IPPNW-forum 159/2019 – Die Zeitschrift der IPPNW

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Foto: © Ralf Schlesener

ippnw forum

das magazin der ippnw nr159 sept2019 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

- Syrien: Folgen der Sanktionen - Uranmunition: Symposium in Serbien - Global Health Summer

Nukleare Aufrüstung in Europa: Höchste Zeit für das Atomwaffenverbot!


Das Postkartenmotiv aus unserer Serie „Made in Germany“ wurde von „Scholz & Friends“ entwickelt.

Jemen | Made in Germany

Aktionspostkarte: 10 x 20 cm / 2019

Machen Sie mit! Bestellen Sie die kostenlosen Aktionspostkarten und fordern Sie von Bundeskanzlerin Angela Merkel: – Ein lückenloses Rüstungsexportverbot für alle Staaten zu verhängen, die im Jemen Krieg führen. – Sich auch auf europäischer Ebene für solch ein umfassendes Verbot einzusetzen.

Mit milliardenschweren Rüstungsexporten in Krisenregionen verändert Deutschland das Gesicht dieser Welt – zum Beispiel im Jemen. Seit 2015 hat die Bundesregierung Rüstungsexporte im Wert von über fünf Milliarden Euro an Länder der Jemen-Kriegskoalition genehmigt. Zum Leid der Menschen im Jemen tragen also auch deutsche Waffen bei.

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EDITORIAL Dr. Lars Pohlmeier ist Mitglied im Vorstand der deutschen Sektion der IPPNW.

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nfang August 2019 ist mit dem INF-Vertrag eine Ära der europäischen Sicherheit zu Ende gegangen. Dieser hatte den Weg für eine Reihe von weiteren Abrüstungsabkommen und Rüstungskontrollverträgen geebnet, die Europa geschützt haben.

Die IPPNW fordert deshalb ein Verbot von Mittelstreckenraketen in Europa, so Xanthe Hall. Der Atomwaffenverbotsvertrag, der dieses Jahr seinen zweiten Geburtstag feiert, steht im Mittelpunkt von Anne Balzers Artikel: Zwei Jahre nach Verabschiedung haben 25 Staaten das Abkommen ratifiziert, darunter Österreich, Südafrika und der Vatikan. Die deutsche Bundesregierung, die das Abkommen weiterhin blockiert, müsse sich insbesondere in Hinblick auf die 2020 anstehende Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags eindeutig zur Abrüstung bekennen. IPPNW-Mitglied Ernst-Ludwig Iskenius ist vom Amtsgericht Cochem für die Teilnahme an einem Go-in in Büchel zu 70 Tagessätzen verurteilt worden. Er berichtet, wie die betroffenen Aktivist*innen sich mit der „Prozesskampagne Wider§spruch“ juristisch zur Wehr setzen. Lara Fricke stellt den neuen Bericht von „Don‘t Bank on the Bomb“ vor: Elf Deutsche Banken haben Atomwaffenherstellern auch im letzten Jahr insgesamt 11,67 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt und damit ihre Investitionen gegenüber den Vorjahren noch deutlich gesteigert. Gerhard Piper hat die Atombomben-Flugzeuge und die Debatte um ihre Nachrüstung genauer unter die Lupe genommen. Die Bundeswehr-Tornados, die als Trägersysteme für die Atomwaffen in Büchel dienen, sollen abgelöst werden – damit verbunden ist die Frage nach der Zukunft der nuklearen Teilhabe in Europa. Ideenreich, bunt und sehr gut besucht waren dieses Jahr unsere Protestveranstaltungen am deutschen Atomwaffenstützpunkt Büchel. Die Fotos vom Aktionsfestival hat Ralf Schlesener aufgenommen. Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Lars Pohlmeier 3


INHALT Iran: Die Kriegsmaschinerie stoppen

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THEMEN Iran: Die Kriegsmaschenerie stoppen.......................................................8 Die Bombardierung Ex-Jugoslawiens mit Uranmunition.............10 Sanktionen gegen Syrien verschärfen die humanitäre Krise... 12 Globale Gesundheit: Sicherheit für wen?.............................................14 Bayern: Brutales Vorgehen gegen junge Geflüchtete....................16 Atommüll: Atomares Erbe.............................................................................17 Große Gefahr durch Schweizer AKWs................................................... 18

SERIE Die Nukleare Kette: Uranabbau in Church Rock............................ 19

Schwerpunkt: Atomare Aufrüstung

20 SCHWERPUNKT Bombenballett..................................................................................................... 20 Das Ende des INF-Vertrags: Ein neues Wettrüsten ist im Gange........................................................ 22 Zwei Jahre Atomwaffenverbot.....................................................................24 Angeklagt: Atomwaffen.................................................................................. 25

Foto: © Ralf Schlesener

Kreditinstitute finanzieren Aufrüstung.................................................. 26 Neue Atombomber für die Bundeswehr?............................................ 28

WELT

Foto: AKW Mühleberg; Greenpeace Switzerland / CC BY-NC-ND 2.0

Neue Studie: Gefahr durch Schweizer AKWs

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IPPNW-Weltkongress in Kenia................................................................... 30

RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33


MEINUNG

Dr. Inga Blum ist Vortstandsmitglied der deutschen IPPNW.

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ie von der indischen Regierung verhängten Kommunikations- und Ausgangssperren in den Gebieten Jammu und Kaschmir müssen vollständig aufgehoben werden. Solange sie andauern, wächst das Risiko einer neuen militärischen Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan.

Ein bewaff neter Konflikt zwischen Indien und Pakistan würde das Risiko einer nuklearen Eskalation bergen. Der indische Verteidigungsminister Rajnath Singh hat angedeutet, dass Indien seine Selbstverpflichtung aufgeben könnte, auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten.

Dr. Shakeel Ur Rahman, der Generalsekretär, und Dr. Arun Mitra, der Vizepräsident unserer indischen Schwestersektion IDPD, äußerten Mitte August Sorgen angesichts der Aufrüstung auf beiden Seiten der Grenze sowie der humanitären Situation in der Region: „Die Erfahrung ist, dass die Gesundheit der Menschen in solchen Situationen schwer beeinträchtigt wird. Die Beschränkung der Mobilität und der Mangel an Medikamenten führen zu ernsten Problemen beim Zugang zur elementaren Gesundheitsversorgung.“ Darüber hinaus drohe die Gefahr des Ausbruchs von Epidemien, was zu einer schweren Gesundheitskrise führen könne. Käme es zwischen Indien und Pakistan zu einer atomaren Eskalation, hätte ein „begrenzter“ Atomkrieg nach Erkenntnissen von Klimatolog*innen eine globale Hungersnot zur Folge, die weltweit das Leben von zwei Milliarden Menschen gefährden würde. Die IPPNW-Studie „Nukleare Hungersnot“ geht beispielhaft von einem Szenario von je 50 eingesetzten Atomwaffen der Stärke der Hiroshima-Atombombe zwischen Indien und Pakistan aus. Folge eines regionalen Atomkrieges in Südasien wären danach sinkende Temperaturen und reduzierte Niederschläge, die in wichtigen landwirtschaftlichen Regionen den Anbau von Getreide, Mais und Reis gravierend stören und weltweit zur Nahrungsmittelknappheit und Preiserhöhungen führen würden. Sowohl Indien als auch Pakistan zählen zu den fünf „Entwicklungsländern“, an die in den letzten beiden Jahren die meisten deutschen Waffenexporte genehmigt wurden. Wie das Wirtschaftsministerium in einer Antwort auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Uwe Kekeritz schreibt, hat die Bundesregierung im Zeitraum von Januar 2017 bis Juli 2019 Waffenexporte im Wert von rund 278 Millionen Euro nach Indien genehmigt. Von allen Entwicklungsländern steht Indien damit auf Platz zwei nach Ägypten. Pakistan befindet sich mit rund 247 Millionen Euro auf Platz drei. Die Bundesregierung darf keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete liefern. 5


Foto: TIHV

N ACHRICHTEN

Freispruch für türkische Medizinerin Sebnem Korur-Fincanci

USA verkaufen Atomtechnologie an Saudi-Arabien

Umweltministerium unterläuft Atomurteil des EuGH

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rof. Dr. Sebnem Korur Fincanci, die türkische Gerichtsmedizinerin, ausgezeichnet mit dem hessischen Friedenspreis sowie dem Medical Peace Work Award, wurde am 17. Juli 2019 im Verfahren wegen der Unterstützung der verbotenen Zeitung „Özgür Gündem“ freigesprochen, zusammen mit den Mitangeklagten Erol Önderoglu, dem türkischen Vertreter von Reporter ohne Grenzen und Ahmet Nesin, einem Journalisten und Schriftsteller. In einem symbolischen Akt hatten sie 2016 für jeweils einen Tag die Chefredaktion von „Özgür Gündem“ übernommen. Den Angeklagten drohten wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“ mehr als 14 Jahre Haft. Das Urteil im Prozess wurde von den Zuschauer*innen im Gericht mit Applaus begrüßt. In einem weiteren Verfahren wegen des Friedensaufrufs nach dem türkischen Überfall auf Afrin in Nordsyrien ist sie zu einer längeren Haftstrafe verurteilt worden. Das Verfahren ist zur Zeit in der Revision.

as US-Energieministerium hat gegenüber dem US-Kongress eingeräumt, sieben Ausfuhrgenehmigungen für den Verkauf sicherheitsrelevanter Atomtechnologie an Unternehmen erteilt zu haben. Laut dem Zwischenbericht des Vorsitzenden des Aufsichtsausschusses, Elijah E. Cummings von Ende Juli 2019, zeigen Dokumente, dass das US-Unternehmen IP3 die Trump-Administration dazu drängte, Saudi-Arabien nicht auf die Anerkennung des „Gold-Standard“ festzulegen. Dieser stellt eine Verpflichtung dar, keine US-Atomtechnologie zur Herstellung von Atomwaffen einzusetzen. Beamte der Regierung Trump hätten wiederholt gefordert, den „Gold-Standard“ in einem künftigen Abkommen mit Saudi-Arabien aufzugeben. In einem Interview mit Reuters hatte der saudi-arabische Kronprinz Mohammad bin Salman 2018 verkündet: „Wenn der Iran eine Atombombe besitzt, so werden wir so schnell wie möglich ebenfalls eine entwickeln“.

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei geraten immer stärker unter Druck. Mitte August hat das türkische Innenministerium die am 31. März 2019 frei und direkt gewählten Bürgermeister der kurdischen Städte Diyarbakir, Mardin und Van abgesetzt und die Städte erneut unter Zwangsverwaltung gestellt. Über 400 Personen wurden verhaftet. Die IPPNW hat Außenminister Heiko Maas in einem Schreiben aufgefordert, sich für die sofortige Wiedereinsetzung der Bürgermeister*innen in ihre Ämter und für die Freilassung der Inhaftierten einzusetzen.

Saudi-Arabien will 2020 sein erstes Atomkraftwerk in Betrieb nehmen. Die Anlage steht außerhalb von Riad in der „König-Abdulasis-Stadt für Forschung und Technologie“. Gebaut wird zusammen mit dem staatlichen argentinischen Unternehmen Invap SE, das für Bau und Design zuständig ist. Die Technik liegt in der Verantwortung saudischer Ingenieure. Riad weigert sich bisher, mit den Kontrolleuren der IAEA zu kooperieren. Mehr dazu unter: ippnw.de/bit/treibstoff_bombe

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as Bundesumweltministerium unterläuft mit einer Serie neuer Brennelemente-Transporte von der deutschen Brennelementefabrik Lingen zu den belgischen Atomkraftwerken Doel 1 und 2 die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Nach Recherchen mehrerer Anti-Atom-Initiativen verließen noch im Juli sechs Brennelement-Transporte die emsländische Atomfabrik – der letzte davon am Sonntag, 28. Juli 2019, nur einen einzigen Tag vor Verkündung des EuGH-Urteils zu Doel 1 und 2. Die vom Bundesumweltministerium in Zusammenarbeit mit den untergeordneten Bundesämtern für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle sowie für kerntechnische Entsorgungssicherheit erteilten Exportgenehmigungen für 60 Brennelemente ermöglichen den Weiterbetrieb der beiden höchst umstrittenen belgischen AKWs für ca. zwei Jahre. Am 29. Juli 2019 urteilte der EuGH, dass die 2015 erteilte Laufzeitverlängerung für Doel 1 und 2 gegen europäisches Recht verstößt, weil eine Umweltverträglichkeitsprüfung fehlt. Am selben Tag rühmte sich das Ministerium in einer Stellungnahme, dass man „aktiv“ an dem Verfahren mitgewirkt habe. Von den zeitgleichen Brennelementexporten aus Lingen war in der Stellungnahme nichts zu lesen. Der Spiegel berichtete Mitte August, dass es noch mindestens 18 weitere europäische Atomkraftwerke ohne Umweltverträglichkeitsprüfung gibt.


Foto: Ninara / CC BY 2.0

N ACHRICHTEN

Rheinmetall entrüsten! Protestaktionen zur Hauptversammlung

Russische Umweltaktivistin beantragt Asyl in Deutschland

Kirgistan verbietet Uranbergbau, Uranatlas erscheint

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m 28. Mai 2019 fand die Hauptversammlung des Rüstungskonzerns Rheinmetall in Berlin statt. Die Kampagne „Aktion Aufschrei“ hatte aus diesem Anlass gemeinsam mit der Berliner Initiative „Legt den Leo an die Kette“, „Urgewald“ und anderen Gruppen zu Protestaktionen aufgerufen, an denen insgesamt rund 300 Personen teilnahmen. Etwa 200 Menschen zogen unter dem Motto „Rheinmetall: Die Toten kommen!“ mit Totenmasken verkleidet von der Botschaft Saudi-Arabiens über die türkische Botschaft bis zum Ort der Hauptversammlung im Berliner Maritim-Hotel. Mit ihrer „Totenparade“ gedachten die Teilnehmer*innen der Menschen, die durch die Waffen des Konzerns ihr Leben verloren haben. Ein breites Bündnis hatte zur Protestkundgebung vor dem Hotel mobilisiert. Greenpeace-Kletter*innen brachten ein Banner an der Außenfassade des Tagungshotels an. Darauf war zu lesen: „Rheinmetall-Bomben töten im Jemen!“ Aus Lautsprechern hörte man Detonationen einschlagender Bomben. Während der Aktionärsversammlung besetzten einige Aktivist*innen minutenlang die Bühne und konfrontierten Vorstand, Aufsichtsrat und Aktionär*innen mit den Folgen der Rüstungsgeschäfte des Konzerns. Außerdem prangerten die Kritischen Aktionäre durch einen Redebeitrag sowie einen Gegenantrag in der Hauptversammlung die skrupellose Politik des Unternehmens an.

ach einer Welle von Festnahmen von Regierungsgegnern in Russland ist nun auch Ecodefense, eine der ältesten Umweltorganisationen, unter massiven Druck der russischen Behörden geraten. Am 30. Mai 2019 wurden fünf Strafbefehle gegen Alexandra Korolowa, die Geschäftsführerin von Ecodefense, eingeleitet. Ihr drohen zwei Jahre Haft. Sie hat daraufhin Mitte Juni in Deutschland politisches Asyl beantragt. Hintergrund des Strafverfahrens ist die Weigerung von Ecodefense sich den Auflagen des sogenannten „Auslandsagenten“-Gesetzes unterzuordnen. Mit dieser Maßnahme versucht die russische Regierung die Arbeit kritischer NGOs zu verhindern. Seit der Gründung vor dreißig Jahren setzt sich Ecodefense in Russland erfolgreich für Atomausstieg und Klimaschutz ein. In Deutschland machte sich Ecodefense einen Namen, als es ihnen 2009 gemeinsam mit deutschen Anti-Atom-Initiativen gelang, den langjährigen Export von abgereichertem Uran aus der Urananreicherungsanlage der Urenco nach Russland mit einer Klage zu verhindern. 2013 konnte Ecodefense den Neubau eines AKW in Kaliningrad erfolgreich verhindern. Vor kurzem gelang es der Umweltorganisation gemeinsam mit anderen NGOs, den Neubau einer Kohlemine im sibirischen Kusbass zu stoppen. Nun liegen in Russland 28 Strafverfahren gegen Ecodefense vor. Der Verfahrenswert liegt bei 30.000 Euro.

er kirgisische Premier Muhamedkaliy Abilgaziyev hat Anfang Juli 2019 entschieden, Uranbergbau in Kirgistan zu verbieten. Diese Entscheidung erfolgte, nachdem Ende April / Anfang Mai mehr als 300 Personen in Bishkek für ein Verbot des Uranabbaus demonstriert hatten. Im Vorfeld dazu hatte es Demonstrationen gegen den Abbau des Tash-Bulaksky-Uranvorkommens gegeben, der u.a. den riesigen See Issyk-Kul, ein von der UNESCO anerkanntes Biosphärenreservat, gefährdet hätte. Bereits Anfang Mai sprach sich die Vereinigung von Bergleuten und Geolog*innen für ein Verbot aus, einen Monat später verabschiedete das Parlament ein entsprechendes Gesetz. Zuvor hatte die Regierung zwanzig Erkundungslizenzen vergeben. Am 12. September 2019 erscheint der Uranatlas, den die Nuclear Free Future Foundation, der BUND und die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam herausgeben. Er gibt einen Überblick über weltweiten geschichtlichen und aktuellen Uranbergbau, wirtschaftliche und militärische Zusammenhänge, Fragen zur Sanierung und Endlagerung sowie zur Unwirtschaftlichkeit der Atomenergie. Angelika Claußen, Präsidentin der IPPNW Europa, schreibt über den Widerstand von Frauen gegen die zivile und militärische Atomtechnologie. Der Atlas ist grafisch anschaulich aufbereitet, mit Daten und Fakten unterlegt und liegt der Monde diplomatique am 12. September 2019 bei.

Siehe auch: youtu.be/xKXCLIaa9Z8 Weitere Infos: ecodefense.ru

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Der Uranatlas kann in der IPPNW-Geschäftsstelle bestellt werden.


FRIEDEN

Die Kriegsmaschinerie stoppen Der Wirtschaftskrieg der USA gegen Iran richtet sich indirekt auch gegen die EU

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Fielen die genannten drei Abhängigkeiten weg, würde die geballte globale Macht der US-Vorherrschaft wie ein Kartenhaus zusammenfallen. So stünde auch der Entstehung einer aus drei Zentren – China, EU und USA – bestehenden multipolaren Welt, natürlich zu Lasten der absoluten US-Vorherrschaft, nichts mehr im Wege.

m Mai 2019 hat die US-Regierung die Iran-Sanktionen in vollem Umfang in Kraft gesetzt, und verfolgt seitdem gegenüber Iran die Politik des „maximalen Drucks“, die irgendwann in einen Iran-Krieg münden könnte. Donald Trump nimmt mit seiner Iran-Konfrontationspolitik den Faden der neokonservativen Alleinherrschaftspolitik der USA genau dort auf, wo er durch acht Jahre Obama-Regierung unterbrochen wurde. Tatsächlich stand die Weltgemeinschaft schon 2006, im letzten Amtsjahr von George W. Bush Junior, vor einem Iran-Krieg. Obama bewegte sich zwar im Rahmen des bereits vorgegebenen globalen Konfrontationskurses der USA, ihm ist es jedoch gelungen, das Projekt der Neokonservativen (Neocons) des Amerikanischen Jahrhunderts ein wenig zu bremsen. Das Iran-Atomabkommen resultierte aus der Kooperation von Obamas moderater US-Hegemonialpolitik mit der EU und Irans Reformflügel, das selbstverständlich auch mit der Unterstützung der Atommächte Russland und China letztlich erfolgreich ausgehandelt wurde. Dadurch spürte die Welt einen Hauch von Entspannung, auch dem Iran blieb ein Krieg vorerst erspart. Nicht weniger wichtig war, dass die EU erstmals seit ihrer Entstehung die Chance erhielt, außenpolitische Selbständigkeit zu üben. Tatsächlich schaffte es die EU sogar, bei der Lösung eines Weltkonflikts die Federführung zu übernehmen.

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us diesem Blickwinkel erscheint die Aufkündigung des Iran-Atomabkommens und die konsequente Vorbereitung des Iran-Krieges, im Grunde Trumps America-First-Kurs, in seiner Gesamtheit in einem neuen Licht. Könnte es den herrschenden Machtzentren im US-militärindustriellen Komplex, im Finanz- und Energiesektor ganz einfach nicht nur darum gehen, alles, ja wirklich alles, zu unternehmen um zu verhindern, dass die absolute Vorherrschaft der USA in naher Zukunft langsam, aber sicher verloren geht? Denn das Überleben eines gigantischen Rüstungssektors, der sich allein aus globalen Konflikten und Kriegen nährt, hängt entscheidend davon ab, dass die USA auf weitere Jahrzehnte ihre absolute Vorherrschaft zementieren. Ähnliches gilt auch für die Fortexistenz eines Finanzsektors, der ökonomisch unproduktiv ist und nur deshalb floriert, weil er immense Kaufkraft aus den produktiven Sektoren abzweigt, weltweit jedoch Arbeitslosigkeit, Armut und Elend hervorruft. Auch der nuklear-fossile Energiesektor, der angesichts von nuklearen Folgekosten und Sicherheitsproblemen einerseits und des Klimawandels andererseits keine Zukunft mehr hat, kann seinen Untergang nur dadurch hinausschieben, dass die USA der Weltgemeinschaft diesen Energiepfad gewaltsam aufzwingt. Nicht zuletzt können die USA den Völkern der Welt den Dollar, ihre wirksamste ökonomische Waffe, als einzige Weltwährung so lange aufoktroyieren, wie es ihnen gelingt, sämtliche Ölstaaten, einschließlich Iran, in letzter Instanz auch durch Bomben zu ihren Untertanen zu machen und sicherzustellen, dass der Ölhandel weltweit in Dollar abgewickelt wird. Für ihre absolute Vorherrschaft benötigen die USA den gigantischen Militär- und Sicherheitsapparat mit über 800 Militärbasen auf dem Planeten, der die Hälfte der globalen Rüstungskosten verschlingt und der zwangsläufig immer neue Konflikte und Kriege heraufbeschwört. Sie benötigen zudem auch innenpolitisch die umfassende Mobilisierung rassistischer Instinkte, die Trump inzwischen zur Grundlage seiner Wahlkampfstrategie gemacht hat.

Den US-Neocons passte weder die leichte globale Entspannung – sprich weniger Rüstungsexporte – noch, dass der iranische Zentralstaat als starke Regionalmacht unangetastet blieb und den US-Mittelostinteressen trotzt. Genauso wenig wollten sich jedoch die Neocons damit abfinden, dass die USA-skeptischen Kräfte in der EU an einer wachsenden außenpolitischen Selbständigkeit Gefallen finden und sich die EU langfristig aus allen ihren strukturellen Abhängigkeiten von den USA herauslösen könnten. Die gegenwärtig bestehende nukleare Bevormundung, die energie-geopolitische Abhängigkeit und die währungspolitische Gängelung der westlichen Verbündeten der USA – und ganz zentral der EU durch die Dollar-Dominanz – macht die EU, trotz ihrer Bedeutung als größte Ökonomie der Welt außenpolitisch vollständig handlungsunfähig, ja zur weltpolitischen Luftnummer.* Die absolute Schwäche dieser US-Verbündeten ist somit gleichzeitig die Stärke der USA selbst. 8


DIE WAFFEN NIEDER! KUNDGEBUNG FÜR DEESKALATION GEGENÜBER DEM IRAN – 27. JUNI 2019, BERLIN

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rumps nur vordergründig als unberechenbar und verrückt erscheinende America-First-Politik ist in Wirklichkeit Ausdruck einer minutiös durchdachten Strategie der genannten Machtzentren, um das Fundament ihrer absoluten Vorherrschaft, nämlich die nuklearen, finanz-, währungs- und energiepolitischen Abhängigkeiten ihrer westlichen Verbündeten, vor allem der EU, mit allen erdenklichen Mitteln nicht aus der Hand zu geben. Der Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzabkommen, die Kündigung des INF-Vertrages und der Bruch des völkerrechtlich legitimierten Iran-Atom-Abkommens liegen jedenfalls sämtlich auf dieser Linie. Dazu gehört auch Trumps unverhohlener Versuch, den Dollar wie nie zuvor als einen wirksamen ökonomischen Hebel zum maximalen Druck gegen alle US-Handelspartner, einschließlich ihrer eigenen Verbündeten, einzusetzen. Neu ist auch die Haltung des US-Präsidenten, der nicht davor zurückschreckt, so offensichtlich wie nie zuvor das Völkerrecht, wie im Konflikt mit Iran, mehrfach zu brechen und damit die Autorität internationaler Institutionen zu demontieren. Der Ausstieg aus dem Iran-Atomabkommen, die direkten Iran-Sanktionen sowie deren exterritoriale Anwendung, die Androhung eines Angriffskrieges gegen den Iran, zumal mit wiederholt angedrohter Vernichtungsabsicht durch den US-Präsidenten – dies alles stellt nach der internationalen Juristenorganisation IALANA einen klaren Bruch des Völkerrechts dar.

ten vor allem auch die EU-Staaten – am besten die EU insgesamt als US-Kriegsverbündete – gegen Iran. So könnte er die Skeptiker in der US-Führung zu einer Zustimmung zum Iran-Krieg drängen und einen inneramerikanischen Kriegskonsens herstellen. Zu diesem Zweck ist das Lager um Bolton gegenwärtig dabei, die transatlantischen konservativen und militaristischen Kräfte und Medien in der EU mit einigem Erfolg und unter dem Vorwand des Schutzes freier Schifffahrt, in eine US-geführte Militärallianz zu locken. Mit dem neuen britischen Premier Boris Johnson hat Bolton bereits einen treuen Kriegsverbündeten in Europa auf seiner Seite. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist jedoch, dass sich die Sozialdemokraten in Deutschland offensichtlich entschieden haben, nicht in Boltons Falle zu tappen.

Im Lichte dieser Analyse ist der mit massiven Sanktionen gegen den Iran geführte Wirtschaftskrieg auch ein indirekter Wirtschaftskrieg gegen die ökonomischen und politischen Kräfte der EU, die den USA gegenüber skeptisch sind. Mit ihrer exterritorialen Sanktionspolitik versucht die US-Regierung – dank der Dollar-Dominanz – der EU ihre aggressive Iran-Politik des maximalen Drucks aufzuzwingen und die EU in einen militärischen Konflikt im Persischen Golf mit dem Iran hineinzuziehen. Dazu gehört die Sabotage des durch die EU geschaffenen Finanzinstruments INSTEX genauso, wie der von John Bolton minutiös ausgeheckte Plan, durch die Beschlagnahme des iranischen Öltankers Grace 1 in Gibraltar. Die iranische Marine reagierte auf diese Beschlagnahmung mit der Festsetzung des britischen Öltankers Stena Impero im Persischen Golf. Tatsächlich benötigt John Bolton neben den Kriegsverbündeten Saudi-Arabien und Israel im Mittleren Os-

* Ausführliches Interview mit Prof. Mohssen Massarat auf Russia Today: https: // youtu.be/cbiKAEM0rmI

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o gesehen hat die internationale Friedensbewegung einen wirksamen Hebel, den Bolton-Plan zu Fall zu bringen und letztlich auch die in Bewegung gesetzte Kriegsmaschinerie gegen Iran zu stoppen. Der Schwenk der SPD zu einer Antikriegsposition ist dafür ein eindrucksvoller Beweis. Es müsste fortan darum gehen, die Kriegsgegner in Deutschland und der EU gegen jedwede Beteiligung deutscher und EU-Marine an einer militärischen Eskalation im Persischen Golf zu aktivieren und alle EU-Regierungen für ein klares Nein zum Iran-Krieg zu gewinnen.

Infos zu geplanten Aktionen der Friedensbewegung: Forum intern, Seite 8

Mohssen Massarrat ist emeritierter Professor für Politik und Wirtschaft und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der IPPNW. 9


Fotos: Sakine Kizilhan

FRIEDEN

Die Bombardierung Ex-Jugoslawiens mit Uranmunition Internationale Symposien in Serbien rücken die Lage der Opfer in den Mittelpunkt

Vor 20 Jahren, im Juni 1999, endete die nicht UN-mandatierte und damit völkerrechtswidrige NATOOperation „Allied Forces“. Zum Einsatz kam auch strahlende Uranmunition. Am 24. Juni 2019 luden die Koalition zur Ächtung von Uranwaffen (ICBUW), die IPPNW, die Juristenvereinigung gegen Kernwaffen (IALANA), das International Peace Bureau (IPB) sowie das Internationale Uranium Film Festival (IUFF) zur Film- und Diskussionsveranstaltung ins Zeiss-Großplanetarium Berlin ein.

I

m Rahmen der Operation „Allied Forces“ kam Uranmunition auf den Gebieten Ex-Jugoslawiens (Kosovo, Serbien, Montenegro, vorher bereits Bosnien-Herzegowina) zum Einsatz, wobei eine Menge von 13 bis 15 Tonnen abgereichertem Uran (DU – depleted uranium) verschossen wurde. Der Stoff ist chemisch giftig und infolge der ionisierenden Strahlung radiologisch wirksam. Er führt zu schweren Gesundheits- und Umweltbelastungen, kann Krebs und Genveränderungen verursachen.

über Sozialrechtsfälle bekannt gewordener Rechtsanwalt aus Nis. Er war der Hauptorganisator der beiden Symposien und Gast der Berliner Veranstaltungen.

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dran Aleksic hat es sich gewissermaßen zur Lebensaufgabe gemacht, angemessene, humanitäre Lösungen für die betroffenen Menschen zu finden, wobei er immer wieder betont, dass von DU-Waffen Gefahren auch für andere Regionen, ja für die ganze Welt ausgehen. Bei seinem Anliegen setzt Aleksic auch juristische Mittel und Überlegungen ein, so etwa 10

Klagen gegen die NATO oder einzelne NATO-Staaten wegen der Schädigung ziviler serbischer Opfer (für die er die Mandantschaft übernommen hat). Das könnte beispielsweise in Italien versucht werden, wo es eine entwickelte, zum Teil höchstrichterliche Entscheidungspraxis zugunsten DU-geschädigter italienischer Militärs gibt. Gleichzeitig ist klar, dass es sehr schwer wird, den italienischen Rechtsweg für zivile ausländische Opfer zu öffnen. Die deutsche Rechtsprechungserfahrung ist hier jedenfalls weitgehend negativ (Fälle der Brücke von Varvarin, Kundus). Man

Foto: Darko Dozet / CC BY-SA 3.0

In einer gemeinsamen Erklärung der beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen heißt es dazu: „Gerade jetzt, 20 Jahre später, zeigt sich das Ausmaß der angerichteten Schäden. Viele Menschen in den betroffenen, toxisch belasteten Regionen sind an Krebs erkrankt oder gestorben. Die medizinische Versorgungssituation ist oft unzureichend und es erwies sich als zu kostspielig oder völlig unmöglich, verseuchte Gebiete zu dekontaminieren“. Genau dieses Bild erbrachten die beiden internationalen Symposien, die zur Thematik in Nis/Serbien im Juni diesen und des vergangenen Jahres stattfanden. Sie rückten die Lage der DU-Opfer in den Mittelpunkt, denen endlich wirksam geholfen werden muss (was auch Vorrang vor Dekontaminierungsbemühungen haben sollte). Dies ist das (persönliche) Anliegen von Prof. Dr. Sdran Aleksic, angesehener und vor allem

DIE RAFFINERIE VON NOVI SAD BRENNT. DIE SERBISCHE STADT WURDE 1999 ÜBER WOCHEN DURCH DIE NATO BOMBARDIERT.


IM ZEISS-GROSSPLANETARIUM, BERLIN verweist auf den zwischenstaatlichen Charakter, individueller Opferschutz hätte da keinen Platz. Vor diesem Hintergrund wird der Slogan „Serbien verklagt die NATO“ benutzt, um Öffentlichkeitsinteresse zu erzeugen. Das ist auch bitter nötig, angesichts der Tatsache, dass das DU-Thema in Serbien und auch anderswo auf dem Balkan tabubehaftet ist bzw. totgeschwiegen wird. Nicht zufällig heißt ein über Aleksic verfasstes und auf dem Symposium in Nis verteiltes Buch „Years of Silence“. Beide Symposien dienten u. a. dem Ziel, innerserbisches Interesse zu erwecken, Kooperation zu entwickeln und Widerstände aufzubrechen. Die ganze Zwiespältigkeit und Zerrissenheit der Situation wurde deutlich, als der für den dritten Tag des diesjährigen Symposiums geplante Besuch der Stadt Vranje nur wenige Stunden vorher vom Bürgermeister abgesagt wurde. Auch serbische Ministerien und hochrangige Militärs hatten – kurzfristig – ihre Tagungsteilnahme abgesagt.

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mmer wieder im Zusammenhang mit DU-Konsequenzen geforderte Studien sind nur sinnvoll und möglich, wenn Staat und Behörden mitspielen und nicht etwa blockieren. Das betonte auch Dr. Alex Rosen (IPPNW) in einem Arbeitsgespräch in Berlin. Das ist auch die Erfahrung von ICBUW. Wobei sich die Frage stellt, ob derartige Untersuchungen heute überhaupt noch sinnvoll oder aber zu teuer sind (im Vergleich zu direkter Hilfe für die Opfer). So stand auch auf der Tagung in Nis die Frage im Raum, ob nicht alles zu spät komme. Eine Antwort auf diese wie auch auf die Frage nach der generell präsenten Kausalitätsproblematik bietet der vorbeugende Ansatz („precautionary approach“): Es soll

auf den Einsatz von Stoffen und Methoden verzichtet werden, bei denen das Risiko von Umweltschäden besteht, ohne dass hierüber endgültige wissenschaftliche Klarheit vorhanden ist. Genau nach diesem Ansatz verfährt die NATO für ihren eigenen Bereich, wenn sie von Vorsichtsmaßnahmen und der Notwendigkeit der Vermeidung von „Kollateralschäden“ in Bezug auf die Umwelt spricht. Andererseits bestreitet sie, bzw. ihr ad-hoc-Komitee zu DU, jegliche Zusammenhänge zwischen dem Einsatz von Uranmunition und Gesundheitsschädigungen. Und generell: Vorrang hätten stets „operative Erfordernisse“. Deren Vorliegen kann jedoch bezweifelt werden, wenn „weiche Ziele“ mit panzerbrechender DU-Munition beschossen werden – so geschehen bei dem NATO-Angriff auf eine Antennenanlage in der Nähe von Vranje. In Anbetracht dieser zum Teil sehr komplexen und widersprüchlichen Gesamtlage und zur Unterstützung des auf Vermittlung und Ausgleich gerichteten Anliegens von Aleksic ist von Seiten ICBUWs vorgeschlagen worden, die Menschenrechte stärker ins Spiel zu bringen. Sie bieten, neben Humanitärem Völkerrecht und Umweltrecht, großes juristisch-politisches Potential, mit dem Vorteil, dass der Fokus auf Schutz und Hilfe der Opfer liegt. Dabei geht es, im serbischen wie im allgemeinen DU-Kontext, um das Recht auf Leben und Gesundheit, auf eine gesunde Umwelt, auf sauberes Trinkwasser, auf Information und auf Schutz vor toxischen Substanzen. Zu diesen Themenbereichen hat der UN-Menschenrechtsrat Sonderberichterstatter eingesetzt, an die sich Betroffene mittels eines elektronischen Beschwerdeverfahrens wenden können. Genau das könnten Bewohner Südserbiens tun. 11

Zur politischen Ebene gehört, dass es immerhin eine Untersuchungskommission des serbischen Parlaments zur Thematik gibt, die mit der entsprechenden Kommission in Italien zusammenarbeitet und im Jahr 2020 Ergebnisse vorlegen soll. Dies ist auch das Jahr, in dem sich im Herbst die UN-Generalversammlung wieder mit dem Thema Uranwaffen befasst. Die bisher dazu angenommenen Resolutionen (zuletzt Resolution 73/38) betonen entscheidende Aspekte wie den vorbeugenden Ansatz, die notwendige Transparenz und Hilfe für betroffene Regionen. Der Resolutionstext wird von einer großen Zahl von Staaten unterstützt, unter anderem von Serbien, jedoch leider nicht (mehr) von Deutschland – was politisch und moralisch nicht nachvollziehbar ist. Vielleicht ändert sich ja das deutsche Abstimmungsverhalten und es gibt eine Bereitschaft, Serbien und anderen Balkanregionen bei der Bewältigung der im Jugoslawienkrieg angerichteten DU-Schäden zu helfen, wobei insbesondere Kosovo von diesen Schäden betroffen ist. Dabei geht es um ganz konkrete Maßnahmen wie den Ausbau der medizinischen Infrastruktur (so gibt es die Idee der Einrichtung einer Spezialklinik für DU-Opfer). Schließlich kann nicht alles der Zivilgesellschaft und Privatinitiativen überlassen bleiben.

Prof. Dr. Manfred Mohr ist Sprecher von ICBUW Deutschland.


FRIEDEN

Die Sanktionen gegen Syrien verschärfen die humanitäre Krise UN-Sonderberichterstatter Idriss Jazairy in Berlin

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u den Sanktionen gegen Syrien gehört eine Reihe „gezielter“" Maßnahmen, die gegen Einzelpersonen aufgrund ihrer angeblichen Beziehung zur syrischen Regierung ergriffen werden. Die Sanktionen mit dem gravierensten Effekt sind jedoch kollektive Maßnahmen. Dazu gehört auch ein Handelsverbot für die Ein- und Ausfuhr von Waren und Dienstleistungen. Es umfasst Maßnahmen, die sich auf internationale Finanztransfers auswirken. [...] Aufgrund ihres umfassenden Charakters haben diese Maßnahmen verheerende Folgen auf die gesamte Wirtschaft und den Alltag der Bürger*innen. (...) Es ist schwierig, die Auswirkungen der Sanktionen von denen der Krise zu trennen. Das schmälert aber keineswegs die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Wiederherstellung der grundlegenden Menschenrechte zu ergreifen. [...] Bei meinem Besuch 2018 erlebte ich, dass die syrische Wirtschaft auf alarmierende Weise schrumpft. Seit der Implementierung von Sanktionen 2011 und dem Beginn der aktuellen Krise ist das syrische Bruttoinlandsprodukt (BIP) um zwei Drittel gesunken. Die Fremdwährungsreserven sind aufgebraucht, die internationalen Finanz- und Vermögenswerte weiterhin gesperrt. Im Jahr 2010 hatten 45 syrische Lira den Wert eines US-Dollars; 2017 war der Kurs auf 510 Lira pro Dollar gefallen. Die Inflation erreichte 2013 einen Höchststand von 82,4 Prozent; die Kosten für Lebensmittel sind in dieser Zeit auf das Achtfache gestiegen. Dieser ökonomische Schaden hatte vorhersehbare Auswirkungen auf die Fähigkeit der Syrer, ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte wahrzunehmen. Die Armut hat stark zugenommen. Während es vor dem Ausbruch der Gewalt keinen Nah-

rungsmangel gab, waren bis 2015 32 Prozent der Syrer davon betroffen. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit von 8,5 Prozent im Jahr 2010 auf über 48 Prozent 2015. Die größten Sorgen bereiten die negativen Auswirkungen, die finanzielle Beschränkungen auf alle Bereiche des syrischen Lebens haben. Die Sanktionierung der Zentralbank, der staatlichen und sogar privaten Banken sowie der Transaktionen in den wichtigsten internationalen Währungen sind eine umfassende Beeinträchtigung für alle Personen, die international tätig werden wollen. [...] Die Unsicherheit darüber, welche Transaktionen gegen die Sanktionen verstoßen und welche nicht, hat eine abschreckende Wirkung auf Banken und Unternehmen weltweit. Deshalb sind diese nicht mehr bereit oder in der Lage, Geschäfte mit Syrien zu tätigen. [...] Selbst internationale Akteure haben keine offizielle Möglichkeit mehr, Gehälter oder Auftragnehmer in Syrien zu zahlen. Das hat die Syrer gezwungen, Alternativen wie das informelle Überweisungssystem „Hawala“ zu nutzen. So fließen Millionen von Dollar über hochpreisige Finanzintermediäre, die angeblich manchmal terroristischen Organisationen angehören. Diese Kanäle [...] bleiben der einzige Weg für kleinere Unternehmen und zivilgesellschaftliche Akteure in Syrien, international zu agieren. In Syrien gibt es eine kostenlose Gesundheitsversorgung für alle Bürger*innen. Vor der aktuellen Krise hatte das Land einen der besten Versorgungsstandards in der Region. Die durch die Krise entstandenen Anforderungen überlasten das System und haben zu einem immens hohen Bedarf geführt. Die restriktiven Maßnahmen, insbesondere im Finanzbereich hindern die Syrer, Medikamente, Maschinen, Ersatzteile und Software zu kaufen. [...]

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Die Sicherheitslage war offensichtlich der Hauptauslöser der Flüchtlingsströme aus Syrien. Allerdings hatten die einseitigen Sanktionen auch einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit zur Folge. Fabriken wurden geschlossen, weil die Beschaffung von Rohstoffen und Maschinen unmöglich gemacht, und der Warenexport behindert wird. [...] Der „Braindrain“ der Auswanderung nach Europa hat vor allem der medizinischen und pharmazeutischen Industrie geschadet – und zwar zum ungünstigsten Zeitpunkt für Syrien.

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as Verbot des Handels mit Ausrüstungen, Maschinen und Ersatzteilen hat die syrische Industrie zerstört. Für Fahrzeuge [...] fehlen Ersatzteile. Ausfallende Wasserpumpen beeinträchtigen die Versorgung und die Landwirtschaft. Kraftwerke fallen aus – neue Anlagen können nicht gekauft oder gewartet werden, was zu Stromausfällen führt. Zivile Flugzeuge fliegen nicht mehr sicher, und die Busse des öffentlichen Nahverkehrs sind in einem erbärmlichen Zustand. Unabhängig davon, welche Gründe die Herstellerländer für die Einschränkung sogenannter Dual-Use-Güter haben mögen, müssen sie sicherstellen, dass Güter, die eindeutig für die zivile Nutzung bestimmt sind, zugelassen werden und dass sie bezahlt werden können. Infolge der Sanktionen sind Syrer*innen nicht in der Lage, Technologien zu kaufen, das betrifft auch Mobiltelefone und Computer. Die globale Dominanz amerikanischer Softwareunternehmen, Technologieunternehmen sowie Bank- und Finanzsoftware, die alle verboten sind, erschwert die Suche nach Alternativen. (...) Aufgrund mangelnder Energie- und Wasserversorgung, aufgrund fehlender Ressourcen und Lehrmittel, die den Wieder-


Diese Beschränkungen haben verheerende Auswirkungen auf die syrische Wirtschaft und Bevölkerung und zwingen die Regierung, Rationierungsmaßnahmen für Benzin zu ergreifen. Dies verstärkt die Folgen der 52 Pakete verschiedener „intelligenter“ Sanktionen, die zu den verbotenen umfassenden Sanktionen hinzukommen, und schafft insgesamt einen Elendszustand, der einer ganzen Bevölkerung auferlegt wird. Die Maßnahmen sind eindeutig unterschiedslos und damit völkerrechtlich wohl rechtswidrig. [...]

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Foto: Karin Leukefeld

ALEPPO: WIEDERAUFBAU AUCH IM REGEN aufbau von Schulen verzögern, haben 1,8 Millionen Kinder keinen Zutritt zu den Klassenräumen. Die Möglichkeiten der Syrer*innen, sich an der internationalen Gemeinschaft zu beteiligen, sind durch die Sanktionen stark beeinträchtigt. Syrer*innen wurden von internationalen Bildungsprogrammen ausgeschlossen, und die enormen Schwierigkeiten, ein Visum zuerlangen, haben viele daran gehindert, im Ausland zu studieren oder dorthin zu reisen, ihre Ausbildung zu verbessern oder an internationalen Konferenzen teilzunehmen. Wegen der Schließung von Konsulaten in Syrien sind die Menschen gezwungen, in die Nachbarländer zu reisen, um solche Anträge zu stellen. [...]

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ach wie vor werden von etlichen Staaten und regionalen Organisationen umfassende Wirtschaftssanktionen gegen Syrien verhängt, wie beispielsweise von der EU, die ihre restriktiven Maßnahmen erneut bis Juni 2020 verlängert hat. Als Begründung für die Verlängerung der Sanktionen wird genannt, dass die syrische Regierung weiterhin Menschenrechte verletze. Das ist wie ein Versuch, ein Feuer nicht mit einem Wasserschlauch, sondern mit einem Flammenwerfer zu bekämpfen. In den letzten Monaten haben die USA die Maßnahmen gegen Ölexporte nach Syrien verschärft. Dies geschieht durch gezielte

Sanktionen gegen ausländische Unternehmen, die beschuldigt werden, den Ölhandel für Syrien „zu erleichtern“. Darüber hinaus hat das für die Verhängung einseitiger Sanktionen zuständige US-Gremium OFAC einen „Ratgeber für die maritime Erdölschifffahrt“ herausgegeben, um Personen weltweit auf die Sanktionsrisiken seitens der USA aufmerksam zu machen. Das erklärte Ziel dieser Maßnahmen ist, den Rückhalt der Regierung zu zerstören. (...) Die USA sind entschlossen, das „Assad-Regime“ und seine Anhänger vom globalen Finanzund Handelssystem zu isolieren. Es heißt hier, die Sanktionen hätten die Funktion, eine „Normalisierung der wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen sowie die Finanzierung des Wiederaufbaus“ zu verhindern. Das ist das Eingeständnis, dass das eigene Handeln die Prinzipien der UN-Charta, die Menschenrechte und das humanitäre Recht schlichtweg missachtet. Ich bin besorgt über die Aussicht auf eine weitere Verschärfung der Sanktionen, da der Gesetzentwurf mit dem Titel „Caesar Syria Civilian Protection Act of 2019“ bereits vom Repräsentantenhaus angenommen wurde und vom US-Senat geprüft werden soll. Durch seine Bestimmungen, die unter anderem den Handel mit syrischem Öl und Gas verbieten, bedeutet dieser Rechtsakt einen weiteren Schritt zu einer umfassenden Blockade des vom Krieg verwüsteten Landes.

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ngesichts der Komplexität des Systems der Sanktionen bedarf es eines mehrstufigen Ansatzes, um der verheerenden Menschenrechtssituation in Syrien zu begegnen. Dies würde einen Ansatz bedeuten, bei dem die humanitären Bedürfnisse der Bevölkerung in Syrien ohne Vorbedingungen berücksichtigt werden, wenn es um Fragen von Leben und Tod geht. [...] In einem ersten Schritt könnte ein Teil der Vermögenswerte der Zentralbank für den Kauf von Weizen „aufgetaut“ werden. In einem zweiten Schritt sollten wirksame Maßnahmen vor Ort ergriffen werden, um der Verpflichtung nachzukommen, humanitäre Ausnahmen, insbesondere für Finanztransaktionen, zu gewähren. Hier arbeite ich an der Möglichkeit, in Damaskus unter der Schirmherrschaft der UNO ein Beschaffungsbüro für die Einfuhr und Bezahlung humanitärer Güter einzurichten. Schließlich muss ein ernsthafter Dialog über den Abbau der Sanktionen geführt werden, mit dem Ziel, diese aufzuheben. Dies ist eine gekürzte Version der Stellungnahme von Idriss Jazairy. Die Originalversion finden Sie unter: kurzlink.de/jazairy_statement

Idriss Jazairy ist UN-Sonderberichterstatter für die Folgen von Sanktionen.


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Sicherheit für wen? „Globale Gesundheitssicherheit“ war Thema auf der diesjährigen Global-Health-Konferenz in Berlin

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ie „Globale Gesundheitssicherheit“ hat sich als eine der wichtigsten weltweiten politischen Herausforderungen etabliert. Gesundheitsinstitutionen wie die WHO fordern oft eine stärkere internationale Zusammenarbeit, um die globale Gesundheitssicherheit zu gewährleisten, und stellen Krankheitsausbrüche als Gefahr für die globale Sicherheit dar. In der Zwischenzeit haben sicherheitspolitische Akteure wie der UN-Sicherheitsrat und der National Intelligence Council der Vereinigten Staaten Infektionskrankheiten auf ihrer Tagesordnung. Sie befürchten, dass größere Ausbrüche die nationale und internationale Sicherheit gefährden könnten. Bei meinem Vortrag auf der IPPNW Global Health Conference in Berlin wollte ich einige der wirtschaftlichen Gründe, die hinter der Agenda der „Global Health Security Policy“ stehen und ihre Folgen untersuchen. Hauptbotschaft dabei: Die derzeitigen weltweiten Ansätze der globalen Gesundheitssicherheit sollten Menschen, die sich mit gesundheitlicher und globaler Gerechtigkeit befassen, mit einiger Sorge erfüllen. Diese Argumentation lässt sich in drei Schritten zusammenfassen:

1. Handel, Wirtschaft und globale Gesundheitssicherheit Die Politik betrachtet (Virus-)Erkrankungen als Bedrohungen für die Sicherheit, nicht nur weil sie Leiden und Todesfälle verursachen, sondern auch weil sie sich

auf den Handel – und damit auf die wirtschaftlichen Interessen der Staaten – auswirken. Größere Ausbrüche können zu enormen wirtschaftlichen Verlusten führen. Neben den direkten wirtschaftlichen Auswirkungen von Krankheiten (Menschen, die erkrankt sind oder sterben, können zum Beispiel nicht arbeiten), gehen die Reisen in die betroffenen Regionen oft zurück, Importe aus den betroffenen Ländern werden eingestellt und die Grenzen geschlossen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die prognostizierten makroökonomischen Folgen einer globalen Pandemie wie etwa eines neuen, tödlichen Grippevirus enorm sind und sich auf Billionen von Dollar belaufen. Die politischen Entscheidungsträger legen Wert auf wirtschaftliche Stabilität, und einer der Gründe, warum sie Epidemien als Priorität der Sicherheit ansehen, ist, dass sie die wirtschaftliche Stabilität bedrohen. Die Globalisierung schafft hier eine interessante Spannung. In einer globalisierten Welt, in der sich Menschen und Güter ständig über Grenzen hinweg bewegen, wissen wir, dass sich Krankheiten weiter und schneller ausbreiten als je zuvor – und die Gefahren damit zunehmen. Aber gleichzeitig ist der internationale Handel für die Weltwirtschaft so wichtig, dass es dringend notwendig ist, ihn nicht zu sehr zu unterbrechen. Das Hauptziel des derzeitigen Ansatzes für die globale Gesundheitssicherheit besteht darin, diese beiden 14

Dinge in Einklang zu bringen: die Sicherheit vor der internationalen Ausbreitung von Krankheiten zu erhöhen, ohne den internationalen Handel und Reiseverkehr unverhältnismäßig stark zu beeinträchtigen.

2. Verzerrte Prioritäten Wenn wir uns (aus der Sicht eines politischen Entscheidungsträgers) vor allem deshalb mit Epidemien befassen, weil sie Handel und Wirtschaft schädigen können, werden wir am Ende eine besondere Sichtweise haben, bei der es vor allem auf Epidemien ankommt. Im Hinblick auf die Weltwirtschaft gibt es einige Orte, die wir eher schützen als andere. Der Vergleich des SARS-Ausbruchs 2003 mit dem westafrikanischen Ebola-Ausbruch der Jahre 2014-16 macht dies deutlich. SARS betraf eine Reihe von Ländern, darunter globale Wirtschaftszentren wie Hongkong und Singapur, und später einige große westliche Städte – die wichtigste dabei war vielleicht Toronto. Die Reaktion auf SARS wurde allgemein als Erfolg gewertet. Dennoch starben etwa 800 Menschen und die Kosten für die Weltwirtschaft lagen bei etwa 40 Milliarden US-Dollar. Der Ausbruch der Ebola in Westafrika 2014-16 war weitaus größer und hatte rund 11.000 Todesfälle zur Folge. Da sich jedoch fast alle Betroffenen in armen westafrikanischen Ländern (Guinea, Liberia und Sierra Leone) befanden, waren die globalen wirtschaftlichen Verluste viel


Fotos: © Orla Connolly

geringer als bei SARS: insgesamt wahrscheinlich ca. 14 Milliarden US-Dollar. Was wäre, wenn diese Epidemien gleichzeitig ausgebrochen wären und wir einer von beiden die Priorität hätten geben müssen? Wenn wir uns um Krankheiten vor allem aus Gründen der globalen Wirtschaftssicherheit kümmern, ist die Antwort auf schmerzhafte Art und Weise offensichtlich. Aus dieser Sicht sind einige Menschen wirtschaftlich entbehrlicher als andere – in einer Weise, die in direktem Zusammenhang mit den weltweiten ökonomischen Ungleichheiten steht.

3. Notfallmaßnahmen Eine ökonomische Logik kann nicht nur unsere Sichtweise darauf verzerren, welche Gesundheitsprobleme wir priorisieren .Sie könnte sich – insbesondere wenn die Sicherheitslogik dazukommt – auch darauf auswirken, wie wir auf einen Ausbruch reagieren. Das Muster, das wir in den letzten Jahren gesehen haben, sind notfallgetriebene „Feuerwehr“-Missionen, bei denen internationale Hilfskräfte zum Einsatz kommen (in der Regel zu spät), die die Region schnell wieder verlassen, sobald der Ausbruch unter Kontrolle gebracht wurde (wenn also die wirtschaftliche und sicherheitstechnische Bedrohung beseitigt ist).

Die Aufgabe, die in der Regel nicht wahrgenommen wird, ist die längerfristige (und teurere), ärmeren Ländern beim Aufbau der Strukturen zu unterstützen, die helfen würden, Epidemien künftig zu vermeiden: bessere Gesundheitssysteme, verbesserte Wasser- und Sanitärversorgung usw. Obwohl es Agendas wie die Universal Health Coverage gibt, scheinen diese einem völlig anderen Universum anzugehören als der Diskurs über die globale Gesundheitssicherheit. Es ist keineswegs klar, dass die politische Agenda der Globalen Gesundheitssicherheit daran interessiert ist, gesundheitliche Ungleichheiten anzugehen. Von noch geringerem Interesse sind die grundsätzlichen sozialen und wirtschaftlichen Gesundheitsfaktoren, die einige Bevölkerungsgruppen anfälliger machen als andere und die den Ausbruch von Infektionskrankheiten überhaupt erst verursachen.

heitssicherheitssystem versucht, einige Symptome der Ungleichheit anzugehen – aber nicht die Ungleichheit selbst. Es versucht, Schocks für die Weltwirtschaft abzuschwächen, aber es hat überhaupt kein Interesse daran, die Grundlage dieser Weltwirtschaft zu verändern – dabei ist es das, was wirklich notwendig wäre, um Gesundheit für alle zu schaffen. Simon Rushton ist Dozent an der politischen Fakultät der Universität Sheffield. Sein Buch „Security and Public Health“ ist 2019 bei Polity erschienen.

Schlussfolgerung Obwohl der Schutz vor Epidemien natürlich eine gute Sache ist, sollte jeder, der sich für gesundheitliche und globale Gerechtigkeit interessiert, auch darüber nachdenken, was auf der aktuellen Agenda der Global Health Security Policy fehlt. Ausbrüche und Pandemien sind eine Art globales Gesundheitsproblem, aber nur eine der Arten, wie Gesundheit global ist. Die weiter gefassten Faktoren von Gesundheit sind selbst das Ergebnis der massiven Ungleichheiten in der Weltwirtschaft. Das gegenwärtige globale Gesund15

Simon Rushton ist Dozent an der Universität Sheffield.


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Brutales Vorgehen gegen junge Geflüchtete Besorgniserregende Gewalt der bayerischen Behörden gegenüber Jugendlichen

Im Sommer wurden zwei unbegleitete Minderjährige gewaltsam aus Bayern nach Albanien abgeschoben. Ärzt*innen protestieren, das Verfahren sei aus verschiedenen Gründen unzulässig.

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m 19. Juni 2019 wurden zwei unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 13 und 15 Jahre alte Geschwister, unter Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach Albanien abgeschoben. Wie die 13-jährige Schülerin zwei Tage nach der Abschiebung berichtete, wurden sie und ihr Bruder gegen neun Uhr morgens im Stadtpark in Osterhofen (Bayern) unverhältnismäßig gewaltsam festgenommen. Der 15-jährige Berufsschüler sei ohne Vorwarnung, brutal gegen einen Autospiegel gestoßen, auf dem Boden fixiert und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt worden. Acht Polizeifahrzeuge und ca. 20 Beamte seien bei dem Einsatz dabei gewesen, ebenso Mitarbeitende des Jugendamtes, darunter die Amtsvormündin der Kinder. Der bayerische Flüchtlingsrat schreibt: „Nach der Festnahme wurden die Kinder getrennt und direkt zum Münchner Flughafen gefahren. Es wurde ihnen nicht ermöglicht, persönliche Dinge, Kleidung oder Geld mitzunehmen. Bis zum Abflug wurden sie in Einzelzellen eingesperrt – ohne Ansprechpartner*innen, ohne Nahrungsmittel, ohne Handys. In Tirana/Albanien angekommen, haben sich die Jugendamtsmitarbeiter*innen an der geöffneten Flugzeugtür verabschiedet. Die beiden Minderjährigen wurden weder einer geeigneten Jugendhilfeeinrichtung in Albanien noch den sorgeberechtigten Eltern übergeben, wie dies gesetzlich vorgesehen ist. Das Wohl der Kinder, entsprechende Unterbringung und Versorgung sind nicht garantiert.“

aber das Jugendamt und die Amtsvormundschaft, sind zur vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls verpflichtet. Es macht uns besorgt, dass die Verantwortlichen des Jugendamtes vor Ort weder bei der unverhältnismäßigen Gewaltanwendung gegenüber den ihnen anvertrauten Jugendlichen in Osterhofen einschritten noch für eine ordnungsgemäße Übergabe an eine sorgeberechtigte Person in Tirana sorgten. Sie haben beim Vollzug einer Maßnahme mitgewirkt, die die Rechte von Kindern massiv verletzt hat, für deren Wohl sie die Verantwortung trugen.

Am Telefon sagte die 13-jährige: „Wir sind hier versteckt und müssen weg, weil wir nicht sicher sind. Ich habe große Angst“. Schon vor zwei Jahren waren die beiden Jugendlichen mit ihrer psychisch erkrankten Mutter, die schon durch zwei vorangegangene Abschiebeversuche traumatisiert war, aus Bayern nach Albanien abgeschoben worden – ohne den Vater. Sie mussten damals mitansehen, wie ihre Mutter von sechs Polizisten gefesselt und ins Flugzeug gebracht wurde, obwohl Ärzte sie für nicht reisefähig erklärt hatten. Aus Angst vor Blutrache waren die Kinder wenig später allein wieder nach Deutschland geflüchtet.

Die Bayerische Ärzteinitiative hat die zuständigen bayerischen Staatsministerien für Inneres sowie für Familie, Arbeit und Soziales, dazu aufgefordert, die Vorgänge der Abschiebung rückhaltlos aufzuklären und dafür Sorge zu tragen, dass sie sich nicht wiederholen. Die Jugendlichen müssen umgehend nach Deutschland zurückgeholt werden.

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as Vorgehen der Behörden ist aus mehreren Gründen unzulässig und unzumutbar. Unbegleitete Minderjährige stehen unter einem besonderen Schutz. Sie dürfen nur in Ausnahmefällen abgeschoben werden, wenn Versorgung und Unterbringung im Zielland gewährleistet sind. Dies ist hier nach unseren Kenntnissen nicht der Fall. Abschiebungen während des laufenden Schuljahres und während einer Ausbildung verletzen in besonderem Maß das Kindeswohl. Alle staatlichen Organe, besonders

Zuerst veröffentlicht in einer Stellungnahme der Bayerischen Ärzteinitiative.

Tom Nowotny ist IPPNWMitglied und engagiert sich in der Bayerischen Ärzteinitiative für Flüchtlingsrechte. 16


ATOMENERGIE

Atomares Erbe Sommerakademie in Wolfenbüttel

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as Atommülllager ASSE II liegt auf einem Höhenzug, der bewaldet und beackert ist – eine landschaftliche Idylle, die an Büchel erinnert. Dennoch gelingt es ihr nicht, über die Gefahren hinweg zu täuschen, die in dem durch Gebirgsdruck und Laugenzufluss einsturzgefährdeten, teils maroden Bergwerk lauern und die die Gesellschaft vor das Problem der Rückholbarkeit von atomaren Abfällen stellt. Eine Exkursion in die ASSE war Teil der Sommerakademie „Atomares Erbe“ vom 6.-10. August 2019 in Wolfenbüttel. Die Akademie richtete sich an Studierende, junge Akademiker*innen und andere interessierte junge Menschen, die Lust hatten, sich fünf Tage intensiv und interdisziplinär mit dem wichtigen Thema „Atommüllentsorgung“ zu beschäftigen. Für mich als angehende Medizinerin bot diese Akademie eine besonders schöne Gelegenheit, über den medizinischen Tellerrand hinaus zu blicken und in zahlreichen Gesprächen mit Teilnehmer*innen und Referent*innen mit ausgewiesener Expertise in Geologie, Physik oder Ökonomie neue Sichtweisen und Einblicke zu erlangen.

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rwartungen und Befürchtungen, mit denen die Teilnehmer*innen nach Niedersachsen anreisten waren: „Spaß haben“, „einen besseren Überblick über aktuellen Stand der Atompolitik gewinnen“, „technische Details“, „engagierte Menschen kennenlernen“ und „Angst vor einem straffen Programm“. Alle Referent*innen, Organisator*innen und Teilnehmer*innen waren stets per Du, wir arbeiteten tagsüber konstruktiv in großer Runde unter anderem zu den (Aus-) Wirkungen von Radioaktivität bzw. Strahlung auf den menschlichen Organismus (Dr. Alex Rosen, IPPNW-Vorsitzender). Thema waren auch die Kosten bzw. die Finanzierung des Rückbaus eines AKWs. Nach Feierabend ließen wir den einen oder anderen Abend in gemütlichem Beisammensein ausklingen.

SCHACHT KONRAD

Diskussionen und Exkursionen Im Laufe der nächsten Tage folgten lehrreiche und kompakte Vorträge zum derzeitigen Stand um den Atommüll sowie zur Interpretation von Statistiken und Studien. In einem ausgewogenen Verhältnis von Kleingruppenarbeit zu Vorträgen setzten wir uns sorgfältig mit den verschiedenen Optionen der Entsorgung radioaktiver Abfälle auseinander, lernten einen kritischen Standpunkt dazu zu entwickeln und reflektierten entstehende Herausforderungen für künftige Generationen. Nach diesem fundierten komprimierten inhaltlichen Input beschäftigten wir uns arbeitsteilig eingehender mit Schacht Konrad und ASSE II, die wir am vierten Tag besuchten.

zu kommen. Die Gruppendynamik war hervorragend. Wir hatten durch die interessanten Informationen im Laufe der Tage ein soliden und spürbaren Wissenszuwachs entwickelt und konnten faktenbasierte Debatten bis spät in die Nacht führen. Trotz des entstehenden Schlafmangels waren wir nicht müde, dort am nächsten Morgen anzuknüpfen und weiter zu diskutieren. In diesem Sinne hatten wir bei dieser Akademie vor allem eines: Spaß!

Persönliches Fazit Insgesamt hatten wir Veranstaltungstage voller Theorie und Praxis zu dem gesellschaftspolitisch durch den deutschen Atomausstieg teilweise verdrängten Problems des atomaren Erbes – ein Thema, das im Hinblick auf den verbleibenden Atommüll nach wie vor relevant ist. Das Seminar war erkenntnis- und abwechslungsreich. Es bot uns ausreichend Zeit, miteinander in spannende Gespräche 17

Ruha Younes ist Medizinstudierende im 9. Semester an der MH Hannover.


ATOMENERGIE

Große Gefahr durch Schweizer AKWs Neue Studie: Super-GAU in der Schweiz hätte langfristig 100.000 Opfer zur Folge

Berechnungen und neue medizinische Erkenntnisse. Aufgrund der Lage der Atomkraftwerke und der Bevölkerungsdichte in der Region wäre kein Land so stark betroffen wie Deutschland. Vor allem die beiden grenznahen Atomkraftwerke Leibstadt und Beznau, die nur 50 bzw. 60 Kilometer von Freiburg entfernt liegen, stellen nach Angaben der Autoren der Studie eine massive Gefahr für die öffentliche Gesundheit in Deutschland dar. Selbst bei geringen Windgeschwindigkeiten von 10-20 km/h („leichte bis schwache Brise“) wäre die radioaktive Wolke innerhalb von drei bis sechs Stunden über deutschen Großstädten. Die baden-württembergische Landesregierung ist auf ein solches Katastrophenschutz-Szenario nicht vorbereitet.

DER FALLOUT EINES SUPER-GAU IN DER SCHWEIZ WÜRDE DEUTSCHLAND VERMUTLICH STARK BETREFFEN.

Bild: SES/EUNUPRI2019

Simulationen unter: ippnw.de/bit/simulation

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n 17 europäischen Staaten werden noch Atomkraftwerke betrieben, viele von ihnen sind alt und technisch marode. Dennoch sind viele europäische Regierungen nicht bereit, die Nutzung der Atomenergie zügig und rechtlich bindend zu beenden. Die Schweiz ist eines dieser Länder. Schweizer Atomreaktoren zählen mit zu den ältesten der Welt: Leibstadt ist seit 1984 in Betrieb, Gösgen seit 1979, Mühleberg seit 1971 und Beznau als dienstältester Atomreaktor der Welt seit 1969, also seit nunmehr 50 Jahren. Korrosions- und Materialschäden im Reaktordruckbehälter und die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen für Erdbeben oder Kühlungsausfälle haben in den letzten Jahren immer wieder zu Forderungen nach einer raschen Stilllegung dieser Atomreaktoren geführt. Das AKW Beznau befindet sich zudem auf dem erdbebengefährdeten Oberrheingraben, was beim Bau nicht berücksichtigt wurde. Statt der frühzeitigen Abschaltung hat die Schweizer Atombehörde ENSI jedoch im Februar 2019 die Sicherheitsbestimmungen gelockert, um einen Weiterbetrieb der Atomreaktoren zu ermöglichen. So wurde u.a. der Dosisgrenzwert für eine vorläufige

Außerbetriebnahme des AKW im Rahmen der Störfallvorsorge auf 100 Millisievert (mSV) erhöht. Nun hat ein interdisziplinäres Team aus Wissenschaftlern der Universität Genf und des Genfer Institut Biosphère unter Mitwirkung von Dr. Claudio Knüsli, Onkologe und Vorstandsmitglied der Schweizer IPPNW-Sektion, in einer neuen Studie die Auswirkungen eines schweren Unfalls in einem der vier Schweizer Atomkraftwerke Leibstadt, Gösgen, Beznau und Mühleberg untersucht. Außerdem wurde das grenznahe französische AKW Bugey mit in die Studie eingeschlossen. Das Team um Dr. Frédéric-Paul Piguet analysierte realistische meteorologische Situationen und modellierte mögliche Verbreitungswege radioaktiver Partikel. Dr. Claudio Knüsli beschrieb die zu erwartenden gesundheitlichen Folgen eines solchen schweren Unfalls.

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as erschreckende Ergebnis: Mehr als hunderttausend Strahlenopfer sind in Europa langfristig zu erwarten, sollte sich in einem Schweizer Atomkraftwerk ein großer Unfall ereignen. Die Studie berücksichtigt moderne meteorologische 18

Es reicht also nicht, dass wir nur in Deutschland die Atomkraftwerke abschalten. Die deutsche Umweltministerin Svenja Schulze muss bei der Schweizer Aufsichtsbehörde ENSI und der Schweizer Regierung auf eine zügige Abschaltung der alten Schweizer AKWs drängen. Gleiches gilt für weitere marode AKWs. Die französischen Meiler Fessenheim und Cattenom, die belgischen Atommeiler Tihange und Doel und die tschechischen AKWs Dukovany und Mochovce, die ohne Containment betrieben werden, müssen vom Netz! Bindende Klimaschutzziele auf EU-Ebene bei gleichzeitigem Atom- und Kohleausstieg sind das Gebot der Stunde. Die Studie finden Sie unter: institutbiosphere.ch / eunupri_2019.html

Dr. Angelika Claußen ist Europäische IPPNWPräsidentin.


SERIE: DIE NUKLEARE KETTE

Uranabbau in Church Rock Der Dammbruch von Church Rock gilt als die größte Freisetzung von Radioaktivität in der Geschichte der USA Vor 40 Jahren, am 16. Juli 1979, wurden im Uranabbaugebiet Church Rock durch einen Dammbruch große Mengen an radioaktivem Abwasser in den Puerco River gespült. Die Umweltkatastrophe von Church Rock stellt den größten zivilen Atomunfall in der Geschichte der USA dar, noch vor der Kernschmelze des Atomkraftwerks Three Mile Island im selben Jahr.

Church Rock/Kinłitsosinil, USA, Uranbergbau Im Juli 1979 wurden im Uranabbaugebiet Church Rock durch einen Dammbruch große Mengen an radioaktivem Abwasser in den Puerco River gespült. Die Umweltkatastrophe von Church Rock gilt als die größte Freisetzung von Radioaktivität in der Geschichte der USA, noch vor der Kernschmelze des Atomkraftwerks Three Mile Island im selben Jahr. Die indigenen Navajo, die in der Umgebung leben, werden seit Jahrzehnten erhöhten Strahlendosen ausgesetzt.

Hintergrund

Hintergrund Der kleine Ort Church Rock (Kinłitsosinil) in New Mexico ist Teil einer semiautonomen Region des indigenen Navajo-Volkes. Nachdem in den 1950er Jahren Uranvorkommen entdeckt wurden, entstanden hier insgesamt rund 20 Uranminen. Außerdem nahmen mehrere Uranmühlen den Betrieb auf, um das US-Atomwaffenprogramm mit dem spaltbaren Material zu versorgen. 1968 eröffnete die United Nuclear Corporation die größte unterirdische Uranmine der USA. Über 200 Arbeiter, vor allem Stammesmitglieder der Navajo, produzierten jährlich über 1.000 Tonnen Uranoxid. Für jede Tonne dieses Urankonzentrats entstanden mehrere Tausend Tonnen radioaktiver Abraum. Dieser wurde, zum Schutz vor Verwehung, in großen, offenen Stauseen gelagert. Nachdem es in der Vergangenheit bereits häufiger zu kleineren Lecks gekommen war, brach im Juli 1979 der Damm eines solchen Stausees. Mehr als 1.000 Tonnen radioaktiver Abfall und 360 Millionen Liter radioaktives Abwasser wurden in den nahe gelegenen Puerco River gespült. Trotz des dramatischen Anstiegs der Strahlenwerte wurde Church Rock nicht, wie vom Stammesrat der Navajo gefordert, zum Katastrophengebiet erklärt. Die Uranindustrie wurde 1982 eingestellt und das Gebiet in die Verantwortung der US-Umweltschutzbehörde EPA abgegeben.

Folgen für Umwelt und Gesundheit Der radioaktive Abraum enthält Spaltprodukte des Urans, die bei Inhalation oder Aufnahme über die Nahrung Krebs erzeugen können. Die ländliche, sozial ausgegrenzte indigene Bevölkerung ist diesen Stoffen bis zum heutigen Tag ausgesetzt. Während bei den 1.700 direkt vom Unfall betroffenen Menschen keine akuten Strahlenschäden festgestellt wurden, warnen Experten vor den langfristigen Folgen. Da die Viehbestände der Navajo sowie deren Trinkwasserquellen radioaktiv belastet wurden, ist die Sorge groß, dass die Anwohner*innen durch kontaminiertes Fluss- und Grundwasser sowie durch den Verzehr von belastetem Fleisch und Gemüse relevanten inneren Strahlendosen ausgesetzt sind. Vor allem Kinder und Immunschwache haben ein signifikant erhöhtes Krebsrisiko. Die EPA hat in 14 Gebieten rund um den Unglücksort eine ausgedehnte Radiumverseuchung gefunden und ein erhöhtes Gesundheitsrisiko durch radioaktive Staubpartikel, Radongas, verseuch19

Der Eingang zu einer stillgelegten Uranmine in Church Rock. Nachdem Anfang der 1950er Jahre Uranvorkommen entdeckt wurden, entstanden in den folgenden Jahrzehnten rund 20 Uranminen und Uranmühlen rund um Church Rock. Für jede Tonne des gewonnenen Urankonzentrats entstanden mehrere Tausend Tonnen radioaktiver Abraum. Foto: Manuel Quinones

Der kleine Ort Church Rock im US-Bundesstaat New Mexico ist Teil der Navajo Nation, einer semiautonomen Region des indigenen Navajo Volkes. Nachdem hier Anfang der 1950er Jahre Uranvorkommen entdeckt wurden, entstanden in den folgenden Jahrzehnten rund 20 Uranminen rund um Church Rock. Außerdem nahmen mehrere Uranmühlen den Betrieb auf, um das wachsende US-Atomwaffenprogramm mit dem spaltbaren Material zu versorgen. 1968 eröffnete die United Nuclear Corporation (UNC) die größte unterirdische Uranmine der Vereinigten Staaten. Über 200 Arbeiter, vor allem Stammesmitglieder der Navajo, produzierten jährlich über 1.000 Tonnen Uranoxid (U3O8).1 Für jede Tonne dieses Urankonzentrats entstanden mehrere Tausend Tonnen radioaktiver Abraum. Dieser wurde, zum Schutz vor Verwehung, mit Wasser bedeckt und in großen, offenen Stauseen gelagert. Nachdem es in der Vergangenheit bereits häufiger zu kleineren Lecks gekommen war, brach am 16. Juli 1979 der Damm eines solchen Stausees. Mehr als 1.000 Tonnen radioaktiver Abfall und 360 Millionen Liter radioaktives Abwasser wurden in den nahe gelegenen Puerco River gespült. Diese Umweltkatastrophe stellt den größten zivilen Atomunfall in der Geschichte der USA dar.2 Selbst durch die Kernschmelze von Three Mile Island einige Monate zuvor war nicht so viel Radioaktivität freigesetzt worden. Trotz des dramatischen Anstiegs der Strahlenwerte in Luft, Wasser und im umliegenden Gelände wurde Church Rock nicht, wie vom Stammesrat der Navajo gefordert, zum Katastrophengebiet erklärt. Die Uranindustrie in Church Rock wurde 1982 eingestellt und das verseuchte Gebiet in die Verantwortung der US-Umweltschutzbehörde EPA abgegeben.3

Folgen für Umwelt und Gesundheit

Teddy Nez beobachtet die, durch die EPA durchgeführten Dekontaminationsarbeiten auf dem Land der Navajo in New Mexico. Der Hügel im Hintergrund besteht aus Schutt einer der zwei stillgelegten Uranminen in der Nähe seines Hauses. Die Minen waren 25 Jahre lang sich selbst überlassen, bevor die EPA Dekontaminationsarbeiten einleitete. Foto: Rose Jenkins

Der radioaktive Abraum aus Church Rock enthält Radium, Thorium und andere Spaltprodukte des Urans, die bei Inhalation oder bei Aufnahme über die Nahrung Krebs erzeugen können.2 Die ländliche, sozial ausgegrenzte indigene Bevölkerung der Navajo sind diesen radioaktiven Stoffen bis zum heutigen Tag ausgesetzt. Während bei den 1.700 direkt vom Unfall betroffenen Menschen keine akuten Strahlenschäden festgestellt wurden, warnen Gesundheitsexperten vor den langfristigen Folgen der chronischen Strahlenexposition. Da die Viehbestände der Navajo sowie deren Trinkwasserquellen radioaktiv belastet wurden, ist die Sorge groß, dass die Anwohner durch kontaminiertes Fluss- und Grundwasser sowie durch den Verzehr von belastetem Fleisch und Gemüse relevanten inneren Strahlendosen ausgesetzt sind.1 Vor allem Kinder und Immunschwache haben ein signifikant erhöhtes

Krebsrisiko im Vergleich zum oft zitierten „ReferenzMann“, wenn es um die strahlenhygienisch zulässigen Strahlendosen geht. Die EPA hat in 14 Gebieten rund um den Unglücksort eine ausgedehnte Verseuchung durch Radium gefunden und ein erhöhtes Gesundheitsrisiko durch radioaktive Staubpartikel, Radongas, verseuchtes Regen- und Oberflächenwasser sowie kontaminierte Viehbestände festgestellt.3 Erkrankungen, die durch den Kontakt mit diesen radioaktiven Substanzen ausgelöst werden, sind unter anderem Katarakte, Knochenmarksuppression, Nierenerkrankungen, kindliche Fehlbildungen und Krebs. Über das Kompensationsgesetz für Strahlenexponierte wurden den Uranminenarbeitern, bei denen Krebs oder Lungenerkrankungen diagnostiziert wurden, „Entschädigungen“ von je 100.000 US-Dollar zugesprochen. Die Auszahlung des Geldes wurde jedoch durch einen komplizierten Zertifizierungsprozess erschwert, der für die Navajo eine bedeutende Hürde darstellt und oft dazu führt, dass Kompensationen vorenthalten werden. 2003 gründeten die Navajo das Church Rock Uranium Monitoring Project (CRUMP), um die Umwelt- und Gesundheitsfolgen der verlassenen Uranminen auf die Anwohner zu erfassen.4

Ausblick Von 2003 bis 2007 fand das Church Rock Uranium Monitoring Project in Bodenproben nahe Church Rock erhöhte Gamma-Strahlung und Urankonzentrationen. Das Wasser des Puerco River, das zur Bewässerung der Felder und als Trinkwasser für Weidevieh verwendet wird, war ebenfalls radioaktiv kontaminiert. Die Langzeiteffekte der erhöhten Strahlenbelastung wurden bislang nicht untersucht.4 Erst im Jahr 2012 wurden Pläne bekannt, dass eine epidemiologische Studie an schwangeren Navajo-Frauen und ihren Kindern durchgeführt werden soll um die gesundheitlichen Folgen von Uranexposition zu untersuchen.5 Das Volk der Navajo hat wiederholt eine staatlich finanzierte Säuberung der verlassenen Minen gefordert. Zudem haben sie die Wiederaufnahme der Uranproduktion entschieden abgelehnt. Die Navajo von Church Rock zählen zur Gruppe der Hibakusha, denn auch ihre Gesundheit wurde dem Streben nach Atomwaffen geopfert.

Quellen 1 Brugge et al. „The Navajo people and uranium mining“. Albuquerque: University of New Mexico Press, 2007. 2 Brugge et al. „The Sequoyah corporation fuels release and the Church Rock spill: unpublicized nuclear releases in American Indian communities“. Am J Public Health. 2007;97(9):1595–1600. www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1963288/ 3 „Addressing Uranium Contamination on the Navajo Nation“. Webseite der US Environmental Protection Agency (EPA). www.epa.gov/region9/superfund/navajo-nation/ne-church-rock-mine.html 4 „Report of the Church Rock uranium monitoring project 2003-2007“. Southwest Research and Information Center, Mai 2007. http://www.sric.org/uranium/docs/CRUMPReportSummary.pdf 5 „Federal Actions to Address Impacts of Uranium Contamination in the Navajo Nation – Five-Year Plan Summary Report.“ Environmental Protection Agency (EPA), January 2013, p. 85. www.epa.gov/region9/superfund/navajo-nation/pdf/NavajoUraniumReport2013.pdf

Die Stelle, an der am 16. Juli 1979 der Damm eines Stausees mit radioaktivem Abraum brach und damit den größten zivilen Atomunfall in der Geschichte der USA auslöste. Mehr als 1.000 Tonnen radioaktiver Abfall und 360 Millionen Liter radioaktives Abwasser wurden in den nahe gelegenen Puerco River gespült. Foto: Rose Jenkins

Hibakusha weltweit

Eine Ausstellung der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Körtestr. 10 | 10967 Berlin ippnw@ippnw.de | www.ippnw.de V.i.S.d.P.: Dr. Alex Rosen

tes Wasser sowie kontaminierte Viehbestände festgestellt. Als Kompensation wurden den Uranminenarbeitern, bei denen Krebs oder Lungenerkrankungen diagnostiziert wurden, „Entschädigungen“ von je 100.000 US-Dollar zugesprochen. Die Auszahlung des Geldes wurde jedoch durch einen komplizierten Zertifizierungsprozess erschwert, der oft dazu führt, dass Kompensationen vorenthalten werden. 2003 gründeten die Navajo das Church Rock Uranium Monitoring Project, um die Umwelt- und Gesundheitsfolgen der verlassenen Uranminen auf die Anwohner*innen zu erfassen. Das Volk der Navajo hat wiederholt eine staatlich finanzierte Säuberung der verlassenen Minen gefordert. Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der IPPNW-Posterausstellung „Hibakusha Weltweit“. Die Ausstellung zeigt die Zusammenhänge der Nuklearen Kette: vom Uranbergbau über die Urananreicherung, zivile Atomunglücke, Atomfabriken, Atomwaffentests, militärische Atomunfälle, Atombombenangriffe bis hin zum Atommüll und abgereicherter Uranmunition. Sie kann ausgeliehen werden. Weitere Infos unter: www.hibakusha-weltweit.de


ATOMWAFFEN-AUFRÜSTUNG

F

riedensaktivist*innen mit aufblasbaren Bombenattrappen, die der Künstler Nikolaus Huhn gestaltet hat. Mit der kreativen Aktion sollte das offene Geheimnis gelüftet werden, dass in Büchel 20 US-Atombomben stationiert sind.


Weitere Fotos von Ralf Schlesener finden Sie auf den Webseiten: www.photochron.de | www.startnext.com/ autorenfotografie-atomwaffenverbot

Bombenballett Aktionsfestival am Atomwaffenstützpunkt Büchel Auch in diesem Jahr kamen am ersten Juliwochenende zahlreiche Friedensaktivist*innen am Atomwaffenstützpunkt Büchel in der Eifel zusammen, um im Rahmen eines Festivals für ein atomwaffenfreies Deutschland zu demonstrieren. Die Teilnehmer*innen erwartete ein buntes Programm aus verschiedenen Workshops, Konzerten und viel Zeit für den Austausch. Unter ihnen befanden sich altbekannte Gesichter, das Festival zog aber auch viele junge Menschen an. Neben zahlreichen Studierenden sorgte auch die zehnköpfige Delegation der US-Friedensbewegung für eine bunte Mischung im Camp. Die Vorbereitungen für das Bombenballett, bei dem mit 20 maßstabsgetreu nachgebauten Atomwaffen das „Bombengeheimnis“ gelüftet wurde, waren gut besucht. Durch die Aktion wurde die Anwesenheit der Bomben, deren echte Gegenstücke nur einige Meter entfernt gelagert sind, um einiges greifbarer. Ralf Schlesener, der ICAN schon auf vielen Reisen fotografisch begleitet hat, dokumentierte das Festival für uns.

Fotos: © Ralf Schlesener

Einen Erlebnisbericht finden Sie im internen Teil auf Seite 8.

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ATOMWAFFEN-AUFRÜSTUNG

Ende der Abrüstung Das Aus für den INF-Vertrag: ein neues Wettrüsten ist im Gange

Am 2. August 2019 ist mit dem INF-Vertrag eine Ära der europäischen Sicherheit zu Ende gegangen.

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er 1987 geschlossene Mittelstreckenraketenvertrag war nicht nur ein Verdienst von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, sondern auch der Protestbewegung der 1980er Jahre. Durch diesen wurde eine gesamte Waffenkategorie verboten und abgerüstet. Er ebnete den Weg für eine Reihe weiterer Abrüstungsabkommen und Rüstungskontrollverträge, die Europa seitdem schützten. Nun, kaum zwei Wochen nach dem Auslaufen des Vertrages, gab es die ersten Toten. Ein Unfall bei der Entwicklung einer neuen atomgetriebenen Rakete in Russland tötete mindestens fünf Menschen und ließ Radioaktivität frei. Das Wettrüsten des Kalten Krieges verursachte eine Vielzahl kleiner Katastrophen, die Mensch und Umwelt verseuchten. Das Testen neuer Technologien bringt häufig Opfer mit sich und dieser neue Unfall mahnt uns, das nicht zu vergessen. Nur ein Paar Tage nach dem russischen Atomunfall testeten die USA einen neuen Marschflugkörper, der unter dem INF-Vertrag verboten gewesen wäre. Zudem wurde als Startvorrichtung das System verwendet, das Russland als einen Verstoß gegen den INF beklagt hat und die USA stets als „nur defensiv“ bezeichnet hat, weil sie für die Raketenabwehr in Rumänien und Polen stationiert ist. Damit ist

es wohl bestätigt, dass diese Startsystem auch offensiv verwendet werden kann. 2021 geht mit dem Auslaufen des letzten Abrüstungsvertrages zwischen den USA und Russland „New START“ auch die Abrüstung zu Ende. Es gibt keine Anzeichen, dass der, von Obama 2013 angebotene, nächste Vertrag tatsächlich entstehen wird. Donald Trump und Wladimir Putin haben andere Ideen. Laut SIPRI bauen alle Atomwaffenstaaten ihre Arsenale aus – sowohl quantitativ als auch qualitativ. Aber auch wenn die asiatischen Atomwaffenstaaten (Nordkorea, China, Indien und Pakistan) immer mehr Atomwaffen anschaffen, erreichen sie lange nicht die Größe der Arsenale der beiden großen Atomwaffenstaaten. Die USA und Russland besitzen nach wie vor mehr als 90 Prozent des weltweiten Atomwaffenbestandes.

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eltweit gibt es noch 13.865 Atomwaffen. 3.750 davon sind betriebsbereit und fast 2.000 werden auf höchster Alarmstufe (Launch on Warning) gehalten. 10.115 befinden sich entweder im Lager (sind aber teilweise auch schnell wieder einsetzbar) oder sind bereits für die Abrüstung vorgesehen. Das Ende der Abrüstung wird womöglich dazu führen, dass mindestens 11.500 dieser Atomwaffen weltweit erhalten bleiben. Kehrt sich der aktuelle Trend nicht um, wird diese Zahl womöglich sogar wachsen. 22

Die USA kaufen im großen Stil ein Schon unter Obama wurde ein massives Modernisierungsprogramm beschlossen. Angeblich war dieser Beschluss notwendig, um den NEW-START-Vertrag überhaupt durch den US-Kongress zu bekommen. Alle alten Atomwaffensysteme in der Triade – land-, see- oder luftgestützt – sowie alle Trägersysteme (Raketen, U-Boote und Flugzeuge) und Sprengköpfe sollten durch neue, verbesserte Systeme ersetzt werden. Dazu sollte das Befehls- und Kontrollsystem überholt und die gesamte Infrastruktur erneuert werden. Bereits dabei war die sogenannte Life Extension Programm der B61 – die Atombombe, die in Büchel lagert. Die neue B61-12 geht demnächst in Serienproduktion und alle Atombomben in Europa sollen bis 2024 ausgetauscht werden. Die B61-12 braucht ein neues Trägerflugzeug, um die neuen digitalen Eigenschaften einzusetzen. Darüber streitet jetzt die Politik in Deutschland (siehe Artikel von Gerhard Piper, auf S. 28f.). Die Kosten für das Modernisierungsprogramm belaufen sich über die nächsten 30 Jahre laut Congressional Budget Office 2017 auf 1,2 Billionen US-Dollar. Rechnet man die Inflation ein, sind es eher 1,7 Billionen. Nein, das ist kein Schreibfehler, es sind tatsächlich Billionen. Mit Trumps neuer Atomwaffendoktrin werden diese Kosten nicht mehr einzuhalten sein. Denn er will nicht nur die alten Atomwaffen ersetzen, sondern zusätzlich neue bauen.


Es soll mindestens einen neuen Langstrecken-Marschflugkörper und eine neue ballistische Rakete mit geringer Sprengkraft geben. 2019 hatte die Trump-Administration für Atomwaffen schon ein Budget von elf Milliarden US-Dollar. Das sind fast 20 Prozent mehr als im Jahr 2017 unter Obama. Zudem will er neue konventionelle Mittelstreckenraketen bauen lassen, die für den „Prompt Global Strike“ (PGS) einsetzbar wären. Der PGS soll es ermöglichen, dass die USA jedes beliebige Ziel weltweit binnen kürzester Zeit zerstören kann. Für dieses Programm war es auch wichtig, dass der INF-Vertrag und die damit einhergehenden Verpflichtungen eliminiert wurden. Auch wenn diese Raketen nur konventionelle Sprengköpfe tragen sollen, sehen sie aus wie Atomraketen und könnten wegen der Launch-on-Warning-Stellung bewirken, dass ein Fehlalarm einen Atomkrieg auslösen würde. Der Vizevorsitzende des Stabchefs, General Selva, erklärte dem Kongressausschuss für Streitkräfte im März 2017, dass die USA qualitativ im Vorteil seien, obwohl Russland und China ihre Modernisierungsprogramme fortsetzten. Technisch haben die USA also weiterhin die Nase vorne. Russland will strategische Stabilität Auch wenn Russland sein gesamtes Atomwaffenarsenal ebenfalls modernisiert, steht dort wegen der finanziellen Krise deutlich weniger Geld zur Verfügung als in den USA. Auch hier werden alle drei Komponenten der Triade ausgetauscht. Das Ziel des Programms ist jedoch vor allem das nukleare

Gleichgewicht und damit die „strategische Stabilität“ beizubehalten. Sie interessieren sich für eine glaubwürdige Abschreckung durch den massiven Vergeltungsschlag und haben keine Erstschlagstrategie. Die US-Raketenabwehr ist ein treibender Faktor für die Aufrüstung Russlands, das sich seit dem Ausstieg der USA aus dem ABM-Vertrag im Juni 2002 bedroht fühlt. Wladimir Putin sucht Wege, um das US-Raketenabwehrsystem zu überwinden. Die neue „Sarmat“-Interkontinentalrakete mit Mehrfachsprengköpfen wurde explizit dafür entwickelt. Auch das neue „Boost-Glide“-Vehikel „Awangard“, das in der Stratosphäre Überschallgeschwindigkeiten erreichen sollte, wurde in den 1980er Jahren ursprünglich als Antwort auf Reagans „Star Wars“-Programm konzipiert und nun wegen der Raketenabwehr wiederbelebt. Putin stellte diese Waffe im März 2018 vor und erklärte, damit einen technischen Durchbruch erreicht zu haben. Die Waffe soll die russische Zweitschlagfähigkeit sichern. Atomwaffenindustrie heizt Wettrüsten an Sowohl in den USA als auch in Russland ist die Industrie ein starker Player. Das russische Verteidigungsministerium wird im Prozess der Entwicklung von Rüstungsprogrammen weniger durch strategische Gedanken als vielmehr durch die Industrie geleitet, die neuen Projekte vorschlägt. Das Ministerium entscheidet daraufhin, hauptsächlich aus finanziellen oder innerpolitischen Gründen, ob es diese Projekte bewilligt. 23

In den USA ist die Beziehung zwischen Industrie und Politik noch verzwickter. Laut dem ARD-Dokumentarfilm „Das Atomwaffenkartell“ finanzieren wichtige Rüstungskonzerne Think Tanks wie den „Atlantic Council“ und das „Center for a New American Security“, die an der Atomwaffendoktrin der Trump-Administration mitarbeiten. So entstehen Rüstungsprogramme, die diesen Konzernen Milliardenbeträge einbringen. Leider bringt Abrüstung diesen Firmen keinen Gewinn. Auch bei der Anschaffung von Atomwaffensystemen spielt die Industrie eine nicht unerhebliche Rolle.

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abei wird deutlich, dass neue Vorstöße für atomare Abrüstung sicherlich nicht aus den USA oder aus Russland kommen werden. Wir müssen daher weiterhin auf die atomwaffenfreien Staaten setzen, die ein Atomwaffenverbot unterstützen und mehr Regierungen dafür gewinnen. Die Arbeit zur Verhinderung eines Atomkrieges ist wichtiger als je zuvor und muss als Pflicht der Bundesregierung ernst genommen werden. Die IPPNW schlägt als ersten Schritt ein Verbot von Mittelstreckenraketen in Europa vor.

Xanthe Hall ist Atomwaffencampaignerin und Leiterin der Geschäftsstelle der deutschen IPPNW.

Foto: © Ralf Schlesener

DIE US-AMERIKANISCHE DELEGATION BEIM AKTIONSFESTIVAL IN BÜCHEL.


ATOMWAFFEN-AUFRÜSTUNG

ATOMWAFFENSTÜTZPUNKT BÜCHEL

Foto: © Ralf Schlesener

Zwei Jahre Atomwaffenverbot Deutschland muss sich für Abrüstung einsetzen

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ei ihrer Predigt auf dem Aktionsfestival zum zweiten Jahrestag des Atomwaffenverbots in Büchel sagt Margot Käßmann mit Blick auf Aussagen von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und US-Präsident Trump: „Angesichts solcher Aussagen von Menschen, die Verantwortung tragen, muss es uns doch gruseln. Da ist Widerspruch gefragt.“ Die Worte der Theologin geben den Aktivist*innen, Kirchenvertreter*innen und Abgeordneten, die sich seit Jahren für den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen einsetzen, neuen Enthusiasmus. Der Vertrag, im Juli 2017 durch die UN verabschiedet, verbietet erstmals unter anderem den Einsatz aber auch die Drohung mit Atomwaffen sowie deren Stationierung. Zwei Jahre nach Verabschiedung haben bereits 25 Staaten den Verbotsvertrag ratifiziert, darunter Österreich, Südafrika und der Vatikan. Insgesamt 70 Staaten haben unterschrieben. Drei Monate nach der 50. Ratifikation tritt der Vertrag in Kraft. Doch auch in Ländern, die einen Beitritt weiterhin ablehnen – unter anderem Deutschland – verändert sich die Debatte. Beispielsweise wird die Finanzierung von Atomwaffenkomponenten nicht mehr grundsätzlich als legitim angesehen – so hat unter anderem die Deutsche Bank ihre Richtlinie zu Investitionen in Atomwaffen geändert. Diesen Ankündigungen müssen allerdings noch Taten folgen. Außerdem ist das Atomwaffenverbot auf der kommunalen Ebene angekommen. Von München

bis Kiel entscheiden Städte und Bürgermeister*innen, deutschlandweit bisher 43, das Atomwaffenverbot zu unterstützen und die Bundesregierung zum Beitritt aufzufordern. 507 deutsche Abgeordnete auf Landes- Bundes- und EU-Ebene haben bis jetzt die ICAN-Abgeordnetenerklärung unterschrieben.

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ennoch hält die Bundesregierung an ihrer Doppelmoral fest: Einerseits bekennt man sich zu Global Zero und mahnt Nordkorea und Iran zur Abrüstung. Andererseits heißt es im Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung 2018 „Gleichzeitig hält sie [die Bundesregierung] angesichts der sicherheitspolitischen Realität ein sofortiges Verbot von Nuklearwaffen auch weiterhin für nicht geeignet (…)“. Statt eine wirkliche Debatte zum Verbotsvertrag anzuregen und diesen als Impuls und Bestärkung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) zu interpretieren, blockiert man den Ächtungsprozess weiterhin. Das ist umso bedenklicher, da 2020 die nächste NVV-Überprüfungskonferenz ansteht. Mit den drei Säulen – Nichtweiterverbreitung, Abrüstung und Zivile Nutzung der Kernenergie – bildet der NVV seit 1968 die grundlegende Rüstungskontrollarchitektur. Doch mit der Aufkündigung des Iran-Abkommens und dem ungelösten Nordkorea-Konflikt stehen die Zeichen für die nukleare Nichtverbreitung derzeit eher schlecht. Auch konnten einige der seit 2010 beschlossenen konkreten Abrüstungsschritte – u.a. die Konferenz zur Massen24

vernichtungswaffenfreien Zone im Nahen Osten – nicht umgesetzt werden. Gleichzeitig werden die Atomwaffenarsenale unter anderem in Indien und China ausgebaut, in den USA und Russland laufen „Modernisierungsmaßnahmen“, um bestehende Waffensysteme einsatzfähiger zu machen. Das verstößt gegen den Geist des NVV und frustriert die Mehrheit der Staatengemeinschaft zunehmend.

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mso wichtiger ist es, dass Deutschland seine Rolle für die anstehende Überprüfungskonferenz neu definiert. Oft wurde behauptet, der Verbotsvertrag spalte die internationale Gemeinschaft und damit die Mitglieder des Nichtverbreitungsvertrages. Dieses Argument ist nicht haltbar. Die durch den Verbotsvertrag sichtbar gewordene Spaltung der internationalen Gemeinschaft in Atomwaffenbefürworter und Gegner ist nur ein Symptom der bereits seit Jahrzehnten bestehenden Spannungen. Deutschland sollte sich bemühen, als Mediator zu agieren und eine ehrliche Debatte zur Atompolitik anzuleiten. Denn nur durch Ehrlichkeit erwächst Vertrauen – und das ist schließlich die Grundlage für Abrüstung.

Anne Balzer ist Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei ICAN Deutschland.


Foto: © Junepa

Angeklagt: Atomwaffen Aktivist*innen wehren sich gegen juristische Verfolgung für ein Go-In

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iviler Ungehorsam und gewaltfreier Widerstand gegen Unrecht und gewalttätige Politik werden in unserer Gesellschaft wieder populärer. Die Anti-Atom-, die Klimaschutzbewegung und antimilitaristische Bewegungen haben gezeigt, dass dieses politische Instrument ein notwendiges und wichtiges Werkzeug zum Umdenken in der Gesellschaft und bei politischen Entscheidungsträgern ist. Das gilt auch für die Atomwaffenpolitik der Bundesregierung, die seit Jahren trotz drohender atomarer Aufrüstung in eine Lethargie verfallen ist und an einem überkommenden Sicherheitsdenken ideologisch festhält. In vielen Fällen verzichtet die Staatsanwaltschaft auf die juristische Verfolgung der Regelübertretung, aus Legitimationsgründen, Kapazitätsgründen oder einfach aus der Überlegung, solche Aktionen ins Leere laufen zu lassen. Nur da, wo es den militärischen Strukturen wirklich wehtut bzw. ihre Legitimation direkt in Frage gestellt wird, z.B. beim unbefugten Betreten ihres abgeschotteten Geländes, möchte man offensichtlich durch Kriminalisierung den Kreis der Aktivist*innen niedrig halten, um den Schein der Legalität des praktizierten Unrechts aufrechtzuerhalten. Die Prozesskampagne „Wider§spruch“ begreift sich als Teil des gewaltfreien Widerstandes gegen die Atomwaffen in Büchel und der völkerrechtswidrigen Atomwaffenpolitik der deutschen Bundesregierung. „Wider§spruch“ wurde gegründet, nachdem eine Gruppe von neun Aktivist*innen

2016 aus Protest gegen die atomare Teilhabe die Landebahn besetzten, um so den völkerrechtswidrigen Übungsbetrieb für einen Atomwaffenabwurf zu stören. Solche und ähnliche Go-In-Aktionen hat es vor- und auch nachher immer wieder gegeben. In den nachfolgenden Prozessen wurden alle (bis auf einen) zu Geldstrafen verurteilt. Sieben Aktivist*innen haben beschlossen, die Geldstrafe nicht zu begleichen, sondern ihren Widerstand durch alle Gerichtsinstanzen fortzusetzen, um vielleicht beim Bundesverfassungsgericht endlich die notwendige Anerkennung der völkerrechts- und verfassungsrechtswidrigen Atomwaffenpolitik zu erlangen. Vorbild sind die Blockadeprozesse der 80er Jahre gegen die Mittelstreckenraketen in Mutlangen, die schließlich zu dem für uns positiven Blockadeurteil des Bundesverfassungsgerichtes geführt haben.

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as auf zivilrechtlichem Wege offensichtlich mit der Nichtannahme der Verfassungsklage von Elke Koller blockiert ist, soll nun über die strafrechtliche Schiene bis in die höchsten Instanzen getragen werden. Die Prozesskampagne hat mittlerweile die notwendigen Strukturen zum Durchhalten dieses „steinigen“ Weges geschaffen. In mehreren Fachtagen haben wir uns mit Völkerrecht und Strafrecht auseinander gesetzt und uns fortgebildet. Wir holen uns rechtlichen Rat bei Rechtsbeistand, Rechtsanwälten und der IALANA. Wir sammeln Geld, um Sicherheiten für den Einzelnen zu schaffen. „Niemand wird 25

mit den Kosten alleingelassen.“ Wir haben öffentlichkeitswirksame Kampagnen geführt, zum einen zu den Prozessen, zum anderen zur Umschuldung der zu bezahlenden Tagessätze. Bisheriger Höhepunkt in diesem Jahr war die Organisation einer „Mahnwache hinter Gittern“ in Hildesheim. Zur gemeinsamen Vorbereitung der Prozesse haben wir entsprechende Beweisanträge erarbeitet, uns in unseren persönlichen Stellungnahmen abgesprochen und ergänzt und eine Prozess-Choreographie überlegt. Die Prozesse werden durch regelmäßige Mahnwachen begleitet und beobachtet. In mehreren Städten haben wir öffentliche Veranstaltungen mit örtlichen Initiativen durchgeführt und werden das auch in Zukunft weiter tun. Juristisch knüpfen wir an den „rechtfertigenden Notstand“ (§34 StGB) und „Notwehr“ (§32 StGB) an und begründen dies mit dem humanitären Völkerrecht, der fortgesetzten Verletzung des NPT-Vertrages sowie des 2+ 4-Vertrages (Wiedervereinigungsvertrages) und verweisen dabei u.a. auch auf das IGH-Gutachten von 1996. Wir begründen unseren Zivilen Ungehorsam mit den ungeheuerlichen existentiellen Bedrohungen für uns selbst, unser Land, unsere Gesellschaft, die Menschheit, und den gesamten Planeten – in einem demokratischen Staat nicht hinnehmbar. Unsere Utopie ist, dass wenn viele so handeln wie wir, wir den militärischen Übungsbetrieb zum Atomwaffenabwurf für 24 Stunden, eine Woche, einen Monat, ja für immer lahmlegen und ihm dadurch die Legitimation entziehen. Wir können die Befürchtung wahrmachen, die der Amtsrichter Michel einem Aktivisten gegenüber geäußert hat: Die Justiz mit unseren Prozessen zu verstopfen und sie damit zu zwingen, gegen das politische Unrecht mit ihren Mitteln vorzugehen – und so die gegenwärtige Atomwaffenpolitik auf die Anklagebank zu bringen. Das würde unsere verfasste demokratische Gesellschaft nur stärken, nicht schwächen. Der Anfang ist gemacht.

Ernst-Ludwig Iskenius ist IPPNW-Mitglied und hat die Aktionen in Büchel mit organisiert.


Neue Studie zu Investitionen in Atomwaffen At vero eos et accusam et justo duo dolores

Kreditinstitute finanzieren Aufrüstung Deutsche Bank investiert fast sieben Milliarden Euro in Atomwaffen

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fenhersteller aufgedeckt worden: Allianz mit 936 Mio. Dollar, BayernLB mit 518,6 Mio. Dollar, Landesbank Hessen-Thüringen mit 148,1 Mio. Dollar, die KfW mit 115,1 Mio. Dollar, die Landesbank Baden-Württemberg mit 115,1 Mio. Dollar, Siemens mit 114,1 Mio. Dollar und Munich Re mit 43 Mio. Dollar. Neu eingestiegen ins Atomwaffengeschäft ist die IKB Deutsche Industriebank mit einer Investition in Airbus in Höhe von 163,2 Millionen Dollar. Vergleicht man die einzelnen Beträge der zwei Studien miteinander, ist erkennbar, dass von den zehn Banken aus dem Bericht von 2018 sieben ihre Investitionen erhöht haben, während nur drei Banken ihre Investitionen in Atomwaffenhersteller reduziert haben (Allianz, Siemens und Munich Re).

eutsche Kreditinstitute pflegen Geschäftsbeziehungen zu Herstellerfirmen von Atomwaffen und investieren in diese. Darüber wurde in einem früheren Artikel bereits berichtet. ICAN und Pax Christi veröffentlichten dazu im letzten Jahr die Studie „Don’t Bank on the Bomb“, die Investitionen von Banken in die 18 führenden Atomwaffenproduzenten untersuchte. Im Juni 2019 erschien die daran anknüpfende Studie „Shorting our security – financing the companies that make nuclear weapons“. Diese deckt Investitionen in Höhe von 748 Milliarden US-Dollar von 325 internationalen Finanzdienstleistern in Produzenten von Atomwaffen auf – in einem Zeitraum von Januar 2017 bis Januar 2019. Darunter sind elf deutsche Banken, die Atomwaffenherstellern insgesamt 11,67 Milliarden US-Dollar (10,36 Milliarden Euro) zur Verfügung stellen. Damit haben die Banken ihre Investitionen gegenüber den Vorjahren (8,41 Milliarden Euro) sogar noch gesteigert.

Zu den Atomwaffenherstellern, die von dem Geld deutscher Banken profitieren, gehören Unternehmen wie Northrop Grumman, Honeywell, Boeing und Airbus. Die Studie geht also auch auf in Deutschland tätige Unternehmen ein, denn: im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO stationieren die USA in fünf europäischen Ländern etwa 180 Atomwaffen des Typs B61. Darunter ist auch Deutschland, wo circa 20 dieser Atombomben unterirdisch auf dem Fliegerhorst Büchel gelagert sind. Derzeit laufen die Modernisierungsmaßnahmen, um die B61 mit der neueren B61-12 zu ersetzen. Geplant sind 480 Bomben dieser Art für das US-Nukleararsenal, die alle bereits bestehenden nuklearen Freifallbomben ersetzen sollen. Die B21-12 sollen durch Satellitennavigation treffsicherer als ihre Vorgänger sein. Unter anderem produziert das Unternehmen Boeing Heckbauteile für die in den Teilhabestaaten der NATO stationierten Bomben, mit einem Auftragsvolumen von 163 Millionen Euro. Diese sollten im Mai 2019

Mit Abstand an erster Stelle steht die Deutsche Bank mit 6,757 Milliarden US-Dollar. Die Deutsche Bank versprach noch im Mai 2018, dass sie alle Geschäftsbeziehungen mit Herstellern von Atomwaffen beenden werde. Dennoch haben sich ihre Investitionen im Vergleich zum vorherigen Report sogar noch erhöht. Platz zwei nimmt die DZ-Bank mit 1,5 Milliarden Dollar ein, gefolgt von der Commerzbank mit 1,3 Milliarden Dollar. Die DZ Bank, Zentralbank für alle Volks- und Raiffeisenbanken, sticht am meisten heraus, denn sie hat die Finanzierung von Atomwaffensystemen von 470 Millionen US-Dollar (Januar 2014) auf 1,5 Milliarden Dollar (Januar 2017) gesteigert. Zusätzlich dazu sind, wie auch in dem Bericht vom Vorjahr, folgende Banken als Investoren in Atomwaf26


auftragsgemäß fertiggestellt werden. Unklar bleibt allerdings, wann die modernisierten Waffen in die europäischen Stützpunkte geliefert werden.

ablehnen. Doch statt dies als Anreiz zu nehmen, die eigene Politik zu verändern, investieren die Banken mehr als zuvor in Atomwaffenhersteller.

Im Anschluss an die im letzten Jahr veröffentlichte Studie rief ICAN eine Mailaktion ins Leben, bei der sich Kund*innen der genossenschaftlichen DZ Bank an ihre Filiale wenden und ein Ende der gefährlichen Investitionen fordern konnten. Trotz reger Teilnahme seitens der Kund*innen verwehrte sich die DZ Bank den Forderungen der Kampagne, alle Investitionen in Unternehmen, die an der Herstellung und Wartung von Atomwaffen beteiligt sind, zu beenden und dazu eine öffentliche Richtlinie zu verabschieden, die solche Investitionen ablehnt und ausschließt. Stattdessen wurde ein Termin, den ICAN bereits vor der Kampagne mit der DZ Bank vereinbart hatte, wieder abgesagt. Somit wurde ein Dialog verhindert.

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abei gibt es Maßnahmen, die Banken ergreifen könnten, um dem nuklearen Wettrüsten ihre Unterstützung zu entziehen: Richtlinien, die Investitionen in alle Hersteller von Atomwaffen ausschließen und eine öffentliche Ausschlussliste mit den Namen von diesen Atomwaffenunternehmen, mit denen keine Geschäftsbeziehungen eingegangen werden. Die niederländische Volksbank und viele andere internationale Banken haben dies bereits umgesetzt. Die Zeit für deutsche Banken ist gekommen, diesen Vorbildern zu folgen. Shorting our security – Financing the companies that make nuclear weapons: www.dontbankonthebomb.com/2019-hos

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it den Ergebnissen der Studien konfrontiert, versuchen sich die Banken regelmäßig durch irreleitende Statements aus der Verantwortung zu ziehen. So erklären Commerzbank und DZ Bank in ihren offiziellen Nachhaltigkeitsrichtlinien, dass sie nicht in Unternehmen investierten, deren „Kerngeschäft“ im Rüstungsbereich liegt. Für Unternehmen, bei denen die Herstellung von Rüstungsgütern und Atomwaffen nur einen kleineren Teil des Gesamtumsatzes ausmacht, gilt diese Richtlinie also nicht. So kann es sein, dass ein Unternehmen wie Airbus Group, dessen Kerngeschäft im Bereich Zivilflugzeuge liegt, von den Banken finanziert wird, obwohl es gleichzeitig das zweitgrößte Rüstungsunternehmen Europas ist. Im letzten Jahr hat sich nach der Veröffentlichung der Studie „Don’t Bank on the Bomb“ viel Widerstand gegen die Investitionen der Banken in Atomwaffenhersteller geregt. Geäußert hat sich dieser besonders in den Protest-Mails der DZ-Kund*innen. Eine Umfrage vom Juli 2018 bestätigt, dass 72 Prozent der Bevölkerung Investitionen von Kreditinstituten in Atomwaffenhersteller

Lara Fricke studierte Politikwissenschaft in Hamburg und begleitete im Zuge eines Praktikums bei ICAN die DivestmentMailaktion „Keinen Cent für Atomwaffen.“ 27

Foto: © Ralf Schlesener

ATOMWAFFEN-AUFRÜSTUNG


ATOMWAFFEN-AUFRÜSTUNG

Neue Atombomber für die Bundeswehr? Nukleare Teilhabe: Neue Rüstungsprojekte sollen Ersatz für die Tornados in Büchel schaffen

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n Büchel fand im Juli 2019 wieder das „International Action Camp“ der Friedensbewegung statt, mit tatkräftiger Unterstützung von Mitgliedern der IPPNW. Büchel ist das letzte von einstmals 130 US-Atombombenlagern in der BRD. Hier lagern noch schätzungsweise 15 bis 22 US-Wasserstoffbomben der Typen B61-3 und B61-4. Sie stammen aus den siebziger Jahren und sind mittlerweile in die Jahre gekommen. Mit der B61-12 wird ab März 2020 ein Nachfolgemodell eingeführt. Die Entwicklungskosten für die weltweit 400 Bomben summieren sich auf über zehn Milliarden Dollar. Damit ist die B61-12 die teuerste Bombe überhaupt. In Büchel ist nicht zufällig das „Taktische Luftwaffengeschwader 33“ der Bundesluftwaffe stationiert. Seine Tornados sollen im Falle eines Atomkrieges die Wasserstoffbomben aus dem benachbarten US-Depot über Zielen in Russland abwerfen. Auch die Tornados sind in die Jahre gekommen, stammen sie doch aus den achtziger Jahren. Die Sollstärke der beiden Geschwaderstaffeln umfasst insgesamt 32 Tornados, aber wieviele Maschinen sind tatsächlich einsatzbereit? Dies ist keine unbedeutende Frage, schließlich ist der Tornado als einziger atomarer Jagdbomber das schlagkräftigste Waffensystem im deutschen Militärarsenal. Die gesamte Tornadoflotte der Bundeswehr leidet an Ersatzteilmangel und hohen Betriebskosten. Die Materialdepots der Bundeswehr sind zum Teil leergeräumt. Dringend benötigte Ersatzteile können manchmal nicht mehr beschafft werden,

weil die Firmen, die diese Produkte vor Jahrzehnten produziert haben, heute nicht mehr existieren. Daher ist es kein Wunder, dass die Bundeswehrführung die Einsatzbereitschaft der atomaren Tornadoflotte streng geheim hält. Schließlich möchte Annegret Kramp-Karrenbauer nicht, dass sich herumspricht, dass ein Teil ihrer Atombombenträger im Falle eines Atomkrieges doof in der Garage stehen bliebe.

schinen den Himmel beherrschen. Mit der F-35A verwischt die Grenze zwischen Jagdflugzeug und Jagdbomber. Sie kann Bomben, Raketen und Marschflugkörper einsetzen. Außerdem wird die Maschine wie ein kleiner fliegender Gefechtsstand eingesetzt und leitet so Flugroboter als „unbemannte Wingmen“, mit denen sie in einer digitalisierten „Air Combat Cloud“ (ACC) verbunden ist.

Der Bundeswehrführung ist längst klar, dass für den Atombombenträger Tornado ein Ersatz beschafft werden muss, allerdings tut sich die Luftwaffe schwer bei der Auswahl eines entsprechenden Modells, schließlich haben alle zur Auswahl stehenden Typen Vor- und Nachteile. Dabei geht es nicht nur um rein technische Fragen, sondern auch um rüstungspolitische und bündnispolitische Aspekte.

Allerdings ist die Entwicklung und Beschaffung der F-35 mit zahlreichen Problemen behaftet, die man von anderen militärischen Großprojekten kennt – mangelnde Leistungsfähigkeit, Verzögerungen bei der Entwicklung und Kostenexplosionen: So weist das Flugzeugmodell zahlreiche Macken auf, von denen 18 als so schwerwiegend eingeschätzt werden, dass sie jederzeit zu einem Absturz führen können. Durch den aktuellen Lieferboykott der US-Regierung gegen den F-35-Partner Türkei kommt es zu einer weiteren Verzögerung der Auslieferung der bestellten F-35 um circa zwei Jahre, da für 400 Bauteile, die bisher ausschließlich in der Türkei produziert wurden, nun ein Ersatzhersteller gefunden werden muss. Nicht zuletzt ist die F-35 mit Gesamtkosten in Höhe von 1,5 Billionen Dollar über ihre geplante „Lebensdauer“ von 50 Jahren das teuerste Kampfflugzeug der Geschichte!

F-35A Lightning II? Die F-35A scheint auf den ersten Blick eine gute Wahl zu sein, schließlich haben sich alle anderen europäischen NATO-Staaten, die am „NATO Nuclear Sharing“ teilnehmen (Niederlande, Belgien, Italien und Türkei), für dieses Modell entschieden. Dieser „Joint Strike Fighter“ ist ein Stealth-Kampfflugzeug der fünften Generation, also das Neueste vom Neuesten. So haben sich die gesamten US-Streitkräfte – angeblich um Kosten zu sparen – auf diesen Flugzeugtyp als Kampfflugzeug festgelegt. Insgesamt will man 2.443 Stück beschaffen, von denen bereits 400 Exemplare ausgeliefert wurden. In den kommenden fünfzig Jahren sollen die Ma28

Insofern war die Führung der Bundeswehr gut beraten, dieses Flugzeugmodell nicht beschafft zu haben. Allerdings darf ein wichtiger Aspekt nicht übersehen werden. Die neuen deutschen Trägerflugzeuge sollen dazu dienen, amerikanische


Foto: Neuwieser CC BY-SA 2.0

ATOMWAFFEN-AUFRÜSTUNG

Nuklearwaffen einzusetzen. Und allein die US-Regierung kann darüber entscheiden, welches Flugzeugmodell sie mit einem Aircraft Monitoring and Control System (AMAC) zur Eingabe der PAL-Atomcodes technisch ausstattet. Außerdem werden die Atomwaffen ausschließlich von US-Einheiten bewacht, so dass die US-Regierung das militärpolitische Monopol über ihren operativen Einsatz behält. Nicht zuletzt bleibt fraglich, ob die Amerikaner – angesichts der „America first“-Politik, die am Export von US-Kampfflugzeugen in alle Welt verdienen will, überhaupt ein ausländisches Konkurrenzmodell akzeptieren werden. Alternativtypen Um die bezeichneten Risiken bei der Entwicklung eines völlig neuen Kampfjets zu umgehen, könnte man stattdessen auf die Modernisierung eines bestehenden Modells zurückgreifen. In Frage kommt der Eurofighter Typhoon. Dieser war ursprünglich ein Jagdflugzeug, wurde aber in den letzten Jahren zu einem konventionellen Jagdbomber umgerüstet. Man könnte diese Entwicklungslinie fortführen und die Maschine mit Atombomben ausrüsten. Allerdings waren von den 128 Eurofightern der Luftwaffe 2017 nur 39 Exemplare tatsächlich einsatzbereit. Offen bleibt die Frage einer amerikanischen Lizenzvergabe. Dieses Problem könnte man dadurch umgehen, dass man auf einen schon vorhandenen US-Atombombenträger zurückgreift. In Frage kommen die Jagdbomber Boeing F/A-18 E/F Super Hornet und F-15 E Strike Eagle, die derzeit modernisiert werden sollen. Allerdings würde dadurch wiederum die technologische Abhängigkeit von den USA zementiert. Wenn es die US-Amerikaner nicht schaffen, mit der F-35 ein hypermodernes Kampfflugzeug fertig zu entwickeln, dann vielleicht die

EIN TORNADO STARTET IN BÜCHEL Europäer. Dies dachten sich die Regierungen in Berlin, Paris und Madrid und entwickeln zur Zeit einen eigenen Stealth-Jet der fünften Generation, der ebenfalls als Zentrum einer „air combat cloud“ agieren soll. Es handelt sich um das Future Combat Air System (FCAS), das im Französischen als „Système de combat aérien du futur“ (SCAF) bezeichnet wird. Produziert werden soll die Maschine von Airbus in Kooperation mit Dassault. Die Entwicklungskosten werden zur Zeit auf mindestens 80 Milliarden Euro taxiert. Als eine Attrappe des geplanten Jets im Juni auf der Luftfahrausstellung in Paris erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurde, war die äußere Ähnlichkeit zur amerikanischen F-35 augenfällig. Für die drei Staaten macht es durchaus Sinn, ein eigenes Flugzeug zu entwickeln: Deutschland will die F-35 nicht, die Franzosen besitzen eigene Atomwaffen und suchen nach einem Nachfolger für ihren Atombombenträger Rafále Biplace, und Spanien hat keinen Nuklearwaffenträger, braucht aber einen neuen konventionellen Jagdbomber. Allerdings löst FCAS/SCAF nicht das akute Problem eines Ersatzmodells für den Tornado, sondern wäre bestenfalls ein Nachfolger für den Nachfolger frühestens ab dem Jahr 2040. Die deutschen NATO-Nuklearstrategen können aber die Frage nicht beantworten, welchen „Sinn“ es hat, für ein oder zwei Dutzend Atombomben ein eigenes Flugzeug zu bauen. Die Zeiten eines mas29

senweisen Einsatzes von taktischen Atombomben in Europa sind mit dem Ende des Kalten Krieges vorbei. Angesichts der begrenzten Stückzahl der Nuklearbomben käme „nur“ ein selektiver Einsatz in Frage, dessen Bedeutung für den Ausgang eines Krieges fragwürdig wäre. Sogar die US-Regierung scheint das Interesse am „Nuclear Sharing“ verloren zu haben: Aufgrund ihres Boykotts der F-35 wird die Türkei zukünftig kein atomares Trägerflugzeug mehr besitzen, dann müssten die US-Streitkräfte folgerichtig ihre schätzungsweise 50 alten Atombomben aus Incirlik abziehen. Die Frage bleibt, ob dadurch das US-Atomarsenal in Europa insgesamt um schätzungsweise ein Viertel bis ein Drittel reduziert wird oder ob die freien Lagerkapazitäten an den anderen Atomstandorten, wie z. B. in Büchel, entsprechend aufgefüllt werden sollen. Dabei hatte sich die „Große Koalition“ in ihrem Koalitionsvertrag vom 14. März 2018 doch für „eine nuklearwaffenfreie Welt“ ausgesprochen. Gerhard Piper ist Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Im August 2012 veröffentlichte er zusammen mit Otfried Nassauer und mit Unterstützung der IPPNW eine längere Studie zur neuen Wasserstoffbombe B61-12: www.bits.de/public/ pdf/rr-12-1.pdf Im April 2019 erschien bei Telepolis sein Aufsatz zur Frage der Tornadonachfolge: kurzlink.de/atombombentraeger


WELT

Foto: Leo Hempstone / CC BY-SA 4.0

Foto: PercyGermany / CC BY-NC-ND 2.0

Abrüstung, Entwicklung und Gesundheit Die IPPNW Kenia lädt zum Weltkongress nach Mombasa ein

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er 23. Weltkongress der IPPNW wird unter der Überschrift „Abrüstung, Entwicklung und Gesundheit“ vom 25. bis 29. Mai 2020 in Kenia stattfinden. Die gastgebende Sektion, die „Kenya Association of Physicians and Medical Workers for Social Responsibility“, lädt alle Mitglieder und Aktivist*innen unserer internationalen Föderation dazu ein. Der Kongress findet im Pride Inn Paradise Beach Resort in Mombasa statt, das die kenianische Sektion dafür reserviert hat.

Das endgültige Programm steht noch nicht fest. Als Schwerpunkte des Kongresses sind zu erwarten:

Atomwaffen » Der Atomwaffenverbotsvertrag: Was haben wir erreicht und was können wir tun? » Folgen eines Atomkrieges » Nukleare Abrüstung » Nuclear Famine: Globale Auswirkungen eines begrenzten Atomkrieges auf Landwirtschaft und Ernährung.

Gewalt und Gesundheit » Kleinwaffen und Rüstungsexporte: Gesundheitsgefährdung durch die Existenz und den Einsatz von Kleinwaffen und leichten Waffen » Public-Health-Ansatz zur Bekämpfung von Gewalt: Ursachen und Lösungen

Delegierte aus über 50 Staaten werden sich treffen, um über Abrüstung und Entwicklung als Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit, gute Gesundheit und ökologische Nachhaltigkeit in Afrika und der ganzen Welt zu diskutieren. Das Programm wird sich einerseits an den Themen der IPPNW orientieren, andererseits auch die Perspektive unserer afrikanischen Kolleg*innen widerspiegeln (siehe Kasten). Für die Arbeit der IPPNW – eine der bedeutendsten Friedensorganisationen – ist

» Medical Peace Work » Terrorismus und entrechtete Jugendliche

Sozioökonomische und umweltbedingte Gesundheitsfaktoren » Klimawandel und Bedarf an erneuerbaren Energien » Rohstoffbeschaffung in Entwicklungsländern – Folgen des Uranabbaus » Ökonomisierung der Forschung und Entwicklung neuer Waffensysteme

die unmittelbare Begegnung und Kommunikation unter uns Aktivist*innen unverzichtbar. Gleichzeitig können wir die Debatte um die dafür notwendigen Flugreisen nicht ausblenden. Fliegen ist, was den CO2-Ausstoß angeht, zweifellos die schlechteste Art des Reisens. Auch unter uns Friedensaktivist*innen wächst das Bewusstsein, dass unsere Lebensweise einen erheblichen Einfluss auf die Umwelt, auf das Klima und damit auf das menschliche Leben insgesamt hat. Und analog zu den Folgen der kriegerischen Politik: Die Konsequenzen des Klimawandels sind andernorts bereits deutlicher zu spüren als bei uns. Das Ziel dieser Ankündigung kann also nicht sein, eine möglichst große Delegation der deutschen IPPNW für den Weltkongress in Kenia zu mobilisieren. Jede und jeder sollte für sich selbst abwägen, wie wichtig die eigene Teilnahme an diesem Kongress ist. Ein Teil dieser Überlegung kann die CO2-Kompensation über atmosfair.de oder ähnliche Plattformen sein. Wie auch immer die Abwägung ausfällt: Für Rückfragen und Anmerkungen stehen wir selbstverständlich zur Verfügung. Mehr Infos unter: ippnwafrica. org

» Gesundheit von Flüchtlingen » Möglichkeiten der primären Gesundheitsfürsorge in der allgemeinen Gesundheitsversorgung » Erreichen von Zielen der nachhaltigen Entwicklung in Afrika

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Dr. Helmut Lohrer ist International Councillor der deutschen IPPNW.


AKTION

NIEDERKRÜCHTEN

BERLIN

Flaggentag Bürgermeister für den Frieden hissen Fahnen Zahlreiche Städte in Deutschland hissten am 8. Juli die Flagge der „Bürgermeister für den Frieden“ und setzten damit ein Zeichen für ein Leben ohne atomare Bedrohung. Vielerorts beteiligten sich IPPNW-Gruppen. Mit dem Flaggentag wird an ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag erinnert. Dieser stellte im Juli 1996 fest, es bestehe eine völkerrechtliche Verpflichtung „Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung ... führen.“ Ihren ersten Flaggentag beging die Gemeinde Niederkrüchten. In einem engagierten Redebeitrag wies der Bürgermeister auf die antimilitaristische Tradition des Ortes hin: 1991 hatte sich der Gemeinderat mit einem Beschluss aller Fraktionen gegen die Stationierung von Atomwaffen im Gemeindegebiet zur Wehr gesetzt.

BERLIN

SOLINGEN 31


GELESEN

Jenseits von Gut und Böse

Medizin und Profit

Vom Zusammenhang unserer kulturellen, sozialen, religiösen und politischen Erfahrungen mit Aggressivität und Friedfertigkeit.

Ungefähr alle vier Wochen warte ich ungeduldig auf den Postboten, bis endlich die Samstagausgabe der „Rundschau“ im Briefkasten liegt.

ein Buch habe ich mit so vielen Randnotizen versehen wie dieses des Philosophen und Schriftstellers Michael Schmidt-Salomon. Es hat nach zehn Jahren nichts an Aktualität eingebüßt. Vom Sündenfall Evas und Adams, die vom Baum der Erkenntnis in keinen Apfel gebissen haben können, über die biologische Evolution, die Unterscheidung von Moral und Ethik, den Endzeitglauen hinter der apokalyptischen Matrix von Harry Potter, Star Wars und Herr der Ringe, über drei Voraussetzungen eines glücklichen Lebensstils bis zur zentralen Bedeutung der Frage, ob wir über Willensfreiheit verfügen, beschreibt der Autor unterhaltsam und mit vielen Beispielen aus dem Leben von Mitmenschen auch eine Geschichte der Gewalt. „Für moderne westliche Gesellschaften lässt sich folgende Regel aufstellen: Je stärker die Idee der Willensfreiheit etabliert ist, desto eher wird soziale Ungleichheit toleriert und desto drakonischer fallen auch die Strafmaßnahmen des jeweiligen Rechtssystems aus.“

astig blättere ich die Zeitung von hinten zu den Panorama-Seiten, um dann Dr. Hontschiks Diagnose zu finden und fieberhaft seine neueste Kolumne zu verschlingen. Spannend wie in einem Krimi schildert Hontschik darin die neuesten politischen Skandale rund um die deutsche und internationale Medizinrealität.

K

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Das oben genannte Büchlein ist eine Zusammenfassung dieser und anderer Kolumnen. Es geht im wesentlichen um sozialpolitische und medizinökonomische Themen wie Armut und Krankheit, Pharmaskandale hier und überall in der Welt, das Märchen von der Kostenexplosion im deutschen Gesundheitswesen (besonders lesenswert), Individualisierungsversuche von Gesundheitskosten, Behindertenrechte, Virchows „Politik ist Medizin im Großen“ damals (Choleraepidemien) wie heute (Stickoxide), moderne Seuchen (Luftverschmutzung, Fluglärm und Gift im Essen), Solidarische Krankenversicherung versus Marketingaktionen für gesunde Versicherte, Gefahren der Datenzentrierung im Netz (Telematik), Medizin und Nationalsozialismus, Medizingeschäfte und Medikamentenabhängigkeit, Abhängigkeit der WHO von Großspendern etc.

Seine Alternative, der „evolutionäre Humanismus“, basiert auf den Natur- und Geisteswissenschaften. Mit der modernen Hirnforschung wird das Zusammenspiel von Erbinformationen und Umwelteinflüssen erklärt. Ob jemand geachtet oder geächtet wir, hängt von Zeit und Ort ab. „Doch die strikte Unterscheidung zwischen Gut und Böse, wie wir sie kennen, ist erst im Zuge der Entstehung monotheistischer Religionen entwickelt worden. Es handelt sich also um eine kulturelle Erfindung neueren Datums.“ Feindbilder und Kriegslogik habe hier ihre Basis. Um die objektiven Ursachen des Terrorismus ohne Doppelmoral zu verstehen, sollte man nicht im Sinne des Ingroup-Outgroup-Denkens agieren. Kernelemente des aufklärerischen evolutionären Humanismus seien Logik und Empirie sowie die „Orientierung an den Selbstbestimmungsrechten des Individuums.“ Wie viel wir daran noch zu arbeiten haben, zeigt schon der Blick auf die real existierende Medienlandschaft. „Der Vorteil einer philosophischen Weltanschauung gegenüber einer Religion besteht darin, dass sie uns ermöglicht, falsche Ideen sterben zu lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen.“ Auch zum besseren Verständnis unter Friedensfreunden empfehle ich dieses Buch, das auch ein Kapitel namens „Kritik ist ein Geschenk“ hat.

Auch in der Ärzteschaft umstrittene Themen wie die Homöopathiediskussion scheut Hontschik nicht: Obwohl er der Homöopathie eine naturwissenschaftliche Begründung abspricht, kann meine homöopatische ärztliche Freundin damit leben, weist er doch im gleichem Atemzug auf die Behandlungserfolge und die Kosten und Nebenwirkungen der Schulmedizin hin. Eine andere Freundin, die sehnsüchtig auf ein Spenderherz für ihren Sohn wartet, kann akzeptieren, dass Hontschik für das Menschenrecht, mit vollständigen Körper begraben zu werden, plädiert. Auch der IPPNW (selbst Mitglied) und ICAN widmet er seine Kolumne, z. B. zu den Büchelprotesten. Deshalb soll auch zum Schluss dieser Rezension die Widmung zu diesem Buch, ein Zitat von Bernhard Lown, stehen: „Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Moment, in dem Fürsorge dem Profit dient, ist die wahre Fürsorge verloren.“

Michael Schmidt-Salomon: Jenseits von Gut und Böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind. Piper Taschenbuch, 2009, 368 S., 12,- €, ISBN: 9783866122123 Manfred Lotze

Bernd Hontschik: Erkranken schadet Ihrer Gesundheit, Westend 2019, 160 S., 16,- €, ISBN: 9783864892653 Hans-Jürgen Schäfer 32


GEDRUCKT

TERMINE

Atomergie: Der Treibstoff für die Bombe

SEPTEMBER bis 29.9. Ulmer Friedenswochen

Das Faltblatt informiert über die gegenseitige Abhängigkeit von militärischer und ziviler Atomindustrie. Atomwaffenprogramme wären ohne eine „robuste“ zivile Industrie und die mit ihr einhergehende nukleare Infrastruktur aufgrund der hohen Kosten, Risiken und des Bedarfs an ausgebildetem Fachpersonal nicht tragbar. In allen Atomwaffenstaaten bedient sich das Militär der versteckten zivilen Quersubvention aus Personalmitteln, Forschungsgeldern und nuklearer Infrastruktur. IPPNW-Information „Atomenergie – der Treibstoff für die Bombe. Die Abhängigkeit von militärischer und ziviler Atomindustrie“ – 8 Seiten Farbe, Preis: 1,- Euro

14.9. Nuclear Security in Europe after the collapse of the INF Treaty, Brüssel, Belgien 14.-15.9. Konferenz „Für eine Olympiade in Tokio, die die Gefahren von Fukushima nicht verschweigt“ in Dortmund 21.9. Friedens-Radtour zwischen den Botschaften von USA & Iran, Berlin 28.9. Atommüllkonferenz, Göttingen

OKTOBER 2.10. Wir sind auf dem Weg. Friedensgang der Religionen, Dortmund

Manipulierte Wahlen

19.10. „Mit Vollgas in die Digitalisierung“, Thementagung Medizin und Gewissen in Nürnberg

Manipulierte Wahlen und ungebrochener Widerstand: Bericht einer Reise von IPPNW-Mitgliedern in die Türkei vom 17. bis 29. März 2019, 24 Seiten Farbe, Preis: 5,- Euro

20.10. „Kein Frieden in Syrien“, Vortrag mit Karin Leukefeld in Baden-Baden 26.10. Europa – Quo vadis? Tagung der IPPNW in Landsberg am Lech

Alle Materialien finden Sie zum Anschauen unter issuu.com/ippnw – Bestellung in der Geschäftsstelle unter: shop.ippnw.de – kontakt@ippnw.de oder telefonisch: 030 698 074-0

26.10. Anti-Atom-Demo in Lingen 29.10. Kommt die Gefahr eines Atomkriegs nach Europa zurück? Osnabrück

GEPLANT

NOVEMBER

Das nächste Heft erscheint im Dezember 2019. Das Schwerpunktthema ist:

6.11. „Die Zeit drängt! Sicherheit neu denken in Zeiten nuklearer Unordnung“, Bielefeld

Humanitäre Folgen von Abschiebungen Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 160/Dezember 2019 ist der 31. Oktober 2019. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

29.11. bis 1.12. IPPNW-Studierendentreffen in Düsseldorf

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-

zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag

tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-

enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti-

wortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der

Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika

Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke

Wilmen, Regine Ratke, Samantha Staudte

bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

Freie Mitarbeit: Katharina Kohler

Redaktionsschluss

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte-

31. Oktober 2019

straße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 6980 74- 0,

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout:

Fax 030 / 693 81 66, E-Mail: ippnw@ippnw.de,

Regine Ratke; Druck: DDL Berlin Papier: Recystar

www.ippnw.de,

Polar, Recycling & FSC.

Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft,

Bildnachweise: S. 6 Mitte: Secretary Pompeo

Kto-Nr. 2222210, BLZ 100 20 500,

Meets with Saudi Crown Prince Salman Al Saud,

IBAN: DE39 1002 0500 0002 2222 10,

gemeinfrei; S.7 Mi.: Ecode-

BIC: BFSWDE33BER

fense; nicht gekennzeich-

Das Forum erscheint viermal jährlich. Der Be-

nete: privat oder IPPNW.

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das

7.11. Podiumsdiskussion „Sanktionen und Krieg gegen Iran“, Berlin

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Heft:

Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

Vormerk en

OKTOBER 26.10.2019

Demonstration gegen das atomare Wettrüsten in Landsberg/Lech

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GEFRAGT

6 Fragen an … Foto: Omar Markhieh

Lucas Zeise

Ökonom und Wirtschaftsjournalist, ehemaliger Ressortleiter der Financial Times Deutschland

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Herr Zeise, Militarisierung und Krieg prägen das internationale Panorama – von Afghanistan über Irak und Syrien bis Libyen, aber auch im Osten der Ukraine, und als Drohung an den Grenzen Venezuelas. Ist ein neuer Weltkrieg aus Ihrer Sicht vorstellbar? Bei einem Weltkrieg geht es direkt um die Weltherrschaft. Das ist bei den genannten Kriegen und Konflikten (noch) nicht der Fall. Sie sind Kriege, die die aktuell bei weitem dominierende Macht, die USA, um die, man könnte sagen, Arrondierung ihres Imperiums führt. Man muss leider annehmen, dass sie sozusagen „Vorgeplänkel“ vor dem drohenden Weltkrieg sind.

Die nun betriebenen Sanktionsmaßnahmen haben zum Teil desaströse Folgen für die Bevölkerung. Müssen solche ökonomischen Maßnahmen als eine Form der Kriegsführung eingeschätzt werden? Wirtschaftssanktionen sind in der Tat eine Vorform des militärisch geführten Krieges. Dass sie manchmal schlimmer sind als der Krieg, ist auch richtig. Sie können sehr unterschiedliche Ausmaße annehmen. Die Brutalität, mit der gegenwärtig Syrien niedergemacht werden soll, trauen sich unsere Regierungen gegen Russland noch nicht. Internationale Handelsbeziehungen sind durch WTO-Verträge rechtlich reguliert. In welchem Verhältnis steht das um sich greifende Sanktionsregime zu solchen Abkommen? In den WTO-Abkommen gibt es immer Ausnahmeklauseln, wenn angeblich die „Sicherheit des Staates“ bedroht ist. Deshalb hat Donald Trump vor einem halben Jahr die deutsche Autoindustrie als Gefahr für die Sicherheit der USA bezeichnet, worüber sich unsere Kanzlerin dann aufgeregt und auch lustig gemacht hat.

Laut SIPRI geben allein die NATO-Staaten mehr als 50 Prozent der Weltrüstungsausgaben aus, wenn verbündete Länder wie Japan und Saudi-Arabien dazu gerechnet werden, ist der Anteil 70 Prozent. Gibt es ökonomische Motive für diese gefährliche Steigerung der Aufrüstung? Es gibt zwei Arten von ökonomischen Motiven. Die erste, grundlegende ist die Tatsache, dass Herrschaft um ökonomischer Vorteile willen angestrebt wird. Wer ein anderes Land besetzt, seine Regierung stürzt, kolonisiert oder zerschlägt, tut dies in aller Regel, um etwas Ökonomisches zu erreichen. Dazu muss er eine Militärmaschine aufbauen. In unseren Gesellschaften kommt zweitens das spezielle Interesse der Rüstungsfirmen dazu, möglichst viele Waffen und sonstige militärische Ausrüstung an den eigenen Staat zu verkaufen, aber auch zu exportieren.

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Neben einem drohenden Weltkrieg ist die Klimakatastrophe eine weitere Herausforderung für die Menschheit. Was ist zu tun? Entscheidend ist offenzulegen, dass und wie das Monopolkapital die Lebensgrundlagen zerstört. Hierzulande ist der Glaube weit verbreitet, der Planet ließe sich durch individuellen Verzicht, die Reduzierung des individuellen CO2-Ausstoßes, retten. In dieser Gesellschaft entscheidet aber nicht der Konsument und Käufer darüber, was produziert wird, sondern das Kapital. In der großen Klimafrage darf nicht den Regierungen und den Konzernen überlassen werden, welche Maßnahmen sie gegen den Klimawandel unternehmen wollen. Entscheidend ist in Deutschland z. B., ob die Autokonzerne gezwungen werden können, auf Produktion und Verkauf von aufwändigen, viel Energie verzehrenden Luxuskarossen zu verzichten. Das Elektroauto ist sicher keine Lösung.

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Die dominierende westliche Macht USA sieht sich ökonomisch durch den Aufstieg Chinas herausgefordert. Kann dies besonders aggressive Strategien der US-Regierung erklären? Die vielen Kriege der USA, die sie fast immer mit ihren Verbündeten führen, sind auch ein Zeichen der Schwäche. Der interne, von den USA geförderte Umsturz zu einem US-freundlichen Regime (wie in der Ukraine, Argentinien und Brasilien) ist meist effektiver. Die ökonomische Krise in den USA und Westeuropa macht sie weniger attraktiv und deshalb solche Umstürze schwieriger. China ist, wie die US-Amerikaner sagen, „the Elephant in the Room“, als Faktor und großer Rivale um die Weltherrschaft immer präsent.

Die Fragen stellte Matthias Jochheim. Im Frühjahr 2019 veröffentlichte Lucas Zeise den Band „Finanzkapital“ (Basiswissen Politik / Geschichte / Ökonomie), erschienen bei Papyrossa, 9,90 Euro, ISBN 978-3-89438-688-7 34


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ANTIMilitarismus braucht Analysen!

IMI braucht euch!

Was ist die IMI? Die Informationsstelle Militarisierung (IMI) ist ein antimilitaristischer gemeinnütziger Verein mit Sitz in Tübingen, gegründet 1996. Wir wenden uns entschieden gegen jede Form von Aufrüstung, Krieg und Militarisierung der Gesellschaft. Die Entwicklungen der Militarisierungsprozesse kontinuierlich zu beobachten, seriös und kritisch zu kommentieren und ihnen etwas entgegenzusetzen, setzt ein hohes Maß an Kompetenz und Engagement voraus, das wir vor allem ehrenamtlich erbringen.

Website, Publikationen und Aktionen Wir geben alle zwei Monate die Zeitschrift AUSDRUCK sowie weitere Publikationen heraus und stellen unsere Texte online kostenfrei zur Verfügung. Autor*innen der IMI publizieren in verschiedensten Zeitschriften und halten öffentliche Vorträge im ganzen Bundesgebiet und darüber hinaus. Wir sind

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Peacemakers An diesem Wochenende wollen wir uns über Frieden und Gewaltfreiheit austauschen – von zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen bis zu weltpolitischen Fragen: Was verstehen wir unter „Friedensbewegung“? Was gibt es an zivilen Lösungen für Konflikte und risen und welche Hindernisse stehen ihnen entgegen? Kann in eskalierten Konflikten noch etwas erreicht werden mit gewaltfreier Konfliktbearbeitung? Was bedeuten die Kriege der Menschen für künftige Generationen und für die Natur? Wie können wir die Vision einer friedlichen Welt in konkrete und realistische Forderungen umsetzen? Wie können wir politisch Einfluss nehmen?

IPPNW Peace Academy 7.–9. Februar 2020

Freitag 18h – Sonntag 13h Tagungshaus Clara Sahlberg Berlin-Wannsee

Wir wollen die Ergebnisse der letzten Peace Academy aufgreifen und gleichzeitig allen „Neuen“ einen unkomplizierten Einstieg ermöglichen. Die IPPNW Peace Academy ist ein Angebot von und für junge IPPNWler*innen und IPPNW-Studierende. Studierende anderer Fachrichtungen, die sich mit Krieg und Frieden, Internationalen Beziehungen, humanitären Kriegsfolgen, Abrüstung, Global Health und Planetary Health befassen, sind ebenfalls willkommen. Wir freuen uns über Eure Anmeldung:

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Grafiken: Freepik.com (verändert)

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