Überdies ist die Dauer der Gerichtsverfahren unverändert. Gleichzeitig sind die BAMF-Entscheidungen quali-

Massenunterkünfte machen krank tativ schlechter geworden – nicht zuletzt verursacht durch zu schnelle Anhörungen des BAMF sowie den erschwerten Zugang zu unabhängigen Beratungsangeboten, zu fachärztlichen Attesten und ehrenamtlicher Unterstützung.

Ständige Unsicherheit Die Unterbringung von zwei Familien in einem Raum, der ebenso wie die Sanitärräume nicht verschließbar ist und jederzeit unangekündigt durch den Sicherheitsdienst betreten und durchsucht werden kann, ist laut einer UNICEF-Studie für alle belastend. Eine Mutter berichtete laut Ankerwatch, einer Initiative für ein kritisches Monitoring der Anker-Zentren: „Meine Kinder sind dauernd unruhig und schlafen schlecht aus Angst, dass jemand einfach ins Zimmer kommt.“ Häufig kommt nachts die Polizei, um Menschen zur Abschiebung abzuholen, oder um eine anlassfreie Razzia durchzuführen. „Kinder würden aus Angst vor einer unangekündigten nächtlichen Abschiebung bereits mit ihren Schuhen zu Bett gehen, um […] vorbereitet zu sein,“berichtete die Abgeordnete Cansel Kiziltepe aus einer Anhörung des Innenausschusses.

Gesundheitsgefährdung Drei Kantinenmahlzeiten pro Tag, die oft schlecht vertragen werden, plus ein striktes Verbot, Nahrungsmittel und Elektrogeräte auf den Zimmern zu haben – das macht eine altersgemäße Kleinkindernährung unmöglich. Die Hygiene in den Waschräumen spottet oft jeder Beschreibung. Der Zugang zur ärztlichen Versorgung ist ein9

geschränkt; was ein Notfall ist, bestimmt der Wachschutz: Ein Roma-Mädchen aus Albanien hatte sich an einem Samstag in der ARE 2 in Bamberg verletzt und ihr Amt tat weh. Am Wochenende gab es keinen Arzt, der sie untersuchen konnte. Ihr Kommentar: „Ich darf nicht mehr Rollschuh fahren am Wochenende, denn wenn ich mich schwer verletze, werde ich hier sterben, weil es keine Ärzte gibt.“ Besonders prekär ist die Situation für psychisch Kranke. Die „Ärzte der Welt“ hatten seit Januar 2019 zweimal im Monat eine psychiatrische Sprechstunde für Kinder und Erwachsene in Manching angeboten, jedoch im September ihren Rückzug so erklärt: „Die krankmachenden Lebensbedingungen […] verhindern eine erfolgreiche Behandlung. Ärzte der Welt kann unter diesen Bedingungen die Verantwortung für die Verfassung von schwer psychisch kranken Patient*innen und deren Medikamenteneinnahme nicht tragen,“ kündigte die Hilfsorganisation anlässlich der öffentlichen Anhörung „Ankerzentren“ im Bayerischen Landtag am 26. September.2019 an. Allein die Abschaffung der Anker-Zentren verspreche Besserung.

Tom Nowotny ist IPPNWMitglied und arbeitet im AK Flucht und Asyl mit.

Foto: © Bayerischer Flüchtlingsrat

ANKERZENTRUM MANCHING / INGOLSTADT


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Empfehlungen für heilberuflich Tätige in Abschiebesituationen des Arbeitskreises Flüchtlinge und Asyl in der IPPNW Durch die verschärfte Gesetzgebung im Asylpaket I und II werden auch in Heilberufen Tätige wieder zunehmend mit Abschiebungen kranker Flüchtlinge konfrontiert. Viele Ärztinnen und Ärzte, Schwestern, Pfleger und TherapeutInnen geraten in einen schwierigen Konflikt, wenn sie sich zwischen Patientenwohl und vermeintlicher Staatsräson entscheiden sollen. Es besteht große Unsicherheit und Hilflosigkeit, sich in einer solchen schwierigen Situation adäquat zu verhalten. Diese Handreichung bietet Hilfe an.

des Beraters eine entsprechende Fragestellung an die ExpertInnen aus den Heilberufen formuliert wird. Letztere sollten sich dann strikt an die Beantwortung dieser Fragen halten.

Wenn nur noch wenig Zeit ist:

3.

Ein Attest formulieren. Es muss Folgendes beinhalten:

• Identifikationsdaten der Patientin/des Patienten • Häufigkeit des Kontaktes • (vorläufige) Diagnosen, ICD-10-verschlüsselt

Der beste Abschiebeschutz ist die Einbindung

• derzeitige Behandlung

der KlientInnen / PatientInnen in ein

• weiterer Behandlungsbedarf

funktionierendes soziales Netz.

• Voraussetzungen für den Behandlungserfolg

1.

• zu erwartende Verschlechterung des Gesundheitszustandes im Fall der Abschiebung.

Um nicht von der Abschiebung eines in Behandlung stehenden Flüchtlings überrascht zu werden, sollte der Aufenthaltsstatus bei Erhebung der Anamnese routinemäßig festgestellt werden. Die aktuelle aufenthaltsrechtliche Situation erklärt darüber hinaus manche Symptome und Details des Krankheitsverlaufs.

Falls noch etwas mehr Zeit ist:

4.

Eine ausführlichere ärztliche Stellungnahme mit Begründung der Diagnose und Darstellung der sich daraus ergebenden therapeutischen Konsequenzen sollte eingereicht werden. Wichtig: ausführliche Prognose zur Gesundheitsverschlechterung durch zwangsweise Rückkehr!

2.

Bei drohender Abschiebung können wir durch frühzeitige fachliche Eingaben oft erfolgreich eingreifen, das heißt, Abschiebungen „aus der Behandlung“ verhindern. Das erspart viel Leid und vermeidet akute Verschlechterungen des Gesundheitszustandes. Dringend notwendig ist es, in solchen Fällen mit den juristischen VertreterInnen und den Unterstützenden (Rechtsanwältin/Rechtsanwalt, SozialpädagogIn, andere soziale Begleitung) Kontakt aufzunehmen und gemeinsam zu überlegen, ob ein Attest oder eine Stellungnahme hilfreich sein kann. Es ist dringend zu empfehlen, dass seitens der juristischen Beraterin/

5.

Der Patientin/dem Patienten einen Kurz-Arztbrief mitgeben, damit sie/er im Heimatland eventuell anderen KollegInnen etwas vorzeigen kann.

6.

Sollte die Patientin/der Patient durch die Abschiebedrohung in eine suizidale Situation hineingeraten, muss mit ihr/ihm besprochen werden, ob eine vorübergehende stationäre Behandlung erforderlich ist.

10


7.

Befindet sich die Patientin/der Patient in stationärer Behandlung und verlangt die Polizei die Herausgabe, um sie/ihn abzuschieben, sind die diensthabenden ÄrztInnen/Schwestern/Pfleger nicht verpflichtet, dem nachzukommen. Diese Weigerung und der Hinweis auf die Verpflichtung, ausschließlich dem Patientenwohl zu dienen, veranlasst in der Regel die Beamten, die Abschiebung abzubrechen.

8.

Wenn eine Hausärztin/ein Hausarzt in einer Abschiebesituation angerufen wird, sollte sie/er darauf bestehen, die Patientin/den Patienten noch einmal zu sehen und zu untersuchen. (Wenn es verwehrt wird, sollte man im Nachhinein beim Verwaltungsgericht klagen.) Kommt man zu dem Schluss, dass das Patientenwohl in diesem Augenblick in Gefahr ist, sollte man es schriftlich dem Einsatzleiter mitteilen. Er muss dann entscheiden, ob die polizeiliche Maßnahme trotzdem fortgesetzt oder aber abgebrochen wird. (Sachliche, professionell und ruhig vorgetragene Gründe wirken in der emotional aufgeheizten Abschiebe-Atmosphäre oft Wunder.)

9.

Die Patientin/den Patienten darüber aufklären, dass sie/er eine Untersuchung der Reisefähigkeit vor dem Flug verlangen kann. Eventuell den KollegInnen am Flughafen noch entsprechende Untersuchungsbefunde faxen.

Wenn sich die Abschiebung nicht verhindern lässt:

10.

Der Patientin/dem Patienten sollte die Möglichkeit genannt werden, sich nach der Abschiebung noch einmal zu melden. Dann besteht die Chance, ihr/sein Schicksal weiterzuverfolgen.

Last but not least:

11.

Heilberuflich Tätige sollten in allen diesen Situationen umgehend mit örtlichen Flüchtlingsbegleitergruppen oder ähnlichen Bürgerinitiativen, mit Flüchtlingsrat, Caritas, Diakonischem Werk u.a. Kontakt aufnehmen, um gemeinsam die Abschiebung kranker Flüchtlinge zu verhindern.

Wir stellen uns schützend vor unsere PatientInnen; wir weigern uns, gegen unser Gewissen mit den Abschiebe behörden gemeinsame Sache zu machen.

12.

KollegInnen, die ohne sorgfältige und gewissenhafte Prüfung (das heißt auch unter Berücksichtigung ihrer fachlichen Grenzen) kranken Flüchtlingen „Flugreisetauglichkeit“ bescheinigen und/ oder bei Abschiebungen mitwirken, verstoßen gegen die ärztliche Berufsordnung und missachten den hippokratischen Eid.

Fachlicher Ansprechpartner: Ernst-Ludwig Iskenius Arbeitskreis Flüchtlinge & Asyl in der IPPNW Telefon: 030 6980 74-0 E-Mail: iskenius@ippnw.de

11


FLUCHT & ASYL

Recht auf Gesundheit: Menschenrechtstribunal in Berlin 23.–25. Oktober 2020, Refugio, Lenaustraße 3-4, 12047 Berlin | Das innenpolitische Klima gegenüber Geflüchteten hat sich zunehmend verschlechtert. Vermehrt werden kranke, traumatisierte und schwangere Personen abgeschoben. Diese Praxis ist mit dem Menschenrecht auf Gesundheit unvereinbar. Um für solche Gesetzesverletzungen ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen, haben sich verschiedene Akteur*innen zu einem Bündnis zusammengeschlossen, das Menschenrechtsverletzungen sammelt und dokumentiert. Diese werden in Form eines öffentlichen Tribunals vorgetragen und von einer unabhängigen Jury beurteilt. Mehr Infos unter: ippnw.de/bit/tribunal

Weiterführende Informationen zu Flucht und Asyl: • www.ippnw.de/soziale-verantwortung.html • www.proasyl.de • www.women-in-exile.net Foto: IPPNW

• www.fluechtlingsrat-bayern.de • permanentpeoplestribunal.org

Sie wollen mehr? Die Artikel und Fotos der Seiten 1–9 stammen aus unserem Magazin „IPPNW-Forum“, Ausgabe Nr. 160, Dezember 2019. Das Titelfoto ist Teil der Serie „Zimmer 211“ des Fotografen Max Ernst Stockburger, der das Leben in einem bayerischen Ankerzentrum dokumentiert hat: www.mxrnst.com In jedem IPPNW-Forum behandeln wir ein Schwerpunktthema und beleuchten es von verschiedenen Seiten: Energie- und Friedenspolitik, Atomwaffen und soziale Verantwortung in der Medizin. Darüber hinaus gibt es aktuelle Berichte, Interviews und Veranstaltungstipps. Das IPPNW-Forum erscheint viermal jährlich. Sie können es abonnieren oder einzelne Ausgaben in unserem Shop bestellen.

» www.ippnw.de/bit/forum IMPRESSUM Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland Redaktion: Ute Watermann (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Regine Ratke Layout: Regine Ratke

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte­straße 10, 10967 Berlin, Tel: 030 6980 740, E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE39 1002 0500 0002 2222 10, BIC: BFSWDE33BER

Sämtliche namentlich gezeichneten Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung.


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