Hiroshima, Nagasaki: Broschüre zum 70. Jahrestag

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Hiroshima Nagasaki

6 . A u g u s t 1 9 4 5, 8 : 1 5

9 . A u g u s t 1 9 4 5 , 11 : 0 2

Publikationen der IPPNW


›Dämmerung über Hiroshima‹ Holzschnitt von Kiyoshi Asai, 1945

Hiroshima 1995, der Friedenspark mit seinem Denkmal

Kinder von überall in der Welt falten Kraniche zu bunten Ketten. Am Friedens­d enkmal für die gestorbenen Kinder.


Die Kraniche der Sadako Sasaki

Sadako Sasaki, ein Mädchen aus Hiroshima, war zum Zeitpunkt der Atombombenexplosion zwei Jahre alt. 1955 erkrankte sie als Zwölfjährige an Leukämie. Eine Freundin erzählte ihr von der japanischen Legende, dass man gesund werden würde, wenn man tausend Kraniche aus Papier faltet. Sadako starb am 25. Oktober 1955. Sie hatte bis zu ihrem Tod 644 Kraniche gefaltet. Zusammen mit ihr und den in Hiroshima umgekommenen Kindern wurden die Kraniche zu einem internationalen Symbol des Friedens. Ihre MitschülerInnen gründeten die Hiroshima »Orizuru Kai« und sammelten Spenden für ein Denkmal, auf dem geschrieben steht: This is our cry. This is our prayer. Peace in the world.


Geschichte

Hiroshima – Nagasaki

Seit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sind 70 Jahre vergangen. 70 Jahre, in denen die Menschheit nichts dazu gelernt zu haben scheint: Die Entwicklung dieser Massenvernichtungswaffen wird weiter vorangetrieben; ihr Einsatz im Krieg gegen den Terror von den Militärstrategen offen diskutiert. Atombomben haben ihren Schrecken bis heute nicht verloren. Für die Überlebenden (Hibakusha) nicht: sie leiden bis heute unter den direkten Folgen der Atomexplosionen, strahlenbedingten ­Krankheiten und gesellschaftlicher Diskiminierung. Auch ihre Kinder haben mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erhöhte Erkrankungsrisiken, auch

wenn dies von der japanischen Regierung weiter abgestritten wird. Und auch für den Rest der Menschheit nicht, die nach wie vor durch Atomwaffen bedroht wird. Mit der erneuten Konfrontation zwischen NATO und Russland ist die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen so hoch wie seit Mitte der 1980'er Jahren nicht mehr. Über die kata­ strophalen humanitären Folgen von Atomwaffen wird in den Medien nahezu gar nicht berichtet, obwohl Weltärztebund, Rotes Kreuz, IPPNW sowie zahlreiche andere internationale Organisationen einhellig der Meinung sind, dass Atomwaffen so schnell wie möglich geächtet werden müssen. Dazu mag aber auch beigetragen haben, dass die Reich-

Postkarte von Nagasaki aus den 30er Jahren

Hiroshima 1935

weite und das Zerstörungspotenzial der heutigen Atomwaffen unsere Vorstellungskraft so sehr übersteigt, dass wir die tödliche Bedrohung verdrängt haben. Das Potential reicht doch immer noch aus, die Erde mehr als einmal zu zerstören. Diese Broschüre soll einen Überblick über die Geschehnisse des 6. und 9. August 1945 in den Städten Hiroshima und Nagasaki geben. Es geht hier nicht darum, die Rolle Japans im Zweiten Weltkrieg zu verharmlosen. Sondern darum, bewusst zu machen, dass die Abwürfe der Atombomben über Japan großangelegte Menschenversuche waren. Sie fanden nicht etwa über unbesiedeltem Gebiet in Japan statt, um den Gegner zu Friedensverhandlungen zu


Geschichte

bewegen. Die Städte Hiroshima und Nagasaki waren während des Kriegs gezielt verschont geblieben, um in den beiden Städten die reine Wirkung der Atomexplosionen zu testen. Die Städte Dresden und Hamburg waren ursprünglich als Zielorte der beiden Bomben vorgesehen, wurden aber statt dessen durch Feuerstürme zerstört. Keine einzige Friedensoption wurde von der US-Regierung unter Präsident Harry S. Truman im Sommer 1945 ernsthaft getestet: Weder wurden die japanischen ­Friedensgesten ausgelotet, noch auf den Kriegs­ eintritt der Sowjetunion gewartet, noch die Macht der Atombombe über einem unbewohnten Gelände demonstriert oder die ­Kapitulationsbedingungen für Tokio annehmbarer gestaltet. Vor allem

die Milderung der KapitulationsBedingungen hätte möglicherweise die Atombombenabwürfe verhindern können. Doch nachdem Japan die bedingungslose Kapitulation abgelehnt hatte, wurde der Abwurf der Bombe ohne Warnung beschlossen. Als die vier möglichen Ziele galten zunächst Kyoto, Hiroshima, Kokura und Niigata. Kyoto wurde dann von den US-Militärs als bedeutende ­Kulturstadt als Ziel ausgeschlossen, da die USA befürchteten, dass die Bombardierung von Kyoto die Bevölkerung gegen eine spätere amerikanische Besatzung aufbringen könnte. Niigata schied ebenfalls aus, da es als zu klein eingestuft wurde. Am 6. August 1945 geschah dann das Unfassbare. Viele Uhren blieben exakt um 8.15 Uhr stehen, dem Zeitpunkt, als die erste Atombombe

explodierte. Drei Tage später warfen die USA die zweite Bombe über Nagasaki ab. Erst über eine Woche später – mit der japanischen Kapitulation am 15. August 1945 – wurde die betroffene Bevölkerung darüber informiert, dass sie mit Atombomben bombardiert worden war. Obwohl dies bereits am 7. August vom US-Präsidenten Truman bekannt gegeben wurde und spätes­ tens am 8. August von japanischen Wissenschaftlern anhand belichteter Röntgenaufnahmen festgestellt worden war. Bis heute hält das Schweigen über die Atombomben und ihre schrecklichen Auswirkungen an. Die Ergebnisse der Untersuchungen von japanischen Strahlenopfern werden nur nach und nach zugänglich gemacht.

Tabelle 1

Geschätzte Anzahl der zivilen Opfer binnen 4 Monaten

Hiroshima Nagasaki

Tote am Angriffstag 45.000 Tote ab dem 2. Tag 19.000 Tote innerhalb von 4 Monaten 64.000

22.000 17.000 39.000

Verletzte am Angriffstag Überlebende Verletzte Gesamtzahl der Opfer

42.000 25.000 64.000

91.000 72.000 136.000

Diese Zahlen enthalten weder militärische Opfer, noch Überlebende, die unter Langzeitfolgen litten oder ­leiden.

Die erste Atomexplosion, Alamogordo, New Mexico, USA

Quelle: Ohkita, Takeshi: »Akute medizinische Auswirkungen in Hiroshima und Nagasaki« in »Last Aid – letzte Hilfe – Die medizinischen Auswirkungen eines Atomkrieges«, IPPNW, Neckarsulm 1985


Hiroshima

Das Hiroshima-ken Sangyo Shorei Kan (Prefectural Industry Promotion Building) bekannt als »Atomdom« Foto: Eiichi Matsumoto, September 1945.

Hiroshima 6. August 1945, 8 :15 Uhr

Die Stadt Hiroshima liegt am nörd­ lichen Ufer des Binnenmeers Seto in West­japan. Obwohl Hiroshima ein bekannter Militärstützpunkt der japanischen Armee war, blieb die Stadt bis August 1945 gänzlich von Bomben verschont. Viele Menschen verwunderte das. Sie brachten ihre Kinder vorsichtshalber bei Verwandten auf dem Land unter. Diejenigen, die andernorts keine Familie hatten, blieben in der Stadt. Sie wurden zu Abrissarbeiten eingeteilt, damit die Stadt bei einer möglichen Bombardierung wenig Angriffsfläche böte. Darunter waren – trotz der Sommer­ fe­­ rien – auch viele Schüler und Schü­ le­ rinnen. Für die Zeit der Bombardierung wird Hiroshimas ­ Wohnbe­ völkerung auf 280.000 bis

290.000 Menschen geschätzt, das in der Stadt verbliebene Militärpersonal auf 43.000 Menschen. Dazu kom­ men schätzungsweise 20.000 koreanische bzw. chinesische Zwangs­ arbeiter und US-amerikanische Kriegsgefangene. Insgesamt

muss also von einer Bevölkerung von 340.000 bis 350.000 Menschen ausgegangen werden. 60 % von ih­­ nen befanden sich 2.000 Meter oder weniger vom Hypozentrum (»Ground Zero«) entfernt. Das Hypozentrum ist der Punkt auf der Erd­oberfläche,

Tabelle 2

Mortalitätsrate in Hiroshima in Abhängigkeit von der Entfernung der Explosion Entfernung vom Explosionszentrum (km) < 0,5 0,5–1,0 1,0–1,5 1,5–2,0 2,0–5,0 Mortalität am 1. Tag 90 % 59 % 20 % 11 % <4% Mortalität insgesamt 98 % 90 % 46 % 23 % < 4 % Übernommen aus: ›The Impact of the A-Bomb‹ 1985, S. 90; und ›Last Aid‹, S.175.


Hiroshima

Shimomura Tokei-ten (Uhren- und Juwelengeschäft), 620 m östlich des Hypozentrums Foto: Shigeo Hayashi, Oktober 1945.

der direkt unterhalb der in der Luft explodierten Atombombe lag. Die Atombombe von Hiroshima wurde von den US-Amerikanern »Little Boy« genannt. Sie war mit drei Metern Länge, einem Durchmesser von 0,7 Metern und einem Gewicht von drei Tonnen kleiner als die Atombombe von Nagasaki und enthielt Uran 235. Am 6. August um 8 Uhr 15 Minuten und siebzehn Sekunden Ortszeit wurde die Atombombe »Little Boy« in fünfhundertachtzig Metern Höhe über der Stadt Hiroshima von dem B-29-Flugzeug »Enola Gay« abgeworfen. Die Explosionskraft der Atombombe entsprach 12,5 Kilotonnen TNT. In einem Umkreis von 0,5 km um den »Ground Zero« waren 7

Minami-Yamate-machi (Nagasaki Fortress Command) 3,5 km süd-süd-ost vom Hypozentrum, der in Holzplanken gebrannte Schatten eines Soldaten Foto: Eiichi Matsumoto, September 1945.

90 % der Menschen sofort tot (Tab. 2). Die Temperatur am Hypozentrum betrug eine Sekunde lang ca. 3000 bis 4000 Grad Celsius. An dieser Stelle verdampfte alles, und es blieben nur die Schatten der Menschen und Häuser übrig. Eine ungeheure Druckwelle, die auch im Umkreis von 40 Kilometern wahrgenommen wurde, zerstörte die Stadt (Tab. 3). Es folgten Feuerstürme mit Windgeschwindigkeiten von über 250 km/h und Bodentemperaturen von über 1.000 Grad Cel­sius. Glas und Eisen schmolzen, der Asphalt brannte. Am Ende des ersten Tages starben nach konservativen Schätzungen mindestens 45.000 Men­ schen (Tab. 1). Der Druck ließ die inneren

Organe der Menschen zerplatzen, die Augäpfel hingen vielen Opfern aus den Augenhöhlen. Die Kleidung brannte sich in die Haut ein, so dass viele Menschen, obwohl fast nackt, nicht als Mann oder Frau zu unterscheiden waren.

Tabelle 3

Zerstörung von Gebäuden in Hiroshima (Druckwelle, Brände infolge der Explosion) Entfernung vom Explosionszentrum < 1 km 1-2 km 2-3 km 3-4 km 4-5 km > 5 km

Anteil zerstörter Gebäude 100% 98,8% 91,2% 83,2% 66,5% 17,7%


Nagasaki

Nagasaki 9. August 1945, 11:02 Uhr

Nagasaki ist eine Hafenstadt, die am westlichen Zipfel der Insel Kyu­ shu am Ostchinesischen Meer liegt. Die Bevölkerung Nagasakis wird zum Zeitpunkt der Bombardierung auf zwischen 240.000 und 260.000 Menschen geschätzt. In Nagasaki befanden sich etwa 30 % der Bevölkerung 2.000 Meter oder weniger vom Hypozentrum entfernt. Auch wenn am 9. August bereits mehrere Male Luftalarm gegeben worden war, kehrten die Einwohner der Stadt an die Arbeit zurück, sobald Entwarnung gegeben wurde. Um 11 Uhr und 2 Minuten Ortszeit

wurde die Bombe auf Nagasaki von dem B-29-Flugzeug mit dem Namen »Bock’s Car« abgeworfen. Die Atombombe von Nagasaki wurde aufgrund ihrer Form »Fat Man« genannt. Sie enthielt Plutonium 239, war 4,5 Meter lang, hatte einen Durchmesser von 1,5 Metern und wog 4,5 Tonnen. Die Explo­ sionskraft der Atombombe entsprach 22 Kilotonnen TNT. Der Sprengpunkt befand sich etwa in einer Höhe von 503 Metern. Die Explosion hat ihren Eingang in die japanische Sprache gefunden. Das Wort Pikadon bezeichnet den

unglaublichen Knall und das Aufblitzen des Lichtes der Explosion, das viele Menschen erblinden ließ. Die bebauten Stadtgebiete er­­ strecken sich nach Osten im Becken des Flusses Nakashima und nach Norden im Becken des Flusses Urakami. Die Anhöhen zwischen den beiden Flusstälern teilen Nagasaki. Da der östliche Bezirk Nakashima durch die Hügelkette abgeschirmt wird, blieb er von direkten Schäden durch Hitze und Druck verschont. Trotzdem waren die Schäden in Nakashima keineswegs gering: 18.409 Gebäude wurden beschädigt,

10. August 1945, Nagasaki Fotos: Yosuke Yamahata

Bei Tagesanbruch be­g innt Yosuke Yamahate zu fotografieren. Unter seinen ersten Bildern befindet sich das Portrait eines Jungen mit seiner Mutter. In ihren Händen halten sie ge­k ochte Reis­b älle, die sie als Not­­­r atio­n en empfangen haben. 700 m süd-süd-östlich des Hypo­z entrums. Gegen 7 Uhr, nähe des Bahnhofes von Nagasaki, 2,3 km süd-süd-östlich des Hypozentrums. Ein Junge trägt seinen blutverschmierten jüngeren Bruder. Gegen 14 Uhr an der Michinoo Bahnstation, 3,6 km nördlich vom Hypozentrum entfernt. Während diese Mutter auf medizinische Ver­s or­ gung wartet, stillt sie ihr Kind. 8


Nagasaki

11.574 davon verbrannten vollständig und 1.326 wurden völlig zerstört. Die Schäden durch die Druckwelle im Bezirk Urakami waren aufgrund der größeren Sprengkraft noch schwerer als die Schäden in Hiroshima. Ein Augenzeuge beschrieb das Feuer: »Der Brand entstand nicht, weil das Feuer sich, von Stelle zu Stelle springend, ausgeweitet hätte; vielmehr brachen viele Feuer gleichzeitig in einem riesigen Gebiet aus und loderten, bis der riesige Brand auf einen Schlag erlosch. Eine Zeit lang tobte die ganze Erde und spie

Feuer.« (Juji Takatani, Bakushin no Oka ni te). Die Zerstörungskraft der Atombombe überstieg bei weitem Nagasakis Rettungskapazitäten. Un­gefähr 22.000 Menschen starben am Tag des Angriffs, 42.000 wurden verletzt (Tab. 1). Die medizinische Universität Nagasaki und ihr Krankenhaus, das wichtigste Versorgungszentrum, waren zerstört und viele Ärzte getötet oder verletzt. Was die Stadt an medizinischen Notversorgungsmaßnahmen vorbereitet hatte, war bis aufs Letzte zugrunde gerichtet worden.

Tabelle 4

Prozentsatz der Toten bzw. Verletzten durch verschiedene Ursachen bei unterschiedlicher Entfernung von den Hypozentren Hiroshima und Nagasaki * Entfernung

in km

Hiroshima %

Tote < 0,5 90,4 (98,4) 0,6–1,0 59,4 (90,0) 1,1–1,5 19,6 (45,5) 1,6–2,0 11,1 (22,6) Strahlenschäden 0–1,0 85,9 1–1,5 38,6 1,5–2,0 10,1 Verbrennungen 0–4,0 89,9 Traumen 0–5,0 82,8 (direkt und indirekt)

Nagasaki % 88,4 51,5 28,4 53,5 38,0 18,2 73,8 71,6

* Anteil der Verletzten nur für die Überlebenden. Bei den Mortalitätsraten für H­ iro­shima sind mit den jeweils ersten Werten die Prozentsätze der sofortigen Todesfälle am 6. August 1945 angegeben, mit den Werten in Klammern die Prozentsätze der bis Ende November 1945 eingetretenen Todesfälle. Die Angaben beruhen auf den Daten des Ausschusses für die Sammlung von Material über die Atombombenschäden in Hiroshima und Nagasaki (Committee for the Compilation of Materials on Damage ­c aused by the Atomic Bombs in Hiroshima and Nagasaki) Hiroshima and Nagasaki: The Physical, Medical and Social Effects of the Atomic Bombings. Tokio 1981. 9


Strahlenschäden

Der schwarze Regen und die Strahlenkrankheit Mädchen mit Haarausfall im Alter von 11 Jahren, das sich 2 km südwestlich vom Hypozentrum in Hiroshima befand. Sie starb 1965. Foto: Shunkichi Kikuchi.

Nach der Explosion ging schwar­ zer, schmierig-öliger Regen auf Hiro­ shima und Nagasaki nieder. Er entstand bei der Abkühlung des Feuerballs, weil Wasser um die radio­­aktiven Partikel herum kondensierte. Das radioaktive Wasser blieb an der Haut und der Kleidung der Opfer kleben. Die Außentemperatur sank so stark ab, dass die Menschen zu frieren begannen. Die höher geschleuderten Partikel gelangten erst später und weiter

Strahlenexponierte Personen in % 0 10 20 30 40 50 60

70

80

70

80

Krankheitsgefühl Erbrechen Übelkeit Appetitlosigkeit Haarausfall

entfernt zur Erde zurück. Dieser Niederschlag (Fallout) setzte sich ­ aus Produkten der Uran- oder Plutoniumkernspaltung zusammen, aus nicht gespaltenen Isotopen und Über­ resten der Bombe, die durch Neutronen radioaktiv geworden waren. Die Strahlung wurde aber nicht nur über den Regen, sondern auch über den Boden, die Luft und die Nahrung aufgenommen. Schließlich wussten die Menschen nicht, das alles um sie herum radioaktiv verseucht war und trafen keine Vorsichtsmaßnahmen. Innerhalb von Stunden bis wenige Tage nach der Explosion machte sich bei den Überlebenden die akute Strahlenkrankheit bemerkbar. Die Symptome des Leidens: Schwindel und Erbrechen, Krämpfe, Durchfall, Fieber, Schock, blutender Schleimhautzerfall in Rachen, Kehlkopf und Darm, Haarausfall, Schluckbeschwer­

den, punktförmige Hautblutungen, Bewusstlosigkeit – bis hin zum Hirntod, zu tödlichen Magen-DarmStörungen oder zu tödlichen ­Knochenmarksschädigungen. Den schwer erkrankten Überlebenden konnte kaum geholfen werden. Denn das medizinische Personal, das überlebt hatte, war selbst krank und die Krankenhäuser waren zerstört oder schwer beschädigt. Auch die Menschen, die man später zu Such- oder Aufräumarbeiten in die zerbombten Städte schickte, wurden schwer verstrahlt. Man spricht hier von den sogenannten Zweitverstrahlten.

Purpura Oropharyngeale Läsionen Zahnfleischulzera Blutungen Fieber Durchfälle Blutige Durchfälle 0

10

20

30

40

50

60

Prävalenz von Symptomen und Befunden bei Personen, die weniger als 1000 m vom Hypozentrum der Hiroshimabombe entfernt waren. Die Strahlendosis betrug 447 rad. Bei den Durchfällen sind blutige Durchfälle enthalten. Hiroshima am westlichen Ende der Sakae-bashi (Brücke) kurz nach der Bombardierung am 6. August, Zeichnung Zenko und Chieko Ikeda. 10


Ärztliche Hilfe

Ein Arzt in Hiroshima

»Die überlebenden Ärzte von Hiroshima – die Ordinationsräume und Spitäler waren zerstört, die ärztlichen Behelfe verstreut, sie selbst in verschiedenem Ausmaß arbeitsunfähig – erklärten, weshalb so viele Bewohner ohne ärztliche Behandlung blieben und warum so viele umkamen, deren Leben hätte gerettet werden können. Von einhundertfünfzig Ärzten der Stadt waren fünfundsechzig tot, und die übrigen waren zum größten Teil verletzt. Im größten Spital, dem des Roten-Kreuzes, waren von dreißig Ärzten nur sechs diensttauglich, und von mehr als zweihundert Krankenschwestern nur zehn. Der einzige unverletzte Arzt war Dr. Sasaki. (…) Dr. Sasaki arbeitete ohne Methode, nahm diejenigen, die in der Nähe waren, als erste vor und bemerkte bald, dass der Korridor immer voller wurde. Zwischen Abschürfungen und Risswunden, wie die meisten Patienten des Spitals sie erlitten hatten, fand er furchtbare Verbrennungen. Dann wurde ihm klar, dass die Verletzten von draußen hereinströmten. Es waren ihrer so viele, dass er die Leichtverwundeten zurückzustellen begann. Er begriff, dass er nicht mehr erhoffen durfte, als die Menschen vor dem Verbluten zu retten. Bald lagen oder kauerten die Patienten auf dem Fußboden der Krankensäle, der Laboratorien, der Korridore, auf den Treppen, in der Halle, in der Einfahrt, auf der Anfahrtsrampe und im Hof, und draußen auf der Straße in allen Richtungen. Verwundete stützten Verstümmelte, ganze Familien von Verletzten lehnten beisammen. Viele erbrachen sich. (…)

11

In einer Stadt von zweihundertfünfundvierzigtausend Einwohnern waren an die hunderttausend Menschen mit einem einzigen Schlage getötet oder tödlich verwundet worden; weitere hunderttausend waren verletzt. Mindestens zehntausend Verletzte begaben sich in das g­ rößte

Spital der Stadt, das einer solchen Invasion nicht gewachsen war – es hatte nur sechshundert Betten, die überdies sämtlich belegt waren. Die Menschen in dem erstickenden Gedränge weinten und schrien nach Dr. Sasaki, und die weniger ernstlich Verwundeten kamen und zupften ihn am Ärmel und ­bettelten, er möge den schwerer Verletzten zu Hilfe kommen. Hin- und hergezerrt in seinen bestrumpften Füßen, verwirrt durch die große Menge,

schwindlig beim Anblick so viel blutigen Fleisches, verlor Dr. Sasaki all seine berufliche Besinnung und hörte auf, als geschickter Chirurg und teilnehmender Mensch zu arbeiten. Er wurde zu einem Automaten, der mechanisch reinigte, einschmierte, verband. (…)«

Improvisiertes Lazarett, ca. 4 km vom Hypo­z entrum in Nagasaki, Zeichnung: Hiroshi Matsuzoe, 14 Jahre (1945).

Quelle: Hersey, John: »Hiroshima 6. August 1945, 8 Uhr 15« Athenaum Verlag, München 1982


Langzeitfolgen der Atombomben auf die Menschen

Verbrannt und halbblind, Hibakusha Masi Sakita, Foto: Haruo Kurosaki, 1970.

Die Folgen der beiden Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki sind bis heute zu spüren: immer noch erkranken jedes Jahr Überlebende der Atombombenabwürfe an Krebs und anderen strahlenbedingten Erkrankungen – obwohl mittlerweile 70 Jahre vergangen sind. Bis heute steigt die Zahl der jährlichen Todesfälle durch Krebs und andere Erkrankungen, die kausal auf die Strahlenexposition durch die Atombombenabwürfe zurück zu führen sind. Ein Großteil der Erkenntnisse über die Langzeitfolgen der Atombombenangriffe beruht auf den Ergebnissen epidemiologischer Studien. Seit 1950 werden mehr als 120.000 Überlebende im Rahmen einer groß angelegten prospektiven Lebenszeitstudie (Life Span Study oder LSS) regelmäßig untersucht. Die Studie wurde zunächst durch die Atomic Bomb Casualty Commission (ABCC) durchgeführt, seit 1975 dann durch die Radiation Effects Research Foundation (RERF), einer Kooperation der USamerikanischen National Academy of Sciences und japanischer Behörden. Die wichtigste Lehre der Studie lautet: eine ungefährliche Dosis von Radioaktivität gibt es nicht – jede noch so geringe Strahlenmenge erhöht nachweislich das Krebsrisiko.

Die ersten Krankheitsfälle, die ursächlich mit der Strahlenexposition in Verbindung gebracht wurden, waren Leukämien, deren Häufigkeit in der Studienkohorte bereits Anfang der 1950er Jahre signifikant anstiegen. Für die Menschen in Hiroshima lag die Leukämierate etwa 15-fach, für die in Nagasaki etwa 7-fach höher als der japanische Durchschnitt. Bis heute ist die Leukämierate in Hiro­ shima leicht erhöht. Später fand man auch erhöhte Raten solider Tumoren: zunächst Schilddrüsenkrebs, später auch Krebserkrankungen von Brust, Lungen, Magen, Darm, Gallengängen, Harntrakt, Haut, Leber, Gebärmutter und Eierstöcken. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass die Mitglieder der Studienkohorte ein etwa 1,5-faches Risiko für die Entwicklung solider Tumoren haben. Aber auch andere Erkrankungen können durch erhöhte Strahlenexposition verursacht werden. So zeigen die Studien aus Hiroshima und Nagasaki auch dosisabhängig e­ rhöhte Raten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Katarakten, Immunschwäche und hormoneller Störungen. Bei Kindern, die zum Zeitpunkt der ­ Atombombenexplosionen im Mutterleib exponiert wurden, fand man neben höheren Krebsraten auch eine dosisabhängige Inzidenz neurologischer Probleme wie Lernbehinderung, Intelligenzminderung und mentaler Retardierung. Bis heute werden bei den Überlebenden zudem erhöhte Raten chromosomaler Schädigungen gefunden. Doch an den Ergebnissen der Studie gibt es auch berechtigte Kritik, denn sie verzerrt durch ihre systemischen Mängel unser Bild auf die Folgen ionisierender Strahlung und führt zu einer systemischen Unterschätzung der Strahleneffekte. Im Folgenden sollen die sechs wesentlichen Kritikpunkte kurz angerissen werden:

Die fehlenden Jahre 1945–1950 Da die Langzeitstudie erst 1950 begonnen wurde, also 5 Jahre nach den Atombombenexplosionen, ist über die meisten Opfer und deren Todesursache nur wenig bekannt. Wir wissen, dass in den ersten Jahren schwere Verbrennungen, Verletzungen, akute Strahlenkrankheit und der Totalausfall der medizinischen Infrastruktur zu vielen Todesfällen führten. Durch die Strahlenexposition und die Verseuchung der Umgebung mit radioaktivem Fallout kam es auch zu zahlreichen Fehl- und Totgeburten, kindlichen Fehlbildungen sowie strahlenbedingten Erkrankungen, die weitere Todesopfer forderten – vor allem kleine Kinder, da Kinder empfindlicher für Strahlung sind als Erwachsene. Über diese Menschen wurde keine Statistik geführt. Die Toten wurden anfangs nur selten untersucht, da Personal und Infrastruktur fehlten und Leichen wegen der Seuchengefahr schnell verbrannt wurden. Somit fehlt in der Langzeitstudie die Erfassung von teratogenen und genetischen Effekten sowie strahleninduzierten Krankheiten mit geringer Latenzzeit – ein ganz wesentlicher Bestandteil der Strahlungseffekte. Mangelnde Dosisabschätzung An der Abschätzung der individuellen Strahlendosis gab es schon immer berechtigte Zweifel. Da die Menschen in Hiroshima und Nagasaki im August 1945 keine Strahlenmessgeräte trugen, musste ihre Strahlendosis durch komplexe Berechnungen mit vielen unbekannten Variablen abgeschätzt werden. Die Entfernung zum Hypozentrum und die Strahlenabschirmung durch Bebauung oder Kleidung waren oft nur lückenhaft zu erheben. Die Rolle von Neutronenaktivierung wurde erst seit dem Jahr 2004 in der Dosimetrie berücksichtigt, während 12


Langzeitfolgen

Tote durch radioaktive Strahlung pro Jahr bei den Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki

Quelle: Evan B. Douple et al.: Long-term Radiation-Related Health Effects in a Unique Human Population: Lessons learned from the Atomic Bomb Survivors of Hiroshima and Nagasaki, Disaster Medicine and Public Health Preparedness, Vol.5, Suppl. 1, American Medical Association 2011.

Fragwürdigkeit von Befragungs­ ergebnissen Die Atombombenüberlebenden waren lange Zeit eine gesellschaftlich geächtete Gruppe. Es kam daher oft vor, dass in offiziellen Erhebungen keine ehrlichen Angaben über Herkunft und Krankheiten der Nachkommen gemacht wurden, um beispielsweise deren Heiratschancen und gesellschaftliche Eingliederung nicht zu gefährden. Zudem kam es häufig zu Fehlangaben von Todesursachen, um den Angehörigen wenigstens die 13

Nicht-Krebserkrankungen

20

voraussichtlich Leukämien vor der Datenerhebung

15

10

5

Jahr

die gesundheitlichen Effekte durch radioaktiven Niederschlag, verseuchte Nahrung oder Trinkwasser bis heute als »vernachlässigbar« bezeichnet und bei der Berechnung der Strahlendosis ignoriert werden. So ist weiterhin bei den meisten Menschen von einer systematischen Unterschätzung der tatsächlichen Strahlendosis auszugehen. Dabei sind gerade in den letzten Jahrzehnten zahlreiche neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Folgen niedriger Strahlendosen publiziert worden und auch die RERF erkennt mittlerweile die Tatsache an, dass es keine untere Schwellendosis gibt und damit jede noch so geringe Strahlendosis gesundheitliche Effekte haben kann.

Krebserkrankungen (außer Leukämie) voraussichtlich

Tote/Jahr

Ergebnisse der Life Span Studie der RERF (Radiation Effects Research Foundation)

25

1950

1960

1970

»Schande« zu ersparen, Atombombenopfer in der Familie zu haben. All diese Faktoren relativieren die Schlussfolgerungen aus den Umfragen und Untersuchungen der Lebenszeitstudie und führen zu einer systematischen Unterschätzung der tatsächlichen Strahlenfolgen – auch der Folgegenerationen. Inadäquate Kontrollgruppe Menschen, die im 10 km-Umland der beiden Städte lebten, wurden als Kontrollpersonen für die Lebenszeitstudie herangezogen. Dabei waren diese Menschen fast alle radioaktivem Niederschlag ausgesetzt und durch verseuchte Nahrung und Trinkwasser verstrahlt. Der Vergleich mit einer ebenfalls strahlenexponierten Kontrollgruppe führt zu einer weiteren systematischen Unterschätzung des Strahlenrisikos der Studienkohorte. Selektionseffekte Aufgrund der Katastrophensituation nach den Atombombenabwürfen muss man annehmen, dass die verbliebenen Überlebenden eine selektierte Gruppe der besonders Widerstandsfähigen darstellen. Die untersuchte Population ist daher nicht repräsentativ. Aus dieser Selektion resultiert laut einer Studie von Alice

1980

1990

2000

2010

2020

2030

Stewart und George Kneale aus dem Jahr 2000 eine Unterschätzung des Strahlenrisikos um etwa 30 %. Ausklammerung genetischer Schäden Die international in mehreren Studien gezeigten genetischen Effekte auf nachkommende Generationen werden von den japanischen Behörden weiterhin geleugnet, wohl um sich vor Leistungsansprüchen von HibakushaNachkommen zu schützen. Bei ­Kindern von Strahlenexponierten aus dem sowjetischen Atomwaffentest­ areal Semipalatinsk und anderen Populationen mit erhöhten Strahlendosen sind durchaus relevante genetische Folgen bekannt, wie auch aus zahlreichen tierexperimentellen ­Studien. So ist auch bei den Nachkommen der Hibakusha von genetischen Folgen auszugehen.

Narbengeschwülste (Keloid) lähmen diese Handgelenke trotz 13 Operationen, 1957


Hiroshima

links: Hatsue Tominaga, Hiroshima, erblindete 1977 an den Spätfolgen des Atombombenabwurfs. rechts: Yoshiko Nishimoto war 18 Jahre alt, als die Bombe fiel. Sie verbrachte 14 Jahre im Krankenhaus und hatte 65 Operationen. Fotos: Ihetsu Morishita, September 1977.

Die Hibakusha Seit Jahrzehnten leiden die Überlebenden, die Hibakusha, wie sie auf japanisch genannt werden, an ihren Verletzungen, an Folgekrankheiten und seelischen Nöten. Viele Überlebende verfielen bei dem Anblick der Toten und der verwüsteten Stadt in eine teilnahmslose Haltung. Die meisten verloren an einem Tag ihre ganze Familie, andere mussten zusehen, wie ihre Eltern, Geschwister oder Kinder in den Wochen nach der Bombardierung qualvoll ihren schweren V­ erletzungen erlagen. Viele Überlebende wurden von Schuldgefühlen gequält, etwa, weil sie ihre Kinder nicht rechtzeitig vor dem Feuer aus den Trümmern befreien konnten. Später, bei der Gründung einer eigenen Familie, standen die Hi­ ba­ kusha tausend Ängste durch, fragten sich, ob ihre Kinder gesund zur Welt kommen würden oder ob sie selbst als Eltern an den Spätfolgen erkranken würden und sie ihre Kinder nicht versorgen könnten. Dazu kam die gesellschaftliche Ausgrenzung der Opfer – aufgrund von Arbeits­ lo­ sig­ keit, Krankheit, Behinderung und ihrem Sonderstatus als Hibakusha. Bis zum Friedensvertrag von San Francisco, der im April 1952 in Kraft trat, wurden von den USA Unter­ suchungen über die Leiden der Überlebenden reglementiert oder die Ergebnisse zensiert. Über Hiroshima und Nagasaki war eine Nachrichtensperre verhängt. Der Artikel 19 im

sogenannten Friedensvertrag schrieb ausdrücklich vor, dass Japan auf sämtliche Forderungen nach Reparationszahlungen für Kriegsschäden zu verzichten hat. Die USA wurden dadurch von etwaigen Verpflichtungen gegenüber den Hibakusha entbunden. Die Atombombenopfer und viele Bürgerinitiativen bemühen sich seitdem, staatliche Unterstützung zu erhalten. Ab 1954 wurde das »Problem« der Atombombenopfer endlich auf staatlicher Ebene diskutiert. Dem japanischen Parlament und der Regierung wurde eine Petition vorgelegt, in der gefordert wurde, die Behandlung von atombombenbedingten Erkrankungen aus Mitteln der Regierung zu bezahlen und ein Gesetz über Sozialhilfeleistungen für Atombombenopfer zu erlassen. 1956 wurden erstmals medizinische Aufwendungen für Atombom­ ben­ opfer als Aufgabe des japanischen Staates festgeschrieben. In Nagasaki fand im August 1956 eine dreitägige Konferenz gegen Atomund Wasserstoffbomben statt, bei der auch die Hilfeleistungen für die Opfer Thema waren. Bei einem weiteren Treffen der Atombombenopfer wurde der Verband der Organisationen der Atom- und Wasserstoffbombenopfer gegründet. Sie forderten die Entwicklung eines Gesetzes zur medizinischen Versorgung der Atombombenopfer. Dieses Gesetz, das dann auch verabschiedet wurde, legt fest, dass erstens Menschen, die zum

Zeitpunkt der Explosion bis zu 4 km vom Nullpunkt entfernt waren, zweitens Menschen, die kurz nach der Bombardierung nach Hiroshima und Nagasaki gekommen waren und drittens Menschen, die als Fötus verstrahlt worden waren, Atombomben­ opfer sind. Erbrachten die Opfer den Nachweis, zu einer der drei Gruppen zu gehören – was in vielen Fällen schwer zu bewerkstelligen war, weil sämtliche Angehörige und Habseligkeiten verloren waren – bekamen sie einen Ausweis, der ihnen die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen ermöglichte. Bislang wurden 367.000 Menschen als Atombomben­ opfer anerkannt. Bedürftigen Überlebenden zahlt der japanische Staat heute je nach Schwere der Erkrankung 150–550 Euro im Monat. Eine Summe, die in Japan die Unterhaltskosten nicht deckt. Schätzungsweise haben 40.000 ko­­reanische Zwangsarbeiter die Atom­­­bomben überlebt, die meis­ten kehrten nach Korea zurück. Im ­Nor­ma­­lisierungsvertrag mit Japan (1965) verzichtete Südkorea auf alle Ansprüche, wodurch die koreanischen Atombombenopfer von Japan keine Reparationszahlungen bekamen. Der südkoreanische Staat hat für diese Menschen keine besonderen Vorkehrungen getroffen. Für die ge­ringere Zahl von chinesischen und an­deren asiatischen Atombombenop­ fern gelten gleiche Schwierigkeiten. 14


Zeitzeugen

Ich habe die Bombe überlebt Die Hibakusha Setsuko Thurlow erzählt

Setsuko Thurlow verbrachte ihre Kindheit in Hiroshima. Die 83-jährige lebt heute in Kanada. Sie berichtet, wie sie die Bombardierung damals erlebte. An diesem Schicksalstag, dem 6. August 1945, war ich 13 Jahre alt und arbeitete im Rahmen eines Schülereinsatzes im Hauptquartier der japanischen Armee in ­Hiroshima, 1,8 Kilometer vom Zentrum der Bombardierung entfernt. Zusammen mit 30 anderen SchülerInnen war ich damit beschäftigt, Nachrichten zu entschlüsseln. Um viertel nach acht, als Major Yanai aufmunternde Worte zu unserer Gruppe sprach, sah ich aus dem Fenster einen blauweißen Blitz – und ich erinnere mich an das Gefühl, in der Luft zu schweben. Als ich zu mir kam, war es still und dunkel. Ich steckte zwischen eingestürzten Gebäudeteilen fest und konnte mich nicht bewegen – ich wusste, dass ich dem Tod ins Auge sah. Ich hörte das Jammern meiner MitschülerInnen: „Mutter, hilf mir!“ – „Gott, hilf mir!“. Da spürte ich Hände an meiner linken Schulter. Eine Männerstimme sagte: „Gib nicht auf – beweg Dich weiter! Ich versuch Dich hier raus zu kriegen. Kriech auf das Licht aus der Öffnung da oben zu – schnell!“ Als ich es geschafft hatte, standen die Trümmer schon in Flammen. Die meisten meiner MitschülerInnen sind bei lebendigem Leibe verbrannt. Ein Soldat zeigte mir und zwei anderen Mädchen einen Fluchtweg in die nahegelegenen Hügel. Ich schaute mich um. Obwohl es Morgen war, war es dämmerig­ dunkel, weil Staub und Rauch in die 15

Luft aufstiegen. Geisterhafte Gestalten strömten vorbei, aus dem Stadtzentrum trotteten sie in Richtung der nahegelegen Hügel. »Geisterhaft« sage ich, weil sie nicht wie Menschen aussahen. Ihr Haar stand zu Berge, sie waren nackt und zerrissen, blutig, verbrannt, schwarz und verschwollen. Körperteile fehlten, Fleisch und Haut hingen ihnen von den Knochen, manche hielten ihre Augäpfel mit den Händen, manchen hingen die Eingeweide aus dem offenen Bauch. Wir schlossen uns der gespenstischen Prozession an, vorsichtig stiegen wir über die Toten und Sterbenden. Im tödlichen Schweigen hörte man nur das Stöhnen der Verletzten und ihr Flehen nach Wasser. Der Gestank verbrannter Haut erfüllte die Luft. Wir schafften es, zum Fuß des Hügels zu entkommen, wo sich ein Truppenübungsplatz befand, so groß wie zwei Fußballfelder. Er war mit Toten und Verletzten überfüllt – die Verletzten bettelten nach Wasser, in schwachem Flüsterton. Wir hatten aber nichts, um Wasser zu transportieren. Wir gingen an den nahen Fluss, um Blut und Dreck von unseren Körpern zu waschen. Dann rissen wir unsere Kittel herunter, ­ durchnässten sie und rannten damit zu den Verletzen, die verzweifelt die Nässe heraussaugten. Den ganzen Tag sahen wir keine Ärzte oder Krankenschwestern. Als es dunkel wurde, saßen wir am Abhang und beobachteten die Stadt, die die ganze Nacht brannte – benommen von der Massivität des Leids und des Sterbens, deren Zeugen wir geworden waren. Mein Vater hatte die Stadt an diesem Tag früh verlassen. Meine

Mutter wurde aus den Trümmern unseres Hauses geborgen. Meine Schwester und ihr vierjähriger Sohn wurden zur Unkenntlichkeit verbrannt, als sie auf dem Weg zum Arzt waren. Eine Tante und zwei Cousins wurden nur noch als Skelette gefunden und meine Schwägerin gilt noch heute als vermisst. Wir waren froh, dass mein Onkel und seine Frau überlebten, doch zehn Tage später starben sie. Ihre Körper waren voller pinker Flecken und ihre inneren Organe schienen sich verflüssigt zu haben. 800 meiner AltersgenossInnen aus der siebten und achten Klasse sollten im Stadtzentrum Feuerschneisen anlegen. Viele von ihnen verbrannten sofort: Die Brände hatten Temperaturen um 4.000 Grad Celsius, und der Körper verkohlte oder verdampfte einfach. Die Verstrahlung, die es so nur bei einer Atombombe gibt, befiel die Menschen auf seltsame, willkürliche Art und Weise. Manche starben sofort, andere nach Wochen, Monaten oder Jahren an den Spätfolgen. Auch heute, 69 Jahre später, sterben noch Menschen an der Strahlung. So verwandelte sich das geliebte Hiroshima in einen Ort der Verzweiflung, überall Berge von Asche und

Setsuko Thurlow bei einer Gedenkveranstaltung am 27.6.2015 am Hiroshi­ maplatz in Potsdam. Am 24. Juli 1945 ist der Befehl zur Bombardierung von Hiroshima und Naga­ saki bei der Potsdamer Konferenz ausgegangen. Foto: ICAN Deutschland.


Zeitzeugen

ZeitzeugInnen Setsuko Thurlow und Sumeritu Tanaguchi reden vor der Staatenkonferenz zu humanitären Folgen von Atomwaffen in Nayarit, Mexiko im Februar 2014. Foto: ICAN.

Schrott, Skeletten und schwarzen Kadavern. Die 360.000 Bewohner­ Innen, zum größten Teil Frauen, Kinder und ältere Menschen, wurden Opfer des willkürlichen Bomben­ massakers. Ende 1945 waren schon etwa 140.000 Menschen tot. Bis heute sind allein in Hiroshima mehr als 260.000 an den Folgen der Explosion, der Hitze und der Strahlung gestorben. Es tut mir sehr weh, diese Zahlen zu nennen. Die Toten auf Zahlen zu reduzieren, erscheint mir wie eine Entwertung ihres kostbaren Lebens, eine Verneinung ihrer Würde. Die Menschen mussten die körperliche Zerstörung durch das Hungern ertragen, die Obdachlosigkeit, die mangelnde medizinische Versorgung, die Diskriminierung der Opfer, die man als »Atomgiftverseuchte« bezeichnete, das tatenlose Zuschauen der japanischen Regierung, den Kollaps des autoritären Gesellschaftssystems und die plötzliche Einführung eines demokratischen Lebensstils. Schlimm litten sie auch unter der psychosozialen ­ Kontrolle der alliierten Besatzungsbehörden

nach Japans Niederlage. Die Behörden zensierten die Medien­ berichte über das Leid der Überlebenden und konfiszierten ihre Tagebücher, Aufzeichnungen, Filme, Fotos und ­ Krankenakten. Nach dem massiven Trauma der Bombardierung mussten sich die Überlebenden jetzt in Schweigen und Selbstzensur üben – damit war ihnen die Möglichkeit genommen, zu trauern und das Geschehene zu verarbeiten. Nach dem Ende der siebenjährigen Besatzung war plötzlich eine Flut an Informationen verfügbar, die es den Hibakusha (Atombombenüberlebenden) ermöglichte, die Bedeutung ihres Überlebens erst­ malig in einer historischen Perspektive, in einem globalen Zusammenhang zu betrachten. Uns wurde klar, dass kein Mensch auf Erden jemals wieder die unmenschliche, widerrechtliche und grausame Erfahrung der atomaren Bombardierung durchmachen sollte – unsere Aufgabe ist also, die Welt vor dieser Bedrohung dieses unvorstellbaren Übels zu warnen. Wir glauben, dass es Menschlichkeit und Atomwaffen

nicht zusammen geben kann. Unsere Aufgabe ist es, Atomwaffen abzuschaffen, um eine sichere, saubere und gerechte Welt für zukünftige Generationen zu ermöglichen. In dieser Überzeugung haben wir uns in den letzten Jahrzehnten weltweit für die endgültige Abschaffung aller Atomwaffen stark gemacht. Obwohl wir Hibakusha unsere Lebensenergie darauf verwendet haben, Menschen vor der Hölle des Atomkriegs zu warnen, hat es in 70 Jahren kaum Fortschritte in der Abrüstung gegeben. Deshalb m ­ üssen wir dringend einen neuen Weg finden – einen, der die inakzeptablen humanitären Konsequenzen von Atomwaffen aufzeigt. Wir sind moralisch verpflichtet, diese zu ­verbieten. Wir hoffen, dass die neue Bewegung zur Ächtung und Abschaffung dieser Waffen uns endlich eine atomwaffenfreie Welt bringt. Für die Zivilgesellschaft und für die atomwaffenfreien Staaten ist die Zeit gekommen, die Ächtung von Atomwaffen in Gang zu bringen – um der Menschheit willen. Zusammen können wir es s­ chaffen. Wir müssen es schaffen. Setsuko Thurlow ist eine Überlebende des Atombombenabwurfs auf Hiroshima.

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Szenario

Bombenangriff auf die Stadt München Szenario eines Atombombenabwurfs auf München

Um die Konsequenzen eines Atom­bombenabwurfs über Deutschland deutlich zu machen, werden in der hier abgebildeten Grafik die Auswirkungen einer Atomexplosion in der Größe der Hiroshima-Bombe im Stadtzentrum von München dargestellt. Die Berechnungen gehen von einer Uran-Bombe mit einer Sprengkraft von 12,5 Kilotonnen aus – vergleichbar mit der Hiroshima-Bombe. Sie wird in einer Höhe von 580 Metern zur Detonation gebracht. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte von München beträgt 6.610 Menschen pro km2. Die Berechnung gilt nur für einen Umkreis von fünf Kilometern vom Explosionszentrum – eine Fläche von 78,5 km2 – weil über Hiroshima lediglich Daten über die Mortalitätsraten bis zu dieser Entfernung existieren. Natürlich hört das Sterben nicht an der 5 kmGrenze auf. Die Todesfälle werden auch nur für die ersten vier Monate kalkuliert, weil nur diese Daten aus Hiroshima zuverlässig sind.

6.646 4.152 7.998 13.508 12.948 5.001

Todesopfer innerhalb der ersten 4 Monate nach einer Atombombenexplosion (12,5 KT) im Münchner Stadtzentrum

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Entfernung zur Explosion

am 1. Tag

nach 4 Monaten

0,0–0,5 km 0,5–1,0 km 1,0–1,5 km 1,5–2,0 km 2,0–3,0 km 3,0–5,0 km

4.640 9.204 5.195 3.999 2.075 3.323

5.001 12.948 13.508 7.998 4.152 6.646

Am 1. Tag 0 – 5,0 km

Nach 4 Monaten

Quelle: IPPNW: »Primitive Atomwaffen: Proliferation und Terrorismus-Gefahr«, Berlin 1997


Transport und Startsystem der RS-24 Jars-Rakete während einer Militärparade zum 70. Jahrestag zum Gedenken des russischen Siegs im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945. Foto: Presse und Informationsstelle des ­r ussischen Präsidenten.

Atomwaffen heute Die Gefahr wächst wieder – der Widerstand auch Heute bedrohen uns immer noch mehr als 16.000 Atomwaffen: genug um die Welt mehrere Male zu zerstören. Geschätzte 2.000 dieser Atomwaffen werden in ständiger Alarmbereitschaft gehalten. Sie sind innerhalb weniger Minuten zum Start bereit, falls die USA oder ­Russland glauben, von dem anderen atomar angegriffen zu werden Die fünf »offiziellen« Atomwaffenstaaten stellten in den letzten sechzig Jahren über 125.000 Atomwaffensprengköpfe her. Zudem besitzen vier andere Staaten – Indien, Pakistan, Israel und Nord­ ­ korea – eine unbestimmte Anzahl von Atomwaffen. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges 1986 stieg

die Anzahl der Atomwaffen auf fast 70.000. 98% des Weltbestandes wurden von den USA und der UdSSR/ Russland produziert. In den 90er Jahren unterzeichneten die USA und Russland die STARTVerträge zur Reduzierung von Atomwaffen. Damit wurde das Atomwaffenarsenal während der 80er Jahre nahezu halbiert. Das Atomtestmoratorium wurde 1996 vom Atomteststopp-Vertrag abgelöst, und der Atomwaffensperrvertrag wurde 1995 unbefristet verlängert. Dieser Zeit der Hoffnung folgten jedoch die Atomtests von Indien und Pakistan. Zudem hat Nordkorea für Schlag­ zeilen gesorgt, als es Anfang 2003 angab, aus dem Atomwaffensperr-

vertrag auszutreten. Zwischen 2006 und 2013 f­ührte das Land drei Atomwaffentests durch. Mit den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 begann eine Zeit der weltweiten Unsicherheit, die in mehreren Regionen zum sog. »Krieg gegen den Terrorismus« führte. Unter George W. Bush änderten die USA ihre Atomwaffendoktrin: sie schlossen den Einsatz von Atombomben gegen atomwaffenfreie Staaten nicht mehr aus, entwickelten neue Atomwaffen und kündigten den Raketenabwehr-Vertrag, der seit 1972 für eine gewisse weltweite Stabilität gesorgt hatte. Präsident Obama versprach eine Änderung der Atomwaffenpolitik der 18


AGM-86B nuklearer Marschflugkörper wird auf ein B52-Flugzeug aufgeladen im Minot USAF-Stützpunkt, 2014 Foto: Kristoffer Kaubisch /US-Luftwaffe.

USA und bekannte sich zur Vision einer atomwaffenfreien Welt. Trotz kräftigen Gegenwinds durch die Republikaner im US-Kongress schloss er mit dem russischen ­Präsidenten Medwedew einen neuen Vertrag zur Rüstungskontrolle ab. Die dafür nötigen Zugeständnisse an die Republikaner waren jedoch groß: Obama muss inzwischen mehr Geld für die Modernisierung von Atomwaffen ausgeben, als jeder andere Präsident vor ihm. Mit der Rückkehr von Wladimir Putin in das russische Präsidentenamt ist die Abrüstung zwischen den beiden ehemaligen Supermächten zum Stillstand gekommen und seit dem Aufflammen der Ukrainekrise im Frühjahr 2014 haben die russisch-amerikanischen Beziehungen einen neuen Tiefpunkt erreicht. Die Rhetorik erinnert wieder an die schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges und das 19

Bulletin of Atomic Scientists musste die Weltuntergangsuhr Anfang 2015 auf 3 Minuten vor Zwölf vorstellen – ein Zeichen der Gefährdung des Weltfriedens. Die Bomben von Hiroshima und Nagasaki dürfen nicht nur für die Überlebenden unvergesslich bleiben. Für die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) sind sie zugleich ewige Mahnung und friedenspolitischer Auftrag zum Handeln. Die internationale Gemeinschaft hat Abkommen abgeschlossen, um bestimmte Waffenklassen zu verbieten, die inakzeptables Leid über Menschen und Umwelt bringen. Biologische und chemische Waffen, Landminen und Streubomben werden deswegen geächtet. Obwohl die zerstörerische Kraft von Atomwaffen um ein Vielfaches größer ist als die aller anderen Waffen, gibt es bisher

noch keinen Vertrag, der Atom­ waffen verbietet. Nichtsdestotrotz sind alle Unterzeichnerstaaten des Atomwaffensperrvertrags von 1970 verpflichtet, Atomwaffen durch einen Vertrag zu ächten.

Gesamtanzahl Atomwaffensprengköpfe von 1945 bis 2013 USA UdSSR/Russland Großbritannien Frankreich China Indien Pakistan Israel Gesamtzahl

66.500 55.000 1.250 1.260 600 ~ 110 ~ 120 ~ 190 125.040


Globale Folgen Schon beim regionalen Atomkrieg drohen Hungersnöte Der Einsatz von Atomwaffen durch mehrere Staaten hätte katastrophale Auswirkungen auf das globale Klima. Ein großer nuklearer Schlagabtausch würde zu aus­ gedehnten Bränden von Städten und Wäldern führen. Unmengen von Staub und Rauch würden in die

Ein regionaler Atomkrieg würde zu einem landwirtschaftlichen Kollaps in weiten Gebieten führen. Foto: Martine Perret/UN.

Atmosphäre gelangen, sich über den Planeten ausbreiten und eine dunkle Decke bilden, durch die die Sonne nur noch als undeutliche Scheibe hindurchschimmern würde. Die drastischen Temperaturveränderungen würden zu massiven Luftbewegungen führen. Eisstürme würden in einem nuklearen Winter das Land verwüsten. Die Erdkruste würde bis zu einem Meter Tiefe vereisen und die Wasserversorgung wäre gefährdet. Pflanzen würden erfrieren, die Landwirtschaft käme zum Stillstand und globale Hungersnöte von nie gekanntem Ausmaß wären die Folge. Die heute weltweit eingelagerten Atomwaffen würden mehr als genügen, um das Leben auf unserem Planeten auszulöschen. Neuere Studien zeigen, dass selbst ein »kleiner«, regional begrenzter Atomkrieg unmittelbar Millionen Menschenleben kosten würde und unvorhersehbare klima­ tische Veränderungen mit sich bringen würde.

Klimatologen haben für regionale Konflikte Berechnungen angestellt. Zum Beispiel für einen Krieg zwischen Indien und Pakistan, bei dem jedes Land umgerechnet 50 Hiroshima-Bomben – das entspricht weniger als 0,5% der globalen Atomwaffenarsenale – einsetzen würde: Mehr als fünf Megatonnen schwarzen Kohlenstoffs würden die Atmosphäre verdunkeln und die Temperatur – global – um 1,25 Grad fallen lassen. Die hieraus resultierenden Hungersnöte würden bis zu zwei Milliarden Menschen bedrohen. Eine weitere Wissenschaftlergruppe hat diese Ergebnisse nicht nur bestätigt. Mit dem gleichen Ausgangsszenario wurde nicht die Temperatur, sondern die Chemie der Atmosphäre untersucht. Die Stratosphäre würde sich durch die Auf­ nahme von Ruß stark aufheizen und Reaktionen in Gang setzen, die zur

Freisetzung von Stickoxiden führen. Letztere sind als »Ozonkiller« bekannt. Dementsprechend käme es zu einem Kahlschlag in der Ozonschicht. Der Verlust betrüge global ein Fünftel, in mittleren Breiten zwischen 25 und 40 Prozent und im Norden wären gar zwei Drittel der ­ schützenden Moleküle zerstört. Der US-Arzt Dr. Ira Helfand und eine Gruppe von Experten aus Landwirtschaft und Ernährungswissenschaft haben mehrere Studien der letzten Jahre ausgewertet. Ihr Resümee: Folgen eines regionalen ­ Atomkrieges in Südasien wären sinkende Temperaturen und reduzierte Niederschläge, die in wichtigen landwirtschaftlichen Regionen den Anbau von Getreide, Mais und Reis gravierend stören und weltweit zur Nahrungsmittelknappheit und zu Preiserhöhungen führen würden.

Globale Temperaturen in den Jahren 2 bis 6 nach einem regionalen Atomkrieg

Die globale Temperatur würde nach einem regionalen Atomkrieg durchschnittlich um 1,5° C sinken, Länder mit kontinentalem Klima würden viel niedrigere Temperaturen erleben. (a) Juni bis August; (b) Dezember bis Februar. Quelle: Alan Robock, Brian Toon, Earth's Future, April 2014 20


Der humanitäre Imperativ „Es ist im Interesse des Überlebens der Menschheit, dass Atomwaffen unter keinen Umständen wieder eingesetzt werden.“

Gemeinsame Erklärung von 159 Staaten, April 2015

Die tiefe Besorgnis der gesamten Staatengemeinschaft über die katastrophalen humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes wurde bereits 2010 bei der Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag formell zum ­Ausdruck gebracht. Damit wurde eine neue Ausrichtung der internatio­ nalen Debatte über Atomwaffen ermöglicht, die 2013 und 2014 durch drei Regierungskonferenzen zu den ­humanitäreren Folgen vertieft wurde. Norwegen, Mexiko und ­ Österreich luden dazu ein. Gleichzeitig schlossen sich immer mehr Staaten der ­„Humanitären Initiative“ an, die in internationalen Foren ihre gemeinsame Erklärung v­ erliest. Bei der Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag 2015 zählten sie 159 – nie haben sich so viele Staaten auf ein gemeinsames, substanzielles Statement geeinigt.

Die humanitäre Dimension soll demzufolge den Kern des Atom­ waffen­­­diskurses bilden. Statt sicherheitspolitischer Theorie werden die tatsächlichen Auswirkungen in den Fokus gerückt. Diese ­ Folgen sind unter humanitärem Völkerrecht inakzeptabel; daher müssen die Waffen – wie bereits alle anderen Massen­ vernichtungswaffen – geächtet ­werden. Somit wird die Legitimität der Atomwaffen in Frage gestellt, der humanitäre Imperativ zu ihrer ­ Abschaffung gewinnt an ­Dringlichkeit. Obwohl der Atomwaffensperrvertrag die Atomwaffenstaaten zur Abrüstung verpflichtet, ist die Glaub­ würdigkeit des Vertrags durch jahrzehntelange Tatenlosigkeit unterminiert worden. Ein Verbotsvertrag zu Atomwaffen würde den Atomwaffen­s perr­v ertrag mittels einer komplementären Rechtsnorm stärken.

Aus der Humanitären Selbstverpflichtung Humanitarian Pledge „Wir verpflichten uns mit allen relevanten Akteuren, Staaten, internationalen Organi­sationen, der internationalen R­otkreuz- und Rothalbmond­bewegung, ­Abgeordneten und Zivilgesellschaft, ­zusammenzuarbeiten, um die Stigma­­ti­ sierung, das Verbot und die E­ liminierung von Atomwaffen angesichts ihrer inakzeptablen humanitären Folgen und einher­ gehenden Risiken voran zu b­ ringen.“

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Formell von 108 Staaten unterzeichnet

(Stand: 1. Juni 2015)


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Mitmachen

Mitmachen 3

Informieren Sie sich weiter zum Thema im Internet: > www.ippnw.de/atomwaffen > www.atomwaffenfrei.de > www.atomwaffena-z.info > www.nuclear-risks.org > www.hiroshima-nagasaki.info Kunst der Hibakusha – Zeichnungen von Chieko Taketsugo (1) Shouichi Furukawa (2) Kazuo Matsumura (3) Yasuko Yamagata (4) Eiji Yamada (5)

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Zeigen Sie die IPPNW-Ausstellung »Hiroshima, Nagasaki« Am 6. und 9. August jähren sich die Hiroshima- und Nagasaki-Tage. Die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atom­krieges (IPPNW) hat diese Ausstellung in verständlicher Sprache zu den Folgen der Atombombenabwürfe erstellt. Doch die Präsentation soll auch Hoffnung machen: Viele Menschen in aller Welt engagieren sich für eine atomwaffenfreie Welt, damit sich die Schrecken von Hiroshima und Nagasaki niemals wiederholen. Die Ausstellung kann für eine Leihgebühr von 35 € in der IPPNWGeschäftsstelle ausgeliehen werden. Zeigen Sie die IPPNW-Ausstellung »Hibakusha weltweit« Im Japanischen werden die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki »Hibakusha« genannt. Viele von ihnen setzen sich für eine Welt frei von a­tomarer Bedrohung ein – meist, indem sie den jüngeren Generationen ihre Geschichte erzählen. Überall auf der Welt folgen andere mutige Menschen ihrem Beispiel.

Als Ärztinnen und Ärzte sehen wir uns in der Pflicht, über die Zusammenhänge der zivilen und militärischen Atomindustrie und über die gesundheitlichen Gefahren von Radioaktivität aufzuklären. Präsentiert werden dabei 50 exemplarische Orte. Mit großer Sorgfalt recherchiert, stellt die Poster­ ausstellung die Zusammenfassung der aktuellsten wissenschaftlichen Forschung zu diesen 50 Fallbeispielen dar. Die hier gezeigten Plakate sollen auf grund­ legende Probleme hinweisen, die öffentliche Wahrnehmung der gesundheitlichen und ökologischen Folgen der Atomwirtschaft erhöhen,

die Besucher­Innen a­ nimieren, kritische Fragen zu formulieren, sowie die Zusammenhänge zwischen militärischer und ziviler Atomwirtschaft illustrieren. Weitere Informationen und Leit­ faden zur Ausstellung: www.nuclear-risks.org/de/hibaku­ sha-weltweit.html 5

Bestellen Sie Materialien zum Thema > IPPNW-Broschüre Hiroshima | Nagasaki, aktualisierte Ausgabe Juni 2015, 32 Seiten A4, 4-farbig. Preis 3,00 € > Strahlende Geschosse: Uranmunition Diese Broschüre im Rahmen der IPPNW-Reihe zur »Nuklearen Kette« befasst sich mit den gesundheitlichen Folgen des Einsatzes von Uranmunition. 28 Seiten A6, 4-farbig. Preis für 10 Stück: 6,00 €€ > Verstrahltes Land: Uranabbau Diese Broschüre befasst sich mit den gesundheitlichen Folgen des Uranabbaus. 28 Seiten A6, 4-farbig. Preis für 10 Stück: 6,00 € € > Katastrophales humanitäres Leid: Ein neuer Ansatz für die Debatte um ein Verbot von Atomwaffen Der Fokus der ICAN-Broschüre liegt auf dem Leid, das Atomwaffen auslösen. Auch die Verschwendung öffentlicher Mittel für die Erhaltung der Atomwaffen­arsenale wird thematisiert. 28 Seiten A5, 4-farbig, Preis 3,00 € > BITS-Studie »Das Projekt B61-12: Atomwaffen-Modernisierung in Europa«, Juni 2012, Preis 5,00 € > IPPNW-Factsheet Die zwei Seiten des Atomwaffensperrvertrags, Januar 2015, kostenlos > IPPNW-Factsheet Regionaler Atomkrieg = globale Hungersnot, April 2012, kostenlos 22


Informationen

IPPNW – ein komplizierter Name für ein einfaches Anliegen Die IPPNW setzt sich dafür ein, erdumspannend Bedrohungen für Leben und Gesundheit abzuwenden. Wir arbeiten über alle politischen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg. Unsere Medizin ist vorbeugend und politisch: Wir setzen uns für friedliche Konfliktbewältigung ein, für internationale Verträge, für die Abschaffung von Atomwaffen und Atomenergie und für eine Medizin in sozialer Verantwortung. IPPNW – das steht für »International Physicians for the Prevention of Nuclear War«. In Deutschland nennen wir uns »IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/ Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.« Die IPPNW ist 1980 von einem russischen und einem US-amerikanischen Kardiologen gegründet worden – zur Verhinderung eines Atomkrieges in den Zeiten des Kalten Krieges.

Wir forschen zu den Fakten und Hintergründen der gesundheitlichen, sozialen und politischen Auswirkungen von Krieg und Atomtechnologie. Wir analysieren die Konfliktursachen und entwickeln friedliche Lösungsstrategien. Dazu veröffentlichen wir Studien, Bücher, Broschüren und zeigen Ausstellungen.

Impressum Text: Inga Blum, Xanthe Hall, Eva Manns Redaktion: Angelika Wilmen Gestaltung: Detlef und Tim Jech Titelfoto: Ittetsu Morishita Berlin, Juli 2015

Wir beraten politische Entscheidungsträger und Wissenschaftler. Auf nationaler und internationaler Ebene.

Diese Broschüre kann in der IPPNW­Geschäftsstelle zum Preis von 3 EUR bestellt werden:

Wir informieren die Öffentlichkeit und die Medien auf unseren Kongressen und Veranstaltungen über unsere Anschreiben, Pressemitteilungen und Internetseiten. Wir starten Kampagnen, um unseren Forderungen Gehör zu verschaffen.

IPPNW Körtestraße 10 10967 Berlin Telefon: 030 -69 80 74-0 EMail: kontakt@ippnw.de www.ippnw.de

IPPNW-Mitglieder bei einer Demonstration gegen Atomenergie in Berlin, 2010, Foto: Anne Tritschler /IPPNW.


Herausgegeben von den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.


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